Über das Verhältnis von staatlicher Abschottung, Rassismus und Migration

Der Infoladen Sabotnik hat 2015 Thesen zum Verhältnis von staatlicher Abschottung, Rassismus und Migration formuliert und auf einer Veranstaltung diskutiert. Seitdem ist einiges geschehen. Der Zyklus sichtbarer Kämpfe von Geflüchteten (Märsche und Besetzungen) ist vorbei, mehrere Asylrechtsverschärfungen sind durchgesetzt, im Bundestag und auf der Straße hat der Rassismus gegen Geflüchtete neue Dimensionen angenommen. Die Thesen erscheinen in weiten Teilen trotzdem noch erstaunlich frisch, lediglich These 7 und 8 haben wir nach einer erneuten Diskussion im März 2018 stärker verändert.

1. Migration lässt sich nicht allein als Reaktion auf politische und ökonomische Rahmenbedingungen begreifen, sondern zum Teil auch als soziale Bewegung. Im Sommer 2015 haben sich viele Menschen auf den Weg gemacht, sind eigensinnig mit mörderischen Rahmenbedingungen umgegangen und haben mit legalen und illegalen Mitteln die Festung Europa erreicht. Wie für alle sozialen Prozesse gilt:„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (Karl Marx)

Ein von oben herab gedachter Opferdiskurs gegenüber Geflüchteten macht deren Handlungsfähigkeit unsichtbar und entmächtigt (zusätzlich zu den ohnehin entmächtigenden Rahmenbedingungen) die Menschen, indem er sie von Bündnispartner_innen zu Hilfeempfänger_innen degradiert.

2. Mehr Kontrolle und Repression kann Migration behindern, schwieriger machen, dazu führen, dass noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken oder in Lagern interniert werden. Aber sie wird nie in der Lage dazu sein, auf Dauer und wirkungsvoll zu verhindern, dass Menschen sich auf den Weg machen.

3. Auch sind Grenzen keine statische Linie entlang einer Mauer, sondern ein soziales Verhältnis, dass vielfältige ein- und ausschließende Beziehungen und Hierarchien zwischen Menschen schafft. Die Subjekte der Migration sind nicht einfach nur drinnen oder draußen, sie sind

  • temporär Innen (wie Saisonarbeiter_innen)
  • unsichtbar an der Grenze zwischen Innen und Außen (wie Geflüchtete im Flughafenverfahren)
  • unsichtbar Innen (wie Illegale)
  • scheinbar Außen (wie Geflüchtete mit festem Aufenthaltsstatus)
    In diesen Grauzonen des Grenzregimes kämpfen Menschen ständig gegen verdachtsunabhängige Kontrollen, Racial Profiling, Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt usw.

4. Fluchtursachen im globalen Süden können nicht getrennt vom globalen Norden betrachtet werden, vielmehr besteht ein komplexer Zusammenhang. Die Wirtschaftspolitiken weniger ökonomisch, politisch und militärisch starker Industrienationen tragen dazu bei, dass die Lebensbedingungen im globalen Süden unerträglich werden:

  • Exporte von Waffen
  • der Export subventionierter Agrargüter, die die Landwirtschaft im globalen Süden unrentabel machen
  • Freihandel, oft durchgesetzt auf der Bühne transnationaler Institutionen wie IWF und Weltbank, oft institutionalisiert in Freihandelsabkommen wie TTIP
  • Land- und Ressourcen-Grabbing
  • militärische Interventionen
  • eine 500jährige Kolonialgeschichte

Der globale Kapitalismus verwehrt damit einerseits Milliarden von Menschen nicht-kapitalistische Subsistenzformen, bindet diese andererseits nicht in profitable Verwertungsprozesse ein, die wenigstens eine halbwegs erträgliche Existenz ermöglichen würden.

5. Die Trennung von „Wirtschafts-“ und „Kriegsflüchtlingen“ ist daher auch sinnlos. Die aktuellen kapitalistischen Dynamiken und Politiken des globalen Nordens führen ebenso zu Vertreibung und Hunger wie zu Staatsverfall, Umweltzerstörung, Aufständen und Bürgerkriegen.

