Uwe schildert seine Erfahrungen und Eindrücke, als er auf den Spuren der italienischen Partisan*innen um Reggio Emilia wanderte. Er nahm an einer Bildungsfahrt im April diesen Jahres teil.
Eine alte, aber rüstige Frau auf einem Stuhl in einem kleinen Park; im Halbkreis um sie herum knapp 70 Menschen, die gespannt ihren Erzählungen lauschen. Im Hintergrund sieben Reliefs mit verschiedenen Darstellungen, die an Entbehrung, Verzweiflung und Schmerz erinnern. Die Frau berichtet, wie sie in die Mussolini-Diktatur hineingeboren wurde, in der die Militarisierung der Köpfe und der Straße als psychologische Kriegsvorbereitung vorangetrieben wurde; wie sie als Abweichlerin aus einer antifaschistischen Familie bereits in der Grundschule ausgegrenzt wurde und wie Frauen nach dem italienischen Kriegseintritt 1940 die komplette Verantwortung sowohl in den Familien, als auch der Industrie übernahmen, da die jungen Männer alle weg waren. Sie beschreibt, wie die Frauen eigentlich die ersten Partisan*innen waren, indem sie den heimkehrenden Männern nach dem Waffenstillstand vom 8.9.1943 auch ohne politisches Bewusstsein halfen, z.B. mit Zivilkleidung und Lebensmitteln. Später kämpften die Frauen auch bewaffnet, wobei sie GEGEN den Krieg kämpften, nicht für ihn, und natürlich auch gegen den Faschismus! Ihre Hauptaufgaben blieben aber die Besorgung von Waffen und Lebensmitteln, sowie die Aufrechterhaltung der Verbindung zwischen den einzelnen Partisan*innengruppen als sog. ‚Stafetten‘.
Wir befinden uns in Castelnovo ne´ Monti, die Frau ist Giacomina Castagnetti und die Reliefs sind ein Denkmal für die Frauen der Resistenza (italienischer Widerstand gegen Faschismus und Krieg).
Auch wenn Giacomina durch Krieg und Partisaninnenkampf die „Jugendjahre geraubt“ wurden, so haben die gemachten Erfahrungen doch auch genutzt. Das Wissen darum, dass ohne die Frauen der Widerstand nicht möglich gewesen wäre, bestärkte das Selbstbewusstsein der Frauen bis hin zur Frauenbewegung in den 70-er Jahren. Giacominas „Vermächtnis“ lautet: „nicht die Augen verschließen und daran denken, dass Leben in Frieden und Demokratie nicht selbstverständlich sind.“
Ein Dorf in den Bergen mit vielleicht noch 50, teils kaputten, verfallenen Häusern, von denen genau noch eins ganzjährig bewohnt wird. Auf einen Stock gestützt und untergehakt bei einem Begleiter, wird ein alter Mann zu einem Stuhl im Schatten einer Mauer geführt. Mit leiser, brüchiger Stimme stellt er sich als Francesco, genannt ‚Volpe‘ (Fuchs), vor. Er berichtet, wie er mit einem Freund mehr zufällig und aus Neugierde in die Berge ging, um „Rebellen“ zu suchen. Ihre erste Rebellengruppe ist bei einem wohlhabenden ‚Dorfschützer‘. Mehr aus Übermut, Langeweile und weil „nichts los ist“, sagt Volpes Begleiter, dass sie eigentlich zu kommunistischen Partisan*innen wollten, obwohl sie bis dahin politisch eigentlich völlig unentschieden waren. Sie werden weggeschickt und suchen mehrere Tage, ohne Essen und ohne Idee wohin, ‚die richtigen Partisan*innen‘. Auf Grund eines Tipps gehen sie nach Succiso, wo sich erstmal alle verstecken und sie weggeschickt werden. Aus Verzweiflung und Wut zerreißt Volpe seinen Pass, setzt sich unter einen Baum und heult. So vergeht der gesamte Tag und erst am Abend kommt ein Mann aus dem Wald auf sie zu. Es ist ein Bekannter von Volpe, der sie mit nimmt und so in die Reihen der Partisan*innen der kommunistischen Garibaldi Brigade einführt. Inzwischen ist Volpes Stimme kräftig und betont, man merkt, wie belebend das Erzählen für den alten Mann wirkt. Im Folgenden berichtet er, weshalb die Faschisten für ihn schlechte Menschen waren und wie er die Befreiung erlebt hat. Am Ende seines ca. 1-stündigen Berichtes geht er aufrecht und ohne Stütze zum Auto. In den folgenden Tagen hat Volpe uns noch öfter begleitet und es war deutlich zu erkennen, wie gut es ihm tat und die Last von 89 Lebensjahren leichter wurde.
