Am 27. Oktober diesen Jahres stehen in Thüringen die Landtagswahlen an. Betrachtet man die aktuellen Umfragen, sind die Chancen für die Fortsetzung der Regierungskoalition aus Linkspartei, SPD und Grünen gering, wenn auch nicht aussichtslos. Ox Y. Moron geht der Frage nach, warum man überhaupt wählen sollte und wie die Arbeit der aktuellen Landesregierung aus kommunistischer Perspektive zu bewerten ist.
Warum Wählen?
Kaum einer Handlung wird in dieser Gesellschaft so gehuldigt, wie dem Wahlakt. Wahlen und Demokratie, da sind sich fast alle einig, sind was tolles. Und da Misstrauen gegen solche unhinterfragten Gewissheiten immer angebracht ist, lohnt der Blick darauf, was es mit dem Wählen auf sich hat. Mit unserer Wahlentscheidung entscheiden wir mal direkt, mal indirekt über das Personal der parlamentarischen Demokratie mit. Wir wählen Politiker und deren Parteien, die sich uns über ihre Programme angepriesen haben. Diesen obliegt es dann, Gesetze zu erlassen, in deren Rahmen das gesellschaftliche Leben geregelt und verwaltet wird. Was dabei zunächst nicht zur Wahl steht, ist die Form dieser Demokratie, das bestehende Vergesellschaftungsmodell als Ganzes. Nicht zur Wahl steht die Frage, ob wir die Produktion für einen anonymen Markt, seine Verwertungslogik, also die herrschende kapitalistische Produktionsweise wollen oder nicht. Wir wählen nur Politiker und Parteien, die einen höheren Mindestlohn wollen oder nicht; die den Kohleausstieg jetzt wollen oder erst wenn der Planet verglüht ist; die den Mord im Mittelmeer wollen oder eben nicht. Es geht nicht mehr um Sozialismus oder Kapitalismus, sondern um verschiedene Konzepte der Elendsverwaltung innerhalb des letzten. Und jede Wahlhandlung bejaht zunächst erstmal jenen Rahmen, den der Wahlakt nicht überschreitet. In einer älteren Ausgabe der Alerta Südthüringen heißt es dazu: Der Wahlakt „bejaht die herrschende Produktionsweise, wie das ihm zugrunde liegende Prinzip des Eigentums, das Menschen von Dingen ausschließt, die sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse brauchen. Er bejaht das Rechtssystem, das Menschen verfolgt, die sich nicht an den Rahmen halten wollen oder können. Die Wahlhandlung verewigt ein menschenfeindliches Ganzes, dessen Produktion nicht den Bedürfnissen der Menschen, sondern der Vermehrung von Tauschwerten gilt.“ Das gilt umso mehr, je unaufgeklärter die Menschen zum Wahlakt schreiten. Eine Grundvoraussetzung für Demokratie als Verständigung der Menschen über ihre gesellschaftlichen und individuellen Interessen ist eine mündige, aufgeklärte Gesellschaft. In der bestehenden Demokratie ist für die Einzelnen aber nicht mehr in vernünftiger Weise geklärt, was ihre wirklichen Interessen sind. Sichtbar wird das daran, dass in der Breite der Mehrheitsgesellschaft Phänomene wie Lohnarbeit, Armut und Ausgrenzung als selbstverständlich, ewig und unveränderlich begriffen werden. In einer Gesellschaft, in der jeder Bildungsweg auf die Verwertbarmachung ausgerichtet ist, machen sich die Einzelnen den gesellschaftlichen Rahmen, innerhalb dessen Wahlen stattfinden, nicht als historischen, d.h. hergestellten und daher veränderlichen bewusst und aus gesellschaftlich produzierten Missständen werden ewige Normalitäten, d.h. zweite Natur.
Und dass sich die Politik innerhalb der kapitalistischen Demokratie und der über ihre Voraussetzungen unaufgeklärten Bevölkerung nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten bewegen kann, das zeigt die Arbeit der „linken“ Landesregierung in Thüringen recht gut.
