Progressive Rock ist Ende der 1960er-Jahre entstanden, als linke Studenten die Einflüsse ihrer bürgerlichen Bildungsbeflissenheit in Konzeptalben mit ewig langen Liedern gegossen haben. Kalle und Markus pflegen auch heute noch durch Download oder Kaufhausklau ihre gut sortieren Diskographien, gehen auf bestuhlte Konzerte und ziehen eine Linie von den frühen Pink Floyd zur aktuellen Avantgarde-Band Radian.
Dieser Text hat zwei Anfänge. Der eine ist: Ich war auf einem großartigen Konzert im alternativen Club ‚Frau Korte‘ in Erfurt. Die Musiker_innen von Radian aus Wien haben 2006 die Asche von Syd Barret geschnupft. Und daraus neue Musik gemacht. Die Linke der 1930 Jahre hatten Brecht. Wir haben Egotronic und Antilopengang. Ist damit nicht alles gesagt? Will meinen: Eine Ästhetik auf der Höhe der Zeit ist ein Motor, affektiv den Wunsch nach Veränderung und dem Besseren am Leben zu erhalten. Radian hat mich so mitgenommen, dass ich den Wunsch nach dem Guten Leben mit nach Hause nehmen konnte. Aber wer zum Teufel ist Syd Barret? Dafür braucht es einen zweiten Textanfang.
Rock und Prog als Klassen-, Race- und Geschlechterfrage
Wer sich in den früher 70er-Jahren irgendwie links gab, mit Palitüchern dekoriert war und sich in Endzeitapokalypsen bekifft durch Atomenergie und Raketen phantasierte, kam am Progressive Rock nicht vorbei. Der Progrock entwickelte sich Ende der 60er Jahre vor allem in Großbritannien, als weiße, männliche Musiker die Rockmusik durch stilistische Merkmale anderer musikalischer Gattungen, vor allem der Klassischen Musik, ergänzten. Genrespezifisches Instrument war das Mellotron mit seinem warmen, melancholischen Klang, oft auch die Steel-Guitar und später der Synthesizer. Die elektronischen Instrumente der frühen Prog-Acts waren oft selbstgebaut, die Lieder lang und oft von experimentellen Teilen durchzogen, und die Musik kam nicht als Song, sondern als Platte, oft als Konzeptalbum, daher.
Zu den klassischen Vertretern des Genre zählten neben Emerson, Lake and Palmer (ELP) vor allem King Crimson, Yes und die frühen Genesis und Pink Floyd zu Zeiten des schon genannten Syd Barret – bevor die Band mit Roger Waters populär wurde.
Die schon angesprochen männliche und weiße Dominanz in der Rockmusik hat von Beginn an mit Rassismus zu tun: Das Erfolgsrezepts von Elvis Presley in den 1950er-Jahren war es, die Musik der afroamerikanischen Bluesbands für eine weiße Jugendbewegung aufzubereiten. Dass die schwarzen Blues-Acts dieser Erfolg verwehrt blieb, ist natürlich im Rassismus begründet: Mit dem überlieferten Satz: „Wenn ich einen Weißen finden könnte, der wie ein Schwarzer singt, würde ich eine Million Dollar machen“ brachte Elvis erster Produzent die Lage auf den Punkt.
Auch die Entstehung des Prog lässt sich vor dem Hintergrund von Machtverhältnissen deuten. Was vorwiegend englische Musiker in der zweiten Hälfte der 1960er gemacht haben, ist, eine proletarische Musik (Rock) mit einer Tradition europäischer Intellektueller – klassische Musik – zu kombinieren. Auch hierdurch wurde ein neues Publikum erschlossen, indem Rock nun auch für den Nachwuchs der weißen Oberklasse interessant wurde – was ein Stückweit erklärt, wieso die genannte Dominanz weißer Männer für Progrock so deutlich ist wie bei kaum einer anderen Musikrichtung.
Diese Erzählung funktioniert ideengeschichtlich, aber auch individuell: Die Ur-Prog-Rock-Band The Nice mit dem Organisten Keith Emerson (später ELP) war zu Beginn die Begleitband der bis heute aktiven schwarzen Sängerin P.P. Arnold. Der Erfolg kam, als sich The Nice von Arnold getrennt hatte. In der klassischen Phase des Genres gab es außer ihr nach unseren Recherchen keine schwarzen Bands oder Musiker_innen, was auch an einer bewussten Orientierung lag: Viele europäische Musiker vermissten nach den erfolgreichen britischen Bands der 1960er-Jahre (Beatles, Rolling Stones, Kinks, Who), die sich am klassischen amerikanischen Rhythm&Blues orientierten, einen originär europäischen Stil der Rockmusik. Hier sei vor allem Jethro Tull benannt, die sich aus einer Bluesband zum progressiven Rock entwickelten. So postulierte deren Mastermind Ian Anderson: „Früher oder später kommt man zu der Erkenntnis, dass man sich mit seiner Hautfarbe abfinden und weiße (sic.) Musik spielen muss“. Das sich daraus eine weiße Hegemonie entwickelte, war eigentlich klar.
