Ein Thema, das Medien und viele Menschen in den letzten Wochen bewegte, ist der Ukrainekonflikt. Das Töten geht auch nach der Präsidentenwahl weiter. Weshalb die Ukraine solch ein Zankapfel ist, analysiert Volker Henriette Swesda.
Die Situation in der Ukraine ist bekannt. Es herrscht Bürgerkrieg. Ukrainische Armee, die neue Nationalgarde (beachtlich aufgestockt durch Faschisten und Nationalisten) und ein paar ehemalige Blackwater-söldner kämpfen gegen Separatisten und militante prorussische Patrioten.
Die Bösen sind, wie immer in solchen Situationen in den letzten Jahren, Putin und Russland. Allenfalls am Rande bemerkt wurde: Der größte Flächenstaat hat, wie alle Staaten, nicht Freunde sondern Interessen (nach Bismarck). Diese ergeben sich im Spätkapitalismus durch das Zusammenspiel mit anderen Interessensphären. Die Ukraine steht dabei, historisch gewachsen und seit den 1990ern „umkämpft“, im Fokus von geopolitischen Erwägungen des Kreml. Auch der Westen hat schon lange nicht mehr nur seine Fühler ausgestreckt. Aber zuerst zu den Interessen Russlands.
Russland ist der zentrale Nachlassverwalter der 1991 untergegangenen Sowjetunion. Es verlor in Folge der liberalen Auslegung der föderalen Verfassung der SU (Artikel 72) unter Gorbatschow und Jelzins Erlass, die KPdSU zu verbieten nicht nur weite Teile seines Einfußgebietes, Bevölkerung und Ressourcen. Nach der Kapitalisierung wurden auch riesige Bereiche der Infrastruktur stillgelegt und Produktionsanlagen, die nicht nach dem kapitalistischen Effizienz-Primat wirtschafteten, zu SU-Zeiten aber durchaus Vorteile für die Landbevölkerung hatte, dem Verrotten übergeben. Eine Weile sah es so aus, als ob ein Arrangement mit dem ehemaligen Systemfeind möglich ist und die Rolle als Tankstelle des Westens Konflikte befriedet. Seit dem Putin aber an der Spitze der Nation steht und nationale Interessen verficht, ist das Verhältnis doch eher getrübt.
Die ehemalige Weltmacht, die noch vor 25 Jahren das Gleichgewicht des Schreckens aufrecht hielt und sich dann aber finanziell nicht mehr dazu im Stande sah, wollte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Ukraine zumindest als Pufferstaat zum expandierenden Westen in ihrer „Umlaufbahn“ halten. Schon Gorbatschow bestand auf einer Nichteinflussnahme der NATO auf die ehemaligen Satelliten und Sowjetrepubliken. Der ehemalige deutsche Außenminister Genscher sicherte 1990 mit anderen europäischen Amtskollegen Gorbatschow und Schewardnadse zu, eine NATO-Osterweiterung käme nicht in Frage. Die dann folgenden Entwicklungen werden auf russischer Seite zurecht als Vertragsbruch des Westens wahrgenommen. Nach den Ernüchterungen (siehe unten) der 1990er Jahre sieht Russland seine strategischen Interessen am ehesten in einer multipolaren Weltordnung gesichert. Dazu gibt es chinesische-russische Partnerschaften und sogar gemeinsame Militärmanöver (vor 25 Jahren unvorstellbar) – zuletzt im Ostchinesischem Meer.
Russlands Außenpolitik forciert eine eurasischen Union, die seit 2001 in einer „Shanghaier Vertragsorganisation“ institutionalisiert wird und Iran einen Beobachterstatus einräumt. Eine Gas-OPEC, die Ressourcen durchaus machtpolitisch einsetzten möchte, wurde 2008 gegründet. Und eine Art Gegen-NATO scheint geplant.
Beim außenpolitischen Ränkespiel um die Ukraine, dass vor allem vom Westen genutzt wurde um Russland seine Rolle als Geschichtsverlierer deutlich zu machen, geht es auch ums Schwarze Meer. Der Kreml wollte offensichtlich nicht warten bis es seinen militärischen Hafen der Schwarzmeerflotte an die NATO freiwillig, im Rahmen des Rechts hätte abgeben müssen. Russland ist Aufgrund der geographischen Besonderheiten fast ein Binnenstaat. Der Zugriff aufs Schwarze Meer garantiert das ganze Jahr Eisfreiheit, der für den Welthandel wichtigen Häfen. Dazu kommt, dass es auf der Krim tatsächlich große Bestrebungen gab an die Traditionen der Weltmacht SU anzuknüpfen.