Rot-Rot-Grün in Thüringen
Zunächst sollte man sich, wenn man sich die Arbeit der Landesregierung aus emanzipatorischer, also kommunistischer Perspektive betrachtet, von einem Gedanken verabschieden. Nämlich dem, dass irgendwas an dieser Landesregierung, ihrem Selbstverständnis, ihrer Politik sozialistisch sei. Das mag als Leerformel noch im Programm der Linkspartei und, besser versteckt, im Programm der SPD stehen. Allerdings haben diese Selbstverortungen keinerlei programmatischen Gehalt; es sind bestenfalls Anachronismen aus einer vergessenen Zeit. Wir haben es mit einer durch und durch sozialdemokratischen Regierung zu tun, deren Anspruch Bodo Ramelow in einem Slogan zur Wahl 2014 wie folgt zum Ausdruck brachte: „Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen.“ Sprich: Sozialdemokratische Feinjustierung im Ausbeutungsbetrieb statt diesen zur Debatte zu stellen. Vergegenwärtigt man sich diesen Sachverhalt, verhindert man Enttäuschungen. Etwa dann, wenn man sich auf die Suche nach Ansätzen macht, wo die Landespolitik der vergangenen 5 Jahre zumindest einen verhaltenen Schimmer besserer Verhältnisse aufscheinen ließ.
Verpasste Chancen
Wo hätte das passieren können? Was hätte eine linke Landesregierung bewirken können? Sie hätte zum Beispiel die staatlichen Geldgeber und Förderer von Thüringens Naziszene und des NSU zerschlagen können, indem sie das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz auflöst. Passiert ist das Gegenteil. Durch eine merkwürdige Personalentscheidung wurde das Amt sogar noch aufgewertet, indem der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Stephan Kramer, zum neuen Amtsleiter gemacht wurde. Damit hatte der Thüringer Verfassungsschutz einen mittelmäßig wortgewandten und gesellschaftlich hoch anerkannten Lobbyisten seiner nun eigenen Sache an der Spitze und die Verstrickungen des VS in die NSU-Mordserie rückten in den Hintergrund. Zwar wurde das Amt mit ein paar haushalterischen Einsparungen geneckt, aber diese fünf Jahre R2G überwintert man auch so.
Statt nun weiter Geld in die Naziszene und ihre Unterstützer zu pumpen, hätte man Geld für Aufklärung und emanzipatorische Bildung frei machen können. Wie? Indem man Institute, Stiftungen, Institutionen der Jugend- und Erwachsenenbildung aus dem Boden stampft (oder zumindest massiv unterstützt), die kritische Theorie betreiben, fördern und an ihrer Wirkmächtigkeit arbeiten. Wer Verhältnisse ändern will, muss das Bewusstsein der Menschen ändern, die in diesen Verhältnissen leben. Und ein paar Jobs für gesellschaftlich überflüssige marxistische Akademiker wären dabei sicher auch noch abgefallen. Was tat man stattdessen? Man schuf diesen lausigen zivilgesellschaftlichen Verfassungsschutz mit dem Namen „Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft“ in Jena, der Kooperationsprojekte mit der Stabsstelle für Extremismusprävention der Polizei durchführt, statt über die Rolle dieser Institution im Staat in gesellschaftskritischer Absicht aufzuklären.