Frauen kamen in der klassischen Phase des Prog kaum vor, wenn doch, in spezifischer Rolle wie beim 1972 veröffentlichten Konzeptalbum 666 der Band Aphrodites Child, auf der die Schauspielerin Irene Papas sich laut und unzweideutig zum Orgasmus stöhnt.
Bedeutungsschwangere Musik für Bildungsbürger
Der Prog-Rock der 70er-Jahre gefiel sich vor allem in suitenartigen synphonischen Konzeptstücken mit Überlänge. Dem Publikum wurden Versatzstücke aus gregorianischen Gesängen, Barock, Blues, Rock und anderem geklautem Zeug als eine Erweiterung und Intellektualisierung der herkömmlichen Rockmusik präsentiert. Bildungsbürgerliche Kunstbeflissenheit und selbstherrliche Zurschaustellung von Virituosität waren weitere Merkmale der oft klassisch ausgebildeten Musiker. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Kunstanspruch, den die Musiker für sich beanspruchten. Die komplexere musikalische Form galt stets als höherwertig. Ganz besonders peinlich, weil gezwungen bedeutungsschwanger und avanciert, war wie so oft die deutsche Variante. Zu nennen wären hier Hoelderlin, Novalis, Triumphirat (allein die Namen sprechen Bände), Nektar, Amon Düül, Guru Guru oder Eloy und Grobschnitt. Ihr aufgeblasener Sphären-Rock mit abstrakten Texten war ungemein populär. Der progressive Rock von DDR-Bands wie Karat, Elektra und Stern Combo Meißen war in der Regel weniger bombastisch.
In den 1970er-Jahren sind viele der ehemaligen Untergrund- oder besser: Sparten-Bands groß geworden und konnten mit ihren Verfallsformen Stadien füllen.
Gegen den Prog: Punk und Glamrock
Die Entstehung des Punk ist zu einem Gutteil dadurch zu erklären, dass eine neue Generation Bands und Fans in den 1970er-Jahren die Schnauze vom bedeutungsschwangeren Geleiere der Prog-Bands genauso voll hatten wie von der popularisierten Variante des Bombast-Rocks. Punk war als Gegenbewegung gemeint und wurde auch so verstanden. Von Rick Wakeman, Keyboarder von YES, hieß es, er habe versucht, sein Label dazu zu bewegen, die Sex Pistols nicht unter Vertrag zu nehmen.
Neben dem Punk war auch der sträflich missverstandene und kulturell abgewertete Glamrock eine eigenständige Gegenbewegung. Den patriarchalen Männern des Prog wie Vangelis, Greg Lake oder Ian Anderson wurden androgyne Typen wie David Bowie (in seiner Ziggy-Stardust-Phase), Brian Connolly (Sweet) oder der großartige Marc Bolan (T.Rex) entgegengestellt. Ihre schrillen, glitzernden, oft femininen Kostüme bilden einen Kontrapunkt zur bombastischen und intellektuell überladenen Ästhetik des Prog-Rock. Der Punk war, was Geschlechterdarstellungen angeht, nicht so eindeutig zu bewerten, hatte aber auf jeden Fall großartige Momente da, wo er uneindeutig daherkam.
Fazit
Man könnte angesichts des Dargelegten sagen: Ein Glück, dass Punk dem Progrock ein Ende bereitet hat. Dieses harsche Urteil gilt aber nur zum Teil. Wenn man sich frühe Aufnahmen des Progrock anschaut – sei es das schon erwähnte Frühwerk von Pink Floyd, sei es das teilweise hoch ironische Werk von Jethro Tull oder noch früher „Fire“ von Arthur Brown – hört und sieht man deutlich, wie rotzig und agil Progrock daherkommen kann – auch in der BRD, wo Can und Ton Steine Scherben als sozialistische Avangtgardekollektive eine bekiffte Alternative zum Schlager gespielt haben. Und Geschlechterverwirrung gab es auch schon, als Peter Gabriel in den 1970er-Jahren als Sonnenblume verkleidet auf der Bühne stand. Progrock war eben auch interessant, und zwar genau da, wo er als Gegenbewegung zum braven Strophe-Refrain-Schema des schon vorher in Langeweile erstarrten Rock daherkam.
Und wenn man heute vergleicht, was noch an musikalisch spannenden Impulsen aus dem Prog und aus dem Punk kommt, sieht das alte beschauliche Zeug gar nicht so schlecht aus. Holger Czukay (von Can) und Hellmut Hattler (von Kraan), beides Veteranen des Krautrock, einer westdeutschen Musikrichtung, die sich aus dem Psychedelic – und dem Progrock entwickelte, setzen noch heute Maßstäbe in der elektronischen Musik, z.B. Czukay in den 1990er-Jahren als Breakbeat-DJ.
Ob man der eingangs erwähnten Wiener Band Radian Unrecht tut, wenn man sie in die Tradition des Progrock einreiht, muss die Band selbst entscheiden. Wir meinen, Radian hat aus dem, was 1970 vorlag und in den Jahren danach zu Bombastic Rock verknöchert ist, Musik auf der Höhe der Zeit gemacht.
Radian – On Dark Silent Off (2016), zu beziehen über http://www.thrilljockey.com
Links zu Musik mit singenden Sonnenblumen, experimentellem Krach und kreischbunten Gummihosen: