Vom gemeinsamen Starren auf die Endgeräte

Pascal / Gefährderpotential: unbekannt / Ethnie: weiß / Interessen: Punk, Science-Fiction, linke Politik / rezensiert hier das neue Buch von Sybille Berg.

…also