Karl Meyerbeer kritisiert eine selbstzufriedene strukturell verkürzte Kritik
Der Philosoph Günther Anders musste 1933 vor den Nazis fliehen. In New York ersuchte ein anderer Exilant Hilfe bei einem konkreten Problem. Anders speiste den Anderen mit einer allgemeinen und abstrakten Antwort ab und bemerkte danach selbstkritisch: „Zuweilen scheint mir, das Wort »System« ist nicht nur ein Gutschein für die Lösungen der wichtigsten Fragen, sondern ein verbrämendes Wort für deren grundsätzlichen Aufschub.“ Heute ist das Ticket für den Aufschub nicht mehr das System, sondern die „Kategoriale Kritik“. Sie formuliert das Versprechen, irgendwann die Gesellschaft als Ganzes zu begreifen. Aber woher kommen die Kategorien?
Kategorial Kritisieren
Karl Marx war dank großzügiger Spenden von Friedrich Engels dazu in der Lage, sein Leben der Theorie zu widmen. Seine Tage verbrachte er oft genug in der Britischen Nationalbibliothek, wo er – ganz wie es bei den damaligen Universalgelehrten üblich war – allen möglichen Kram durchgelesen hat. Die Methode, die er im Kapital einschlägt, ist eine Kritik der Kategorien, mit denen vorherige Ökonomen, vornehmlich Smith und Ricardo, den Kapitalismus erklärt haben. Sein Urteil: Diese sind oberflächlich vorgegangen, haben nicht den Kern der Sache erklärt, sondern nur die Oberfläche beschrieben – daher seien ihre Kategorien falsch, in dem Sinne, dass sie nicht erklären konnten, was vor sich geht, sondern nur beschreiben. Mit den richtigen Kategorien sei dagegen eine tiefer gehende Kritik möglich. Tiefer heißt in diesem Sinne, letztendliche (in der Fachsprache der Dialektik: „wesentliche“, also das Wesen eines Gegenstandes ausmachende) Gründe für den Lauf der Welt zu finden und diese durch treffende Kategorien zu verdeutlichen.
In der wertkritischen Marxologie liegt diese wesentliche Bestimmung auf der Ebene der Gesellschaftsstruktur. Ihre Monster-Kategorie ist die Ware: Die kapitalistische Gesellschaft ist wesentlich dadurch geprägt, dass die Menschen Waren – Dinge mit Wert – herstellen, daher gilt es die Kritik von dieser Kategorie aus zu entfalten. Genau das macht einen Gutteil der wertkritischen Texte aus: Erst werden die wertkritischen Basics dargelegt, dann wird gezeigt, wie der Gegenstand des Textes – egal, ob Patriarchat1 oder Donald Duck2 – durch den Warenfetisch bestimmt ist. Dieser Ansatz funktioniert – genau wie die K-Gruppen, in denen viele Wertkritiker_innen früher organisiert waren – Top-Down: Aus dem Standpunkt überlegenen Wissens auf der strukturellen Ebene wird gezeigt, wie sich einzelne Phänomene aus dem schon bekannten ableiten lassen. Die Stärke dieser Herangehensweise ist, dass sie zeigen kann, wieerschreckend mächtig die systemischen Zwänge sind. Die Schwäche liegt darin, dass die Widersprüchlichkeiten, die die sozialen Verhältnisse (auch im real existierenden Kapitalismus) durchziehen, verdeckt werden. Die Theorie erzeugt eine Weltsicht, in der die Brüche, die man eigentlich suchen und nutzen könnte, theoretisch zugekleistert werden – zugunsten einer beeindruckenden Geschlossenheit, die scheinbar keine Frage offen lässt.
Die Dinge wahrnehmen
Das Gegenteil dieser Herangehensweise ist Empirie, also ein Herangehen, das sich naiv (unvoreingenommen) am Gegenstand orientiert und zum Beispiel in den Mittelpunkt stellt, dass im Kapitalismus Menschen verhungern – ein Skandal! Empirisches Herangehen tut sich schwer mit der Analyse der Gesellschaftsstruktur. Um ein Beispiel aus den Science-Fiction-Roman „Per Anhalter durch die Galaxis“ von Douglas Adams zu verfremden: Es geht darum, der Welt einen Spiegel vor zu halten, aber es gibt keinen Spiegel, der groß genug ist. Mit anderen Worten: Über Gesellschaftsstruktur kann man nur vermittelt Aussagen treffen, weil etwas so großes wie „die Gesellschaft“ nicht als Ganzes erkannt werden kann. Entsprechend arbeitet sich Empirie oft an Kleinkram ab – an dem, was Menschen tun und an Institutionen. Die Frage ist: Lässt sich das Große überhaupt analysieren, ohne das Kleine zur Kenntnis zu nehmen? Mit anderen Worten: Wäre Marx überhaupt in der Lage gewesen, die Kategorien von Ricardo und Smith zu kritisieren, wenn er nicht vorher jahrelang als Journalist für die New York Daily Tribune konkrete ökonomische Prozesse angeschaut hätte? Ich denke: Nein.
