La Cuchara über ein südamerikanisches Konzept, dass die Möglichkeiten eines gelingenden Lebens unter zerstörerischen Bedingungen auslotet.
Zu Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts kamen in mehreren Ländern Südamerikas links-reformistische Regierungen an die Macht. Hintergrund war das Bewusstsein vieler Menschen, dass das kapitalistische Versprechen der Schaffung von Freiheit und Wohlstand für alle, wenn denn nur weltweiter Freihandel, Marktwirtschaft, Eigentum und parlamentarische Demokratie gesichert seien, nicht zur realen Verbesserung ihrer Lage beigetragen habe. Daraus entstanden starke soziale und indigene Bewegungen, die maßgeblich zu den Regierungswechseln beitrugen.
Diese Regierungen setzten einen politischen und sozialen Wandel ganz oben auf ihre Agenda. Die neue Politik gipfelte in dem Versprechen des bolivianischen Präsidenten Evo Morales gegenüber den indigenen Menschen des Landes: „Ich gebe Euch Eure Würde zurück“. Abgesehen davon, dass in diesem Ausspruch schon ein Teil der zukünftigen Probleme aufleuchtet – das Betonen der handelnden Person des präsidialen Übervaters – standen diese Regierungen vor einem Dilemma: Wie sollten die Wünsche der Menschen nach mehr politischer und ökonomischer Teilhabe in die Praxis umgesetzt werden, sprich: auf welcher wirtschaftlichen Grundlage könnten die Lebensbedingungen verbessert werden?
Unter diesem Eindruck entstand im Umfeld indigener Bewegungen, vor allem in Ecuador und Bolivien, das Konzept des Buen Vivir (Sumak Kawsay in der Sprache der Quechua und Suma Qamaña in der Sprache der Aymara). Direkt übersetzt bedeutet dies „Gutes Leben“, bedeutet aber im weiteren Sinn „Gelingendes Leben“, meint somit nicht die schnelle Erfüllung aller Konsumwünsche sondern eine weiter gefassten Definition von Lebensqualität.
Einer der wichtigen inhaltlichen Bezugspunkte des Buen Vivir ist die Betonung der Abkehr von den westlich-kapitalistischen Entwicklungskonzepten, was auch eine kritische Distanz zu Konzepten der sogenannten alternativen Entwicklung beinhaltet. Vielmehr ist die Rede davon, anstelle alternativer Entwicklung auf die Idee von Alternativen zur Entwicklung zu setzen. Dazu der Aymara-Intellektuelle Fernando Huanacuni Mamani: „ Das erfüllte Leben kann nicht mit Entwicklung gleichgesetzt werden, da die Anwendung des Entwicklungsmodells, wie es in der westliche Welt verstanden wird, auf die indigenen Gesellschaften unangemessen und äußerst gefährlich ist. Die Einführung dieses Entwicklungsverständnisses bei den indigenen Völkern richtet nach und nach unsere eigene Philosophie vom erfüllten Leben zugrunde, da sie das gemeinschaftliche und kulturelle Leben unserer Dörfer demontiert, indem sie sowohl die Grundlagen unserer Subsistenz zerstört, als auch unsere Fähigkeiten und Kenntnisse unsere Bedürfnisse selbst zu befriedigen.“
Wichtige Schwerpunkte der Kritik am kapitalistischen Entwicklungsmodell des Nordens betreffen seine anthropozentrische Grundlage (also der Überhöhung des Menschen über die Natur), die Kommerzialisierung von Natur, die Industrialisierung als Entwicklungskonzept, Konsumismus, Fortschrittsmythos und Nationalstaat.
Auf dieser Kritik aufbauend, versuchen lateinamerikanische Intellektuelle (aber auch inzwischen darüber hinaus) Grundlagen einer Transformation ihrer Länder, hin zu einer menschen- und naturgerechten Gesellschaft zu diskutieren. Ausgangspunkte sind dabei die Weltanschauungen indigener Völker und Gemeinschaften, ihre Philosophie, Spiritualität und Lebenspraxen. Das Modell des Buen Vivir stellt sich darin eher als Plattform, denn als eindeutige Definition dar. Auf ihr sollen die verschiedenen Ansätze diskutiert werden und neben praktischen Veränderungsmöglichkeiten auch der utopische Ausblick nicht verloren gehen.
Der ecuadorianische Philosoph Eduardo Gudynas kennzeichnet folgende Komponenten des Buen Vivir (Auszug): Erstens, die Anerkennung der Natur als Subjekt. Damit verbunden sei die Abkehr von der Vorstellung, alles was den Menschen umgibt als Objekt zu begreifen, welches man umstandslos als Ware mit Gebrauchs- und Tauschwert definieren könne. Zweitens, die Dekolonisierung des Wissens. Nach Gudynas gibt es kein privilegiertes Wissen. Das erfordere die Anerkennung verschiedener Wissensformen und ein Bestreben, den Austausch von Wissen und Kulturen zu fördern. Was wiederum die Abkehr von hegemonialen Ansprüchen voraussetzt. Drittens soll die Idee des Buen Vivir einen Raum bilden, in welchem der Anspruch der Moderne alles zu beherrschen, zu wissen und zu nutzen in Frage gestellt werden kann. Viertens, ein anderes Naturverständnis. Natur sei keine Folklore oder Erbauung. Jedes alternative Entwicklungskonzept müsse „Natur“ neu denken und dies setze die Abkehr vom westlichen Naturverständnis, welches die Natur als Ressource betrachte, in Einzelteile zerlege und als vom Menschen Äußerliches wahrnehme voraus. Entwicklung sei kein linearer Prozess, die europäischen kapitalistischen Erfahrungen müssten nicht wiederholt werden. Und fünftens, erfordert das Buen Vivir eine Neuformulierung von Wohlstand und Lebensqualität. Diese seien unabhängig von Besitz und materiellen Gütern zu betrachten und beinhalteten Erleben, Freude, Trauer, Rebellion…
Die Debatten um das Buen Vivir in Südamerika führten zur Aufnahme der Natur (Pachamama – Mutter Erde) in die Verfassung von Bolivien und Ecuador. Dies ist nicht esoterisch zu verstehen, weil die hinter dem indigenen Naturverständnis stehende Philosophie sich zwar auch aus spirituellen Grundlagen speist, aber diese eher naturreligiösen Kontexten entstammen (das wäre ein eigenes, spannendes Thema…). Sie sind somit nicht Teil jener fürchterlichen Pseudo-Spiritualität eines Teils der europäischen Mittelschichten.
Leider bleibt die mit dem Verfassungsrang eröffnete theoretische Möglichkeit der Erarbeitung und praktischen Umsetzung einer neuen Haltung gegenüber den natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen – wie man aus anarchistischer Sicht erwarten konnte – ohne Konsequenzen: Die Regierungen beider Staaten setzen nach erbitterten Diskussionen und gegen die indigenen Bewegungen die Politik des Extraktivismus fort. Das bedeutet die Ausbeutung und den Verkauf von Rohstoffen ihrer Länder zu den Bedingungen des kapitalistischen Weltmarkts. Dieser ist jedoch mit seiner eiskalten Fixierung auf maximale Profite Hauptverursacher der weltweiten multiplen Krisenprozesse. Uli Brand von der Universität Wien und heftiger Kritiker der Politik des Extraktivismus spricht von einer „imperialen Produktions- und Lebensweise“. Darin besitzt der Norden (und inzwischen auch Schwellenländer wie China u.a.) einen unbegrenzten Zugriff auf die weltweiten Ressourcen. Unter den gegenwärtigen Bedingungen vertieft sich diese Produktionsweise, wird intensiviert und auf immer neue Bereiche erweitert. Was wiederum die Krisenzyklen verschärft.
Legitimiert wird die nun als Neuer Extraktivismus bezeichnete Politik mit der Notwendigkeit, die Bedürfnisse der Menschen nach mehr Wohlstand zu befriedigen. Dies ist keine Chimäre – tatsächlich würde wohl die Mehrheit der Bevölkerung beider Staaten dieser Ansicht zustimmen. Auch die jungen Menschen in Südamerika wollen im World Wide Web unterwegs sein. Die Vorbildwirkung europäischen Wohlstands auf die verarmten Teile der Bevölkerung lässt sich ebenso wenig wegdiskutieren. Wohin jedoch eine kritik- und alternativlose Fortsetzung des extraktivistischen Modells führen wird, ist gerade am Beispiel Venezuelas trefflich zu beobachten. Hier wurden zwar mit den Einnahmen aus dem Ölverkauf hervorragende Sozialprogramme finanziert, doch gelang es nicht in der Zeit sprudelnder Öl- und Geldquellen eine eigene, geschweige denn alternative Ökonomie aufzubauen. Die Versuche blieben in ihren Anfängen stecken. Vor wenigen Jahren wurde zum Beispiel mit viel Geld eine große Kampagne zur Gründung zahlreicher Genossenschaften gestartet. Tatsächlich wurde in den Medien von über 200 000 Neugründungen geschrieben. Nach etwas mehr als zwei Jahren waren davon nur noch einige Hundert existent. Alle anderen hatten sich in Luft aufgelöst. Als nun die Weltmarktpreise für Öl und andere Rohstoffe purzelten, brach das Kartenhaus des Chavismus zusammen. Vor Weihnachten 2015 siegte die rechte Opposition bei den Parlamentswahlen eindeutig. Was nun folgen wird, ist der Kampf um die Bewahrung wenigstens eines Teils der sozialen Fortschritte der letzten Jahre.
Natürlich sind kritische Fragen an das Konzept des Buen Vivir zu richten: Handelt es sich um ein indigenes Konzept oder eine postmoderne Erfindung von indigenen Intellektuellen? Jedenfalls gehört es bisher kaum zur Alltagssprache und –kultur indigener Gemeinschaften. Somit besteht die Gefahr, dass intellektuelle Debatten nicht das Denken und die Bedürfnisse eines großen Teil der Bevölkerung widerspiegeln und somit seitens der Regierung als „träumerisch“ und „versponnen“ denunziert werden können. Da es aber in weiten Teilen Süd- und Mittelamerikas aufgrund der mit den Folgen des Ressourcenabbaus verbunden Zerstörungen heftige Proteste gibt, haben die Ideen des Buen Vivir gegenwärtig noch einen hohen Mobilisierungsgrad. Weiterhin ist nicht zu leugnen, dass eine kleine Gruppe der indigenen Intellektuellen von Ideen, wie zum Beispiel von der Rückkehr in idealisierte Zeiten des Inkareiches träumen. Was eine eindeutig reaktionäre Tendenz aufzeigt. Oder: Welche Bedeutung hat die Diskussion um Identitäten? Eignet sich das Buen Vivir für die engagierten Menschen im Norden nicht zuvorderst zur Folklorisierung der indigenen Bewegungen und als beruhigende grüne Wohlstandsvariante? Usw.
Das alles ist durchaus denkbar. Es erscheint mir jedoch trotzdem wichtig, zum Abschluss zu bemerken, dass es sich beim Konzept des Buen Vivir um den Versuch handelt, traditionelles Wissen, Erfahrungen und Praxen mit neuen, modernen Transformationsideen in Verbindung zu setzen. Dies unter den Erfahrungen von über 500 Jahren Unterdrückung, Ausgrenzung und Ausbeutung. Und in der Wahrnehmung riesiger zerstörter Landschaften und Lebensräume sowie von tausenden vertrieben und ermordeten Menschen. Wie wir alle wissen – das Wüten der kapitalistischen Produktionsmaschine zerstört die Grundlagen der menschlichen Existenz. Die Krisen werden nicht wegen Frontex vor Europa halt machen. Ansätze, die jene Situation ändern wollen, werden nicht um die Frage herum kommen, wie wir uns als Menschen zukünftig ins Verhältnis zur Natur setzen. Bei allem Ungewohnten und Irritierenden: Eine Diskussion über das Sumak Kawsay lohnt sich.