Und last but not least (das waren jetzt nur drei Punkte, die Zeichenzahl meiner Texte wird von Teilen der Lirabelle-Redaktion arg begrenzt) hätte diese Landesregierung, die bei jeder kostenneutralen Gelegenheit den menschelnden Mitmenschlichkeitsförderer gibt, ein Fanal der Menschlichkeit abfeuern können, indem sie, statt sich auf Bundesrecht herauszureden, nicht mehr abschiebt. Vielleicht wäre damit die Regierung schneller am Ende gewesen, weil sie der Mob weggestürmt hätte. Aber sie hätte die Fronten klar gemacht zwischen dem ekelhaften Scheißpack, dem jeder Mord recht ist, die eigenen Privilegien abzusichern und denen, die die Interessen der Entrechteten und durch die globalen politischen-sozialen Verhältnisse Verwahrlosten, also die Interessen der Menschheit vertreten. Erstere, das Nazipack zumal im Osten, mögen in der Übermacht sein, aber das ist kein Grund diesen Kampf nicht zu führen. Der Widerstand der Landesregierung gegen die Fortsetzung der Abschiebemaschinerie währte nicht lange. Im Jahr 2014 stritt man sich noch darum, ob man aus humanitärer Rücksichtnahme nicht im Winter auf Abschiebungen verzichten solle. Sodass sich der Unterschied zwischen einer rechten und einer linken Landesregierung in der Frage des Schutzes der Schwächsten derart darstellte, dass die einen nur im Frühling, Sommer und Herbst abschoben und die anderen auch im Winter. Das ging bis 2015 „gut“, dann wurde auch dieser Widerstand gebrochen. Jetzt wird auch in Thüringen 24/7 „zurückgeführt“, wie die Exekutivarschlöcher das nennen.
Nicht auf die große Theorie herausreden
An dieser Stelle könnte ich es mir einfach machen, mich an die Seitenlinie stellen, einen Strich unter das Elend „linker“ Realpolitik ziehen und resümieren: lassen wir‘s lieber. Aber was ist die Alternative? K-Grüppchen, die sich mit anderen K-Grüppchen um die richtige Marx-Auslegung streiten? Im Wald verstecken und darauf warten, dass die Herrschenden den Planeten, hoffentlich mit Ausnahme meines Waldstücks, unbewohnbar machen? Oder der Klassiker: Rückzug ins Private, d.h. Familie gründen, Eigenheim kaufen, Adorno vergessen und die Resignation mit moralischer Überlegenheit als einzige Alternative zum Mitmachen verkaufen? Besser nicht.
Von Max Horkheimer ließe sich lernen, dass das Verschmähen der Verbesserungen im Kleinen oder der Unterstützung sozialer Kämpfe, selbst wenn sie nicht die soziale Revolution als Ziel ausgeben, keine Alternative ist:
„Sei mißtrauisch gegen den, der behauptet, daß man entweder nur dem großen Ganzen oder überhaupt nicht helfen könne. Es ist die Lebenslüge derer, die in Wirklichkeit nicht helfen wollen und die sich vor der Verpflichtung im einzelnen bestimmten Fall auf die große Theorie hinausreden. Sie rationalisieren ihre Unmenschlichkeit. Zwischen ihnen und den Frommen besteht die Ähnlichkeit, daß beide durch ‘höhere’ Erwägungen ein gutes Gewissen haben, wenn sie dich hilflos stehen lassen.“
Und tatsächlich gab es unter der rot-rot-grünen Landesregierung, getragen durch die rot-rot-grüne Parlamentsmehrheit, politische Entwicklungen im Kleinen, die durchaus sinnvoll waren.
Was gut war
Was die Landesregierung und die sie tragenden Parteien beim Thüringer Verfassungsschutz versäumten, nämlich dessen Zerschlagung, versuchten sie auf anderen Wegen wieder gut zu machen. In Sachen Aufarbeitung der NSU-Verbrechen agierte der Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtages, getragen von den Abgeordneten der Regierungskoalition, vorbildlich und trug maßgeblich dazu bei, dass das gegen den Widerstand der Verfassungsschutzbehörden ermittelbare Ausmaß dieser Mordserie ans Licht kam. Das mag den einzelnen Abgeordneten zu verdanken sein und nicht der Regierung, aber wären diese Abgeordneten nicht gewählt worden, hätte es diese Aufarbeitung so nicht gegeben. Ihnen gebührt Dank.
Im Jahr 2016 führte die Thüringer Landesregierung als vorvorletztes Bundesland (übrig bleiben Sachsen und Bayern) ein Gesetz für die Bildungsfreistellung ein. Nun ist es Arbeitnehmern in Thüringen möglich, bestimmte Betriebsgrößen und Quoren vorausgesetzt, an bis zu fünf Tagen im Jahr zusätzlichen Urlaub zum Zwecke der Bildung zu nehmen. Der Lohn bzw. das Gehalt werden in dieser Zeit durch den Arbeitgeber weiter bezahlt und Angebote gibt es reichlich. Das heißt, fünf Tage weniger Maloche im Jahr.
Weiter zu nennen wäre die Einführung der Kennzeichnungspflicht für Polizisten, die es ermöglicht Prügelbullen besser zu identifizieren. Das ändert noch nichts daran, dass eine Anzeige gegen Bullen meist mit Gegenanzeigen vergolten wird und in der sicheren Verfahrenseinstellung wegen „ist so gewollt“ endet. Aber es schränkt die Gewalt der Übermotivierten im Polizeistaat etwas ein. Auf weiteren Kleinkram (z.B. Azubiticket, Investitionen in Klimaschutz, Radinfrastruktur, sozialen Wohnungsbau, etc.), der für Einzelne von großer Bedeutung sein kann, gehe ich an dieser Stelle nicht ein; will es aber mal erwähnt haben.
Zum Ende der Legislatur verteilte die Koalition noch ein schönes Geschenk an ihre Wählerschaft, das ich dankend annehme. Sie erklärte den 20. September fortan zum gesetzlichen, d.h. arbeitsfreien Feiertag in Thüringen. Warum den 20. September? Das ist der internationale Kindertag und passte scheinbar gut zu zwei anderen Geschenken für den sich reproduzierenden Mittelstand: die beiden beitragsfreien KiTa-Jahre, die R2G in dieser Legislatur einführte. Ich kann zwar mit Kindern nichts anfangen und mein Mitleid für gebührengeplagte Eltern, die mich in der Öffentlichkeit mit ihren plärrenden Bälgern plagen, hält sich arg in Grenzen. Aber diesen Feiertag nehme ich dankend mit.
Das Wählen kann also, auch aus einer kommunistischen Perspektive heraus, Sinn machen. Weitere Gründe bestehen in der staatlichen Finanzierung von Stiftungen und Infrastruktur, die die sozialdemokratischen Parteien auch freundlich anfragenden antideutschen Kommunisten zu Gute kommen lassen. Im Angesicht einer immer stärker werdenden politischen Rechten erscheint das Wählen sogar einstweilen als geboten. Wer sich aber dem Glauben hingibt, die Wahl einer linken Partei könnte mehr bewirken, als einen zusätzlichen Feiertag hier und etwas freundlichere Arbeitnehmerpolitik da, der irrt. Wahlen in der kapitalistischen Demokratie bedeuten immer auch Zustimmung zum institutionellen Rahmen, zur Fortsetzung der Ausbeutung, der Entfremdung und Verdinglichung. Wer aber nicht oder ungültig oder Deppen wie MLPD, DKP & Konsorten wählt und sich einredet, das sei ein verständliches „Nein“ zu diesen Verhältnissen, das der Ordnung schadet, macht sich lächerlich und er verrät die Verbesserungen im Kleinen, die für Einzelne existentiell sein können. Außerdem verpasst er damit die Gelegenheit, durch die eigene strategische Stimmabgabe den prozentualen Anteil für (proto-)faschistische Parteien zu verknappen, was im günstigsten Fall reale Posten- und Geldeinbußen für diese Parteien bedeuten kann.
Widerspruch zur herrschenden Ordnung erzeugt man nicht durch das Wählen oder Nicht-Wählen, sondern durch (Selbst-)Aufklärung sowie Organisation von Widerspruch im Großen und Kleinen. Es ist die klassische Agnoli‘sche Maulwurfsarbeit, die nie sicher weiß, ob ihre Bemühungen eines Tages Früchte tragen; aber die sich nicht zu schade ist, Verbesserungen im Kleinen anzustoßen, weil sie das Ganze nie aus dem Blick verliert.
Ich werde also am 27. Oktober wieder das kleinere Übel wählen und wenn die Thüringer Sozialdemokraten von links-grün-SPD nächste Legislatur noch den 8. Mai zum arbeitsfreien Feiertag machen, habe ich immerhin wieder einen Tag mehr, dem ich der entfremdenden, verdinglichenden, verdummenden Maloche entkomme und meine Zeit mit Adorno oder Netflix vergeuden kann.