Was rauskommt, wenn man theoretisch argumentiert, ohne sich dem Gegenstand wirklich zu nähern, sieht man an vielen Texten der aktuellen Uni-Linken. Empirisches Material wird zur Kenntnis genommen, seine Beschränktheit nachgewiesen und vom Leuchtturm der reinen Kritik aus über die schlechte Welt orakelt – in schönen Texten und formvollendeten Polemiken, die aber vom Erkenntnisgehalt oft nicht über das Feuilleton hinauskommen3. Schlimmer noch: Für nicht Eingeweihte wirken die besagten Texte unglaublich besserwisserisch, fast schon esoterisch: „Da kommen die Studenten, die noch nie einen Streik geführt haben und wollen erklären, wie die Gewerkschaft an und für sich so ist“ – so sieht es ein linker Gewerkschafter. Der Wille dahinter ist, die „bessere“, weil weniger verkürzte Kritik zu leisten. Was aber passiert, ist eine strukturelle Verkürzung. Wie der Gewerkschafter dazu tendiert, die Strukturen hinter seinem Streik zu vernachlässigen, unterlässt die Uni-Linke die Anstrengung, ihre Kategorien mit der Realität abzugleichen. Die Texte sind „leer“ – im Sinne des Kant‘schen Ausspruchs „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“4
Wer wirklich etwas erklären will, muss sich schon die Mühe machen, Theorie und Empirie zu vermitteln. Das geht aber nur, wenn man sich darauf einlässt, mehr als die geliebten Strukturen in Augenschein zu nehmen.
Woher kommt die strukturelle Verkürzung?
Ich glaube, die strukturelle Verkürzung lässt sich gut durch die Modewellen linker Theoriebildung erklären. Nach einer Blütezeit der Systemkritik in den 1970er-Jahren boomte in den 1980er-Jahren eine Sichtweise von Theorie und Politik, die eher auf die kleinen Teile, die Mikropratiken der Macht5 und die „Politik der ersten Person“6 fokussiert und damit Akteure in den Blick genommen hat. Die Konsequenz war ein Rückzug in individuelle Praxen auf der einen und ein Abschieben von Verantwortung auf mächtige Akteure auf der anderen Seite. Die systemische Wende der 1990er-Jahre war eine Reaktion auf diese verkürzte Sichweise. Und dieser Gegendiskurs war erfolgreich. Wer heute behauptet, die Bänker und Manager seien das Problem am Kapitalismus, macht sich lächerlich. Längst ist diese Position auch über die Linke hinaus eine ernstzunehmende Sichtweise geworden, die sich auch gegen das ursprüngliche Gewollte richtet. So hat Hans-Werner Sinn (Präsident des ifo Ins- tituts für Wirtschaftsforschung und ein ausgewiesener Neoliberaler) 2008 in der Debatte um den Banken-Rettungsschirm die Kritik an Managern mit der Judenverfolgung in der Weimaer Republik gleichgesetzt7 und dem entgegen argumentiert, „anonyme Systemfehler“ hätten zur Krise geführt.
Vermittlung von Kritik und Ding
Der linken Debatte hat das Beharren auf der System-Perspektive im Großen und Ganzen gut getan. Schräg wird es, wenn heute die Abgrenzung von der längst nicht mehr diskursmächtigen Position der personellen Verkürzung genutzt wird, um damit die strukturelle Verkürzung zu begründen.
„Gesellschaft im Ganzen betrachten“ ist nur möglich durch die Vermittlung von kategorialer Kritik und Empirie: Das Ganze lässt sich erfassen, wenn wir verstehen, wie die Tatsache, dass Menschen verhungern mit der Warenproduktion zusammenhängt und die Bedingungen, die zu diesem Arrangement führen, aufheben – zusammen mit denen, die verhungern. Es ist höchste Zeit, theoretisch die Widersprüchlichkeiten und Brüche der Welt wahrzunehmen und als Ansatz für Destabilisierung zu nutzen, statt sie weiter mit der Tünche der theoretischen Totalität zu glätten und damit jeden Ansatz für Emanzipation in die ferne Zukunft zu schieben.
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1 Roswitha Scholz; Der Wert ist der Mann. In: Krisis 12 (1992)
2 Roger Behrens; Emanzipatorische Praxis und kritische Theorie des Glücks. Glück und Unglück in Entenhausen. In: Krisis 26 (2003)
3 Julian Bierwirth; Friendly Reading. Skizze zu Wertkritik und Soziologie. In: Streifzüge 43 (2008)
4 Immanuel Kant; Kritik der reinen Vernunft (KrV B75, A48)
5 also die mit Michel Foucault und Judith Butler begründete Wendung hin zu Diskursen, Identitätskritik, etc.
6 das Credo der Autonomen der 1980er-Jahre
7 „1929 traf es die Juden – heute die Manager“, Tagesspiegel vom 27.10.2008