Rezension: Herzl Reloaded

Jeder & Jede, der oder die sich mit Israel in irgendeiner Form beschäftigt, hat wahrscheinlich seinen Namen schon einmal gehört bzw. gelesen: Theodor Herzl. Das wohl berühmteste politische Manifest zur Gründung Israels, Der Judenstaat, erschien 1896 als Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, wie es im Untertitel auch heißt. Es dauerte indes gut 50 weitere Jahre bis Israel gegründet wurde. Herzl war allerdings nicht genuin Politiker, sondern Literat und so verwundert es nicht, dass sein Roman Altneuland die Vision des Judenstaates versuchte, konkret auszumalen. 2016 ließen Natan Sznaider und Doron Rabinovici nun ihre Reflexion über Herzls vermeintlich verwirklichten Traum beim Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag herausgeben. Max Unkraut, aktives Mitglied der Sozialistischen Jugend – Die Falken, rezensiert in Folgendem den Titel Herzl reloaded.

Auf die angesprochene Vermeintlichkeit des Herzl’schen Traumes verweist schon der Untertitel des Werkes: Kein Märchen. Einerseits, so könnte man deuten, sei der Traum von Jüdinnen und Juden nach nationaler Selbstbestimmung als Schutz vor dem Antisemitismus real geworden – Israel existiert heute. Andererseits wird während des Lesens recht schnell klar, dass Israel für die Autoren nicht das happy end der Leiden der Jüdinnen und Juden ist, so wie Herzl es in Altneuland sich vorstellte. So wie zwischen Idee und Realität, utopischem Roman und politischer Kampfschrift changieren auch Sznaider und Rabinovici im Laufe ihres Gespräches. Während der fiktive Emailverkehr reelle Begebenheiten vermittelt und eigentlich zwischen drei Personen –zusätzlich Herzl – stattfindet, reduziert sich der Dialog auf die Kontrapositionen von Sznaider und Rabinovici. Darin nimmt Ersterer die eher pessimistisch-realistische Position des desillusionierten Tel Avivier Soziologen ein, der er sicher wirklich auch ist. Ebenso real wird auch die Stellung Rabinovicis sein, die ein wenig naiv-idealistisch daherkommt und als klar linke zu bezeichnen ist, was sich auch biographisch an seiner (ehemaligen?) Mitgliedschaft bei Hashomer Hatzair – den israelischen Falken sozusagen – ableiten lässt.
An diesen beiden konträren Sichtweisen arbeitet sich die Reflexion des gegenwärtigen Israels ab und, was hier wichtig zu erwähnen ist: aus jüdischer Sicht. Darum ist gewiss die Diskussion, die der Text bereitstellt, eine Suche nach jüdischer Identität. Es wird freilich auch der arabische Fokus vorgestellt, so, wie es für (proto-)linke jüdische Israelis zum guten Ton gehört: bald ist der arabische Mitbürger oder (wenn man ihn mit gutem Willen und schlechtem Gewissen so zu nennen vermag) Palästinenser unterdrücktes Opfer der rassistischen rechten Regierung, bald ist er schlicht antisemitischer Terrorist. Auf Grundlage dessen wird eine Ein-, Zwei- und sogar Keinstaatenlösung diskutiert, wobei Letztere aber im Geiste ewiger Staatlichkeit und damit nur als Gedankenkonstruktion typisch bürgerlichen Kosmopolitismus verhaftet bleibt, d.i. vom Staate unabhängige Individualität wird hier konstituiert durch einen Vielvölkerstaat, oder zeitgemäßer: eine multikulturelle Gesellschaft, indem sich die durch spezifische Religionen, Ethnien, usf. sozialisierten Einzelnen an ihren Widerständen reiben und so ein authentisches Ich herausbilden. Simmel, der recht früh als Szaiders Lieblingssoziologe erinnert wird, ist hier deutlich herauszulesen.
Ein prinzipielles und sehr konkretes Problem dieser für kapitalistische Gesellschaften noch am erstrebenswertesten Ideologie ist, dass Sznaiders Idee, angeblich übereinstimmend mit Herzls Traum, Israel theoretisch abschafft. Denn hierin gleicht das Bollwerk der Jüdinnen & Juden mehr einer romantischen Idee US-amerikanischer Provenienz, bei der die Besonderheit der antifaschistischen Identität zwischen jüdischem Staate und seiner Gesellschaft eliminiert wird. Sznaider ist zwar nicht so wahnsinnig zu behaupten, diese gründende Funktion Israels sei obsolet. Allerdings ist die Tendenz dorthin frappierend dann, wenn der antisemitische Vernichtungswille der Palästinenser, des Iran usf. schlicht zu religiösen Konflikten bagatellisiert und gar Auschwitz als Legitimationsgrundlage geschickt negiert wird.
Es mag verwundern, dass die Rezension bisher eher Szaiders Argumentation nachging als Rabinovicis. Nicht nur an dem (zumindest gefühlt) höheren Textanteil des Ersteren ist dieser Umstand gebunden, sondern auch daran, dass Rabinovici gegen die kühle Metasicht Sznaiders nicht ankommt. Der gnadenlose Humanismus des Literaten, der noch stärker dem Geiste Herzls und seinem Heimatort Wien mit den Bohème-Kaffehäusern nachhängt und es sich darum so viel eher ausnehmen kann, phantasievoll über Möglichkeiten der israelischen Gesellschaft zu philosophieren als die politischen Überlegungen Sznaiders, scheitert eben an dieser unhaltbaren Wirklichkeit. Obschon Rabinovici seine Gedanken sicher nicht ganz an dieser Realität vorbei bestimmt, sind ihm doch die Lösungsansätze recht einfach zu bestimmen: Menschenrechte für alle zur Geltung bringen, den Arabern einen Staat geben und alles sei geregelt. Gegen diese sachwidrige Reduktion des ganzen Tohuwabohus der besonderen sozialen Verhältnisse legt Sznaider sein Veto ein, was jedoch merkwürdig ist. Schien es doch zuerst so, als sei die Besonderheit des Staates Israel von diesem abgesprochen, so wird sie endlich durch den Verweis auf die Kompliziertheit dieser Gesellschaft wieder hereingeholt.
Das Durcheinander oder Hin und Her des Judenstaates zeichnet sich also im Laufe des Buches selbst ab und könnte eine eigentümliche Dialektik andeuten. Nicht nur ist das Zwiegespräch typisch griechisch im Sinne seiner etymologischen Herkunft: διάλέγειν, sondern auch bemerkenswerte miteinander verwobene Umschwünge kommen hierin zum Vorschein: religiöser Mythos der Erlösung manifestiere sich in der jüdischen Staatlichkeit, aber ein Judenstaat könne gelingend bloß säkular existieren, menschenrechtlicher Universalismus sei der Besonderheit der israelischen Bevölkerungsgruppen unangemessen, dagegen realisiere sich das Individuum in einer liberalistisch-partikularisierten Gesellschaft nicht, usf. Es ist dies Oszillieren einer der interessantesten Aspekte des Werkes.
Diese Bewegung findet auch in der Signifikanz, d.i. der Bezug zwischen Fiktion und Realität ihren Niederschlag. Es werden zwar tagespolitische Themen Israels immer wieder aufgegriffen, doch unklar bleibt, in welchem Verhältnis sie zur künstlerischen Zuspitzung stehen. Einmal wird konstatiert, die rechte Regierung kranke an einer Paranoia und man bekäme dadurch das Gefühl, die israelische Gesellschaft stände mitten in einer Generalmobilisierung. Doch schon einen oder zwei Sätze später stellt man klar und reflektiert, dass man selbst vielleicht übertreibe. Emphatisch müsste man indes zugeben, dass durch die tragische Form, also mittels Übertreibung, das alltägliche Leid seinen adäquaten Ausdruck findet. Dann würde aber auch – wieder ein Umschlag innerhalb der Geschichte! – die Fiktionalität von Rabinovici realitätsgetreu und wiederum Sznaiders Realismus naiv. Die recht klare Intention einer Bestandsaufnahme oder eines Abgleiches zwischen jüdischem Traum und israelischer Wirklichkeit sprengt daher förmlich die Grenze zwischen Phantasie und Sosein vermittels der literarischen Form.
Dementsprechend großräumig gestaltet sich der Inhalt. Es werden viele große jüdische Themen angesprochen: Antisemitismus, BDS, Diaspora, Erlösung, Iran, ISIS, Kibbuzim, Palästinenser, Sozialismus, USA usw. und viele große Autoren erwähnt: Theodor Wiesengrund Adorno, Hannah Arendt, Judith Butler, Moses Hess, Karl, Kraus, Karl Marx usf. Gleichzeitig wird diesen jedoch nur wenig Platz zur Erläuterung eingeräumt, so dass ein bestimmter Gedankenkreis immerhin hervorscheint.
Auf Grund dieser Unbestimmtheit, nämlich zu definieren, was jüdische Identität in und durch Israel heute sei, entspringt ein essayistischer Schreibstil, der flanierend das versucht an Schaufenstern der Geschichte sich zu betrachten, was politisch zu gebrauchen ist und hierin liegt ganz sicher der größte Reiz und Widerspruch des Buches. Sznaiders dementierender Vorwurf an Rabinovici, dieser sehe Israel, wie damals noch Herzl, im Wiener Kaffehausflair, wird so selbst zum politischen Gespräch über die Möglichkeiten und Träume der israelischen Gesellschaft, das bei Café und Konfa gut in einem Bistro am Strand von Tel Aviv hätte stattgefunden haben können.


Rabinovici, Doron/ Sznaider, Natan: Herzl Reloaded. Kein Märchen, Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2016, 19,95 Euro, 207 Seiten.

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