Diesmal ist der Ort für das Zeitzeug*innengespräch mit Giacomo Notari, Kampfname ‚Willi‘, das Dorfgemeinschaftshaus von Talada. Bevor Willi seine Erzählung beginnt, hält der Vizebürgermeister von Busana (zu dem Talada gehört) ein Grußwort. Dieses ist jedoch nicht – wie wir es in Deutschland hören würden – mit wulstigen Phrasen und wärmelnden Dankesworten gefüllt, sondern eine ausführliche, gut hergeleitete Argumentation, weshalb heutiger Antifaschismus eine Pflicht ist und welche Grundlage der Kampf der Partisan*innen dafür gelegt hat. Für Willi war seine Beteiligung am Widerstand aus familiären Gründen quasi selbstverständlich und zwangsläufig. Eine seiner ersten Aktionen war es, sich freiwillig als ‚Undercover-Partisan‘ für die faschistische Miliz der neuen sozialen Republik Italien, die Mussolini mit Duldung und Unterstützung der Deutschen nach dem Waffenstillstand des Königreiches in Norditalien gegründet hatte, zu melden. Dort sollte er junge, frische Milizionäre, die oft zum Dienst in der faschistischen Miliz gezwungen wurden, ermutigen samt Waffen zu desertieren, was auch nicht wenige taten. Danach war er noch an verschiedenen bewaffneten Aktionen und Sabotageakten beteiligt und kämpfte in der letzten großen Schlacht zur Verteidigung des Wasserkraftwerkes von Ligonchio, das die Deutschen zerstören wollten.
Nach dem Krieg trat Willi in die kommunistische Partei ein und wurde u.a. Bürgermeister von Ligonchio. Er hat den Wiederaufbau des Landes unterstützt, denn die „Errungenschaften der Neuzeit sind nicht selbstverständlich und Gott gegeben.“ Er hat seine Erinnerungen mittlerweile in einem Buch niedergeschrieben, welches auch auf deutsch erhältlich ist, „weil irgendwann niemand mehr da ist, der weiß, wie es war.“
So reihen sich Treffen und Gespräche mit Zeitzeug*innnen des Widerstandes wie Perlen auf einer Kette aneinander. Verbunden sind sie mit Wanderungen von 2 – 5 Stunden durch den Reggianer Apennin südlich der Po-Ebene, getreu dem Motto ‚Geschichte muss zu Fuß erlebt werden‘. Wir sind unterwegs auf den Sentieri Partigiani, den Partisan*innenwegen, anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung Italiens vom Faschismus. Wir, das ist eine Gruppe von ca. 70 Menschen aus Deutschland, die einer Einladung des Institutes Istoreco Reggio Emilia gefolgt sind. Darunter eine Gruppe von 12 Personen, denen die Rosa-Luxemburg-Stfitung Thüringen die Teilnahme ermöglicht hat. Das Istoreco organisiert seit inzwischen 23 Jahren diese Wanderungen entlang der Orte des Widerstandes in der Provinz Reggio Emilia. Normalerweise findet die Wanderung im Herbst statt, wurde in diesem Jahr auf Grund des Jahrestages auch im April durchgeführt und mit Aspekten der italienischen Erinnerungskultur verknüpft.
Die Wege durch die Berge sind teilweise steil und beschwerlich, es ist bereits frühlingswarm und einige der Teilnehmenden stöhnen unter Schweiß und schmerzenden Beinen. Entschädigend ist die tolle Aussicht von einem Bergkamm, von dem auf der einen Seite Reggio und Parma zu sehen sind und auf der anderen Seite Busana. Getrübt wird die Aussicht und die Schmerzen etwas anders peinlich, als der Alpin-Guide erzählt, dass zwischen Reggio und Busana ca. 65 km liegen und der Reisebegleiter ergänzt, dass die Stafetten diese Strecken im Krieg 2-3 mal pro Woche hin und zurück gelaufen sind. „Ohne Wanderstiefel und Funktionsunterwäsche!“ Eine Zeitzeugin, die selbst als Stafette unterwegs war, erzählte: „Die einzige Kommunikation, die die Widerstandsgruppen miteinander hatten, lief über unsere Beine“. Sie berichtet außerdem, dass sie nach solch einem Marsch oftmals hinauf in ihre Kammer getragen werden musste, so erschöpft war sie.
Im Hof einer alten vornehmen Villa treffen wir eine weitere Zeitzeugin, Giovanna Quadreri. Die Villa diente den Deutschen als Kommandozentrale und sollte von den ‚Gufu nero‘ (Schwarze Eule), einer Spezialeinheit aus Partisanen und britischen Fallschirmjägern, die mittlerweile in der Region abgesetzt worden waren, angegriffen werden. Für die erste Aktion gab es Kontakte und Unterstützung zu fünf deutschen Soldaten innerhalb der Kommandantur, die sich dem Widerstand angeschlossen hatten. Die Aktion schlug fehl, die fünf Deutschen wurden enttarnt und als Deserteure erschossen. Am zweiten Angriff war Giovanna beteiligt. Sie bekam eine Pistole und bildet quasi die Nachhut. Ihre Aufgabe bestand darin Verletzte zu bergen oder ihnen den ‚Gnadenschuss‘ zu geben, wenn die Verletzungen zu schwer waren, damit sie nicht dem Feind in die Hände fallen konnten. Wie stark die psychische Belastung für die damals 17-jährige war, ist für uns heute wohl kaum vorstellbar. Sie ist noch heute froh, dass sie nie zu diesem Mittel greifen musste…
An der Spitze eines Zuges von vielleicht 70 – 80 Menschen geht seit mehreren Stunden ein älterer Mann mit einer italienischen Tricolore, der ihre Historie anzusehen ist. Abseits befestigter Straßen und Wege geht es auf Pfaden in Flussnähe nur im Gänsemarsch voran. Beim Durchqueren von kleineren Orten wird der Zug freudig begrüßt und wächst stetig auf ca. 100 Personen. Als der Pfad auf die Hauptstraße trifft, wartet bereits eine größere Gruppe der lokalen Sektion der Partisan*innenorganisation. Es soll zweier Kameraden gedacht werden, die noch am letzten Tag des Krieges ihr Leben verloren. Das Programm sieht eigentlich nur ein kurzes Gedenken und das Ablegen von Blumen vor. Doch ein Mann tritt ans Mikrophon mit einem Bild in der Hand, auf dem eine Partisan*inneneinheit zu sehen ist und er erzählt die Geschichte seines Großvaters. Der dem hier gefallenen MG-Schützen die Munition gereicht hat und neben ihm war, als er durch einen Schuss in den Mund starb. Mir läuft es kalt den Rücken herunter, ich kann mir die Situation in meiner Phantasie gut vorstellen und fühle die Traurigkeit, Wut und den Schmerz, wenn einer die Befreiung vor Augen noch getroffen wird. Gleichzeitig klingt in der Stimme des Mannes der Stolz über den Großvater, der sich mutig den Gefahren und Entbehrungen gestellt hat. Ein ähnlich bedrückendes Gefühl greift an der nächsten Station um sich. Dort wird an Mimma erinnert, die sich als Krankenschwester um alle gekümmert hat, den Deutschen bei Behandlungen aber noch Informationen ‚entlockte‘, die sie an die Partisan*innen weitergegeben hat. Sie hat außerdem Medikamente geschmuggelt und nichts sehnlicher erwartet als deren Ankunft in der Stadt. Wie tragisch, hinterhältig und wütend macht es da, zu hören, dass sie von einem Scharfschützen hinterrücks erschossen wurde, als sie den ankommenden Partisanen entgegenlief.