Die Ukraine ist ein junger Staat. In der Neuzeit gehörten Gebiete der heutigen Ukraine Khanen, zum Osmanischen Reich, dem Königreich Litauen-Polen, zum Zarenreich (in blutigen Gemetzeln erstritten, um einen Hafen zu haben), zum Gebiet der Habsburger oder war halbautonomes Kosakengebiet und hatte kurzfristig sogar anarchistische Gebiete bis es in die SU eingegliedert wurde. Die Krim wurde 1954 von Chruschtschow an die Ukraine angegliedert.
Die Nationalstaatsidee der Ukraine kam vor allem unter dem Judenschlächter Petljura und den Nazikollaborateuren um Bandera auf.
Der junge Staat der Ukraine, dem es wie allen ehemaligen Ostblockstaaten an einer Zivilgesellschaft fehlt, versucht seit Jahren das Produktionsniveau von 1991 wieder zu erreichen. Es gibt eine gewaltige soziale Schieflage und große Armut. Die Hauptstadt Kiew hat im Vergleich mit anderen europäischen Hauptstädten den niedrigsten Durchschnittsstundenlohn. Strategisch versuchten die ukrainischen Regierungen mehrgleisig zu fahren. Einerseits ist der wichtigste Handelspartner Russland, andererseits wird die Nähe zum Westen gesucht. Zum Versuch teilweise blockfrei zu wirken, ist auch das Assoziierungsabkommen mit der EU zu betrachten (abgesehen vom innenpolitischen Druck der „Orangenen Revolution“). Zum Einfrieren dieses Abkommens im November 2013, seitens des nun verjagten ehemaligen Präsidenten der Ukraine Janukowytsch und das zum Straßenkampf auf dem Euromaidan führte, gibt es unterschiedliche Lesarten.
Die eine ist die, der meisten deutschen Politiker und ihrer Medien-Schoßhündchen, die Gewehr bei Fuß stehen, wenn es um deutsche Interessen geht. Demnach hat Janukowytsch das Abkommen nicht unterzeichnet, weil Putin die fossilen Brennstoffe für die Ukraine noch teurer gemacht hätte. Schurke und Superschurke vereint.
Eine andere Lesart besagt, die ukrainischen Oligarchen lehnten das Abkommen ab, um nicht nach europäischen Spielregeln gegen ausländisches Kapital konkurrieren zu müssen. Die Selben müssen natürlich auch den Zugriff durch die russische Politik verhindern – das Beispiel des Chodorkowski schwebt wie ein Damoklesschwert über ambitionierten Superreichen. Aber das ist eine andere Geschichte. Das erklärt aber auch das rührige Engagement, das die Gewinner der Kapitalisierung zeigen, wenn es darum geht die Fahnen in den Wind zu hängen und politische Macht zu erhalten.
Eine mit beiden Seiten vereinbare Interpretation erklärt den Maidan zum Oligarchen-Konflikt in der Ukraine.
Die Hoffnung der ukrainischen Bevölkerung auf europäischen Wohlstand und vielleicht auch westliche Demokratie, die durch die ausgesetzten EU-Verhandlungen enttäuscht wurden, führten zum nun weltbekannten Euromaidan. Wochenlange Besetzung explodierte schließlich in einer Orgie der Gewalt bei der manchmal unklar ist, wer wen umbrachte – einig ist man sich aber, dass die Maidan-Schüsse der Katalysator für den Umsturz waren. Nicht vergessen werden sollte jedoch, wie die Masse der Maidanisten, die vielleicht nur ein besseres Leben wollten, sich zur Schwungmasse der Faschisten von „Swoboda“ und den nationalsozialistischen Kriegern vom „Prawyj Sektor“ machen ließen. Die unüberhörbar aus tausenden Kehlen gebrüllten Rufe, die „Ruhm der Ukraine“ forderten und der vielfach gezeigte Hitlergruß auch im Beisein des Polit-Boxers Klitschko, sprechen Bände. 2012 wurde die Werchowna Rada (Parlament) in Kiew gewählt und die Partei „Swoboda“ (Freiheit) zog mit 10,4 Prozent ins Parlament ein. Sie schlossen gemeinsam mit Klitschkos „Udar“ und Timoschenkos „Batkiwschtschyna“ ein Oppositionsbündnis, die dann auch schon mal gemeinsam Schlägereien in der Versammlung anzettelten. Legitimation erhielten die Parteien auch von Merkel, welche die Ukraine am 8.Mai (!) 2012 als Diktatur bezeichnete. Und damit waren eben nicht die Faschisten von „Swoboda“ gemeint, sondern dass 2010 ein Verfahren gegen Timoschenko wegen Amtsmissbrauchs und 2012 wegen Untreue anstrengt wurde. Die „Swoboda“ ist vor allem im Westen des Landes stark. In Lwiw, in der auch eine Statue des Nazi-Kollaborateurs Bandera steht, erhielten die Faschisten mit 38 Prozent die meisten Stimmen.
Bevor die Faschisten und Nazis von „Swoboda“ und „Prawyj Sektor“ den Euromaidan als Resonanzboden für ihren braunen Spuk nutzen konnten und so die Proteste von vornherein disqualifizierten, ermöglichten also die liberalen und liberal-konservativen Parteien erst den parlamentarischen Erfolg der Ultranationalisten. Die Administration von Juschtschenko und Timoschenko erklärten die antipolnischen, antisemitischen und antisowjetischen Mörder der 1930er und 40er zu „Helden der Ukraine“. Der gemeinsame Gegnerschaft, zur Partei der Regionen und den „Kommunisten“, führten dazu, dass die Faschisten salonfähig wurden. Im Februar 2014 wurde das Kabinett Jazenjuk durch zwei der bisherigen Oppositionsparteien („Vaterland“ und „Swoboda“) als Übergangsregierung bestimmt. Dieses Kabinett beschloss einen Militäreinsatz in der Ostukraine, um diese von „Terroristen“ zu „säubern“. Der neue Präsident (am 25.05 gewählt), der als Hoffnungsträger „der freien Welt“ gilt, ist ein Oligarch, der mit Schokolade innerhalb zweier Jahrzehnte Milliardär geworden ist, intensiviert den Militäreinsatz mit schwerem Gerät und Faschotruppen noch ein mal.
Interessenkonflikt ums Schwarzes Meer: Das Schwarze Meer als 3. größtes Meer der EU, ist eine Drehscheibe für den Öl- und Gashandel zwischen Asien und Europa. Die ehemaligen Teile der SU Kasachstan und Aserbaidschan aber auch Russland bringen den Schmierstoff der kapitalistischen Ökonomie über dieses Meer in die Türkei und nach Europa bis an den Atlantik. Es ist damit eine Schnittstelle zwischen Vorderasien, Südrussland und Südosteuropa. Flüsse fließen als Handelsrouten zum Schwarzen Meer. Und zu alle dem werden im Energietransitkorridor vor der Küste der Ukraine/ Krim große Öl- und Gasvorkommen ausgemacht.
Die NATO war schon immer der militärische Arm der westlichen ökonomischen Interessen. Das „Verteidigungsbündnis“ vollzog nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes eine strategische Neuausrichtung. Kurz: Wachsen, weltweit Intervenieren um Ressourcen und Ressourcenströme zu sichern, Migration zu einem Gefährdungsszenario zu machen also Grenzregime ünterstützen.
Die Interessen der NATO im Ukraineränkespiel sind vorrangig auf das schwarze Meer gerichtet (einige Gründe siehe Kasten) – im Gleichschritt mit offensivem Zurückdrängen der russischen strategischen Interessen. Besonders fallen hier die militärischen Anlagen vor Russlands Haustür in den NATO-Staaten Polen (Radaranlagen und Raketen) und der tschechischen Republik (Radar) auf (Beitritt 12.03.1999). Diese Systeme gehören zu einem Raketenschild, der gegen den Iran gerichtet sein soll. Von dieser Beteuerung lässt sich die russische Politik (nicht ganz wider erwarten) nicht beruhigen. Mit der Ostexpansion war natürlich noch lange nicht Schluss. Seit dem 29. März 2004 kamen ehemalige Warschauer Pakt-Staaten (Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Slowenien) und sogar ehemalige Sowjetrepubliken (Estland, Lettland, Litauen) zum Atlantikpakt hinzu. 2009 folgten Albanien und Kroatien. Und 2008 wurde schon, Dank deutscher Interessen erfolgreichlos, über den Beitritt von Georgien und der Ukraine verhandelt. Zumindest sind diese Staaten aber, wie andere Ex-Sowjetrepubliken in der Vorfeldorganisation der „Partnership for Peace“. Es geht um die NATO, um Vormacht und Brückenköpfe nach Eurasien im neuen imperialistischen „Great Game“ gegen China und Russland. Die NATO-Politik, die von den USA ausgeht und einer weiteren Begrenzung von nuklear bestückbaren Interkontinentalraketen aufweicht, spricht eine deutliche Sprache: es geht nicht um Friedenssicherung, sondern um globale Machtpolitik.
Europa EU
Die Interessen der EU sind teilweise deckungsgleich zu denen der NATO und manchmal aber auch gegenläufig. Einige EU-Staaten möchten ja durchaus aus dem Schatten der Hegemonialmacht USA heraustreten und der einflussreichste Akteur in der Nato ist nun mal die USA. Auch wünscht sich die EU wohl eher eine Multipolare Welt, in der sie natürlich gewaltig mitzureden hätte, ohne immer nur Juniorpartner zu sein. Eine Militarisierung der Diplomatie ist aber offensichtlich auch im Interessen von Deutsch-Europa. Der Raketenschild der NATO zum Beispiel rief eher wenig Gegenrede in der herrschenden (Europa-)Politik hervor.
Was der Friedensnobelpreisträger (2012) EU für die Ukraine sozioökonomisch bereit hält, kann an den Beispielen der Andern osteuropäischen Partnern nachvollzogen werden. „Modernisierung“ und „Demokratisierung“ der osteuropäischen Staaten bedeutet auch Verarmung breiter Bevölkerungsschichten.
Die Interessen vieler EU-Staaten sind bestimmt durch den Energiehunger. Außerdem soll die EU als Ganzes weiter wachsen. Investitionsmöglichkeiten für westeuropäische Firmen sollen noch besser werden. Osteuropäische Fabriken werden zum Teil als Antwort auf Billigproduktion in China verstanden. Gleichzeitig hofft man auf wichtige Absatzmärkte für (deutschen) Export. Dafür muss nach deutsch-europäischem Interesse rationalisiert und privatisiert werden. Austeritätspolitik wird (natürlich auch vom IWF gefordert) angemahnt, was sinkende Sozialausgaben und plump gesagt teure Mieten bedeutet. Das Elitenprojekt (Deutsch-)EU ist, wie wir alle wissen, auch für das Kapital systemisch nicht ungefährlich. Absatzmärkte und nicht vorhandene Kaufkraft gehen eben nicht immer problemlos zusammen.
Tragend für die wirtschaftlichen Interessen erweisen sich aber vor allem die zahlreichen Energiepartnerschaften in Südosteuropa. Während Wintershall und Gazprom unter russischer Führung eng verflochten sind und durch die Nordstream-Pipeline in der Ostsee ¼ des Gasbedarfs Europas pumpen wollen, sind allerorten Bemühungen zu sehen, die Versorgung auf mehr Säulen zu verteilen. Besonders der Lieferstopp Russlands gegenüber der Ukraine 2009, wegen nicht bezahlter Gasrechnungen in Milliardenhöhe, war ein willkommener Weckruf in europäischen Medien. Es sind mehrere Pipelines ohne (aber auch mit) russischer Beteiligung fertiggestellt und geplant. Die Ukraine wird dabei zum Teil umgangen, hat aber immer noch das dichteste Pipelinenetz Europas mit 35.000 Kilometern und weckt damit auch besondere Begehrlichkeiten.
Die Politik der EU (genannt seien hier nur die Lieblings-„PolitikerInnen“ Klitschko, Timoschenko, Poroschenko) versucht durch gezielte Einflussnahme Eliten-Interessen zu wahren und auszugleichen, die den Wenigsten der Demokratieliebhabern in der Westukraine helfen dürfte.
Fazit
Wenn eine radikale Linke anhand dieser holzschnittartig aufgezeigten Realitäten nur sagt, “Wir stellen uns auf keine Seite!“, blenden sie die gefährlichen imperialistischen Entwicklungen nach dem Motto „nichts sehen, nichts hören“ aus. Im Herzen der Bestie muss es auch weiterhin heißen: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!
Dass sie sich dabei nicht zum Erfüllungsgehilfen für Homophopie, russischen Nationalismus, religiösem Rollback, Autoritarismus jeglicher Couleur, identitären Bewegungen und neurechten Spinnereien eines deutsch-russischen Gegenpols zur „amerikanischen Weltherrschaft“ machen sollte, versteht sich von selbst. Die Gefahr für Journalisten aber auch für die tatarische Bevölkerung auf der Krim dürfen nicht aus dem Blick geraten. Die Machtblöcke und deren Interessen sollten aber bei der Bewertung von medial gespiegelten historischen Ereignissen auch für Linke eine Rolle spielen.