6. Werfen wir nun einen Blick auf die BRD. Die rassistische Unterschichtung des Arbeitsmarkts wird hier genutzt, um Löhne zu senken. Zudem brauchen Wirtschaft und Staat Arbeitskräfte. Beispielsweise braucht es (mehr) qualifizierte Arbeiter*innen, Arbeiter*innen im Niedriglohnsektor, als Reservearmee und als Ausgleich für den demografischen Wandel in Deutschland. Die humanitäre Rhetorik der deutschen Willkommenskultur im Sommer 2015 fiel Hand in Hand mit arbeitskraftpolitischen und demografischen Überlegungen:

Über 60 Prozent der deutschen ManagerInnen glaubten, ihre Unternehmen würden durch eine schnelle Integration der Geflüchteten profitieren (SZ, 24.9.2015). BDI-Präsident Ulrich Grillo erklärte: ‚Wir haben ein demografisches Problem in der Zukunft. Das heißt, wir haben einen Mangel an Arbeitskräften. Dieser Mangel kann reduziert werden’ “ (Fabian Georgi).

7. Trotz des eines Bedarfs an Migration wurden in den letzten Jahren von Regierungsseite eine Reihe von Asylrechtsverschärfungen durchgesetzt und Abschiebungen konsequenter durchgesetzt. Gleichzeitig erreichten Rassismus, Angriffe gegen Asylbewerber*innen und rechte Mobilmache ein neues Höchstmaß. Hierfür gibt es verschiedene Erklärungen, die in ihren genauen Verhältnis zueinander zu prüfen wären:

  • Quer durch alle Milieus und Klassen formiert sich derzeit ein starker Wohlstandschauvinismus, der sich zum einen in verstärktem Konkurrenzkampf zeigt, zum anderen aber auch die Angst vor dem Abstieg als Standortfrage artikuliert.
  • Kleine und mittlere Unternehmen (AfD-WählerInnen der ersten Stunde), die eher auf den lokalen Absatzmarkt angewiesen sind, fürchten eine weitere Öffnung des deutschen Marktes (durch die EU, TTIP, CETA, etc.) und setzen auf eine nationalistische Anti-EU- und Anti-Geflüchteten Rhetorik.
  • Und nach wie vor ist der ganz normale Rassismus ein weit verbreitetes Phänomen sowohl in seiner völkischen Form bei Nazis als auch als Leistungsrassismus und Kulturalismus in der Breite der Bevölkerung.

8. Was heißt das am Ende? Wir wurden bei der Diskussion der Thesen verschiedentlich danach gefragt, welche Praxis denn nun daraus folgen soll. Unsere politische Praxis besteht derzeit vor allem darin, linke Strukturen zu stärken, radikale Positionen in Bündnissen und in der Öffentlichkeit zu verbreiten und Räume aufrecht zu erhalten. Damit hoffen wir, dem allgemeinen Rechtsruck etwas entgegen zu setzen. Wir beziehen uns positiv auf Kämpfe gegen Abschiebung und die Selbstorganisation von Geflüchteten. Verschiedentlich sind wir auch gegen Abschiebungen, gegen die AfD und gegen die laufenden Asylrechtsverschärfungen auf die Straße gegangen – mit wenig Erfolg. Wir finden es wichtig, sich zu organisieren und eine solidarische Perspektive von Unten aufzubauen, statt sich positiv auf Staat, Nation und Kapital zu beziehen. Um Rassismus zu verstehen, müssen wir die Erfahrungen von Migrant*innen und People of Color mit einbeziehen. Inhaltlich möchten wir weiter darüber reden, in was für einer Welt wir leben wollen. Wir organisieren uns gegen den rassistischen, sexistischen und kapitalistischen Alltag, auch wenn er im Neoliberalismus mit mehr Flexibilität und Kreativität daher kommt. Mit Leuten, die sich was ähnliches vorstellen, tun wir uns gerne zusammen.


Zum Weiterlesen:

  • zur Autonomie der Migration – Çağrı Kahveci, Teilhabe und Sichtbarkeit für Alle, Lirabelle 14, http://lirabelle.noblogs.org/2017/01/13/teilhabe-und-sichtbarkeit-fuer-alle/
  • zum Verhältnis von Autonomie der Migration und Materialismus – Fabian Georgi, Widersprüche im langen Sommer der Migration, Prokla 183, http://www.prokla.de/wp/wp-content/uploads/2016/georgi.pdf
  • Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft, Reflexionen über das Surplus-Proletariat: Phänomene, Theorie, Folgen, https://kosmoprolet.org/de/reflexionen-ueber-das-surplus-proletariat-phaenomene-theorie-folgen
  • zu Landnahme und Subsistenzwirtschaft – Silvia Federici, Caliban und die Hexe
  • Alfred Sohn-Rethel, Zur Klassenstruktur des deutschen Faschismus
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