Auf dem Weg in die Stadt werden an mehreren Stationen ähnliche solcher bewegenden Geschichten erzählt. Die Gruppe sorgt so nicht nur für Verkehrsstau, sondern erregt auch Aufmerksamkeit und wird größer. Beim Einzug in die Altstadt laufen bereits knapp 200 Menschen mit. In den schmalen Gassen wird wiederholt Bella Ciao angestimmt. Und hier passiert etwas für deutsche Antifaschist*innen überraschendes, ganz im Kontrast zu den traurig stimmenden Geschichten der vorherigen Stationen: Fenster werden geöffnet, äußerlich durchschnittliche Menschen treten aus Geschäften heraus, alle stimmen ein und am Ende erklingt ein kräftig-vielstimmiges „morto per la libertá“ und treibt mir Tränen der Rührung in die Augen. Weiter ziehen wir bis zum Denkmal der Partisan*innen, welches zum Gedanken an die Opfer mit roten Nelken geschmückt wird. Am Abend gibt es noch eine feierliche Filmvorführung und ein weiterer eindrucksvoller Tag der Befreiung von Reggio Emilia (24. April), geht zu Ende.
Am folgenden Tag dann die offizielle Feierlichkeit mit Bürgermeister, Regionalfernsehen und Ehrengast (die letzte Frau von Nelson Mandela) sorgt nach den berührenden Momenten des Vortages wieder für einige Ernüchterung: Neben offiziösen Phrasen sehe ich viele Leute, die teilnahmslos und sichtlich desinteressiert ihren Besorgungen nachgehen. Lichtblick der Veranstaltung ist die Enkelin des Präsidenten der regionalen A.N.P.I. (Associazione Nazionale Partigiani D´Italia) Sektion, welche das Fortbestehen der antifaschistischen Traditionen propagierte und symbolisierte.
Als ich von der Möglichkeit, an dieser Reise teilzunehmen, erfuhr, hab ich mich gefragt, was es bringt durch die Berge zu kraxeln und alte Geschichten zu hören. Nachdem ich auf der Hinfahrt ziemlich viel über die Geschichte Italiens unter Mussolini und im Krieg gelesen hatte, wurde mir bei den Begegnungen recht schnell klar: Es ist einfach, etwas anderes jemanden zu sehen und zu hören, der oder die dabei war, als nur einen Text zu lesen oder auch ein Videointerview zu sehen. Außerdem werden an den Orten der Geschehnisse die Erzählungen und Berichte viel plastischer.
Als Fazit bleibt außerdem, dass ein Land Faschismus und Krieg nicht machtlos ausgeliefert war, sondern durchaus Widerstand möglich war. Die ‚Ausrede‘ vieler deutscher Großeltern, dass es ja keine Möglichkeit gab, wird hier ad absurdum geführt.
Ich kann daher eigentlich nur empfehlen, zu versuchen an solch einer Wanderung teilzunehmen so lange noch Zeitzeug*innen leben, auch weil Organisation und Betreuung durch die Veranstalter sehr gut ist.
Infos:
istoreco.re.it
partigiani.de
sentieripartigiani.it/de
resistance-archive.org
Literatur:
Notari, Giacomo: Ihr Partisanen, nehmt mich mit euch!
Staron, Joachim: Fosse Adreatine und Marzabotto: Deutsche Kriegsverbrechen und Resistenza.
Weber, Jürgen: Eimal Partisan – immer Partisan.
Woller, Hans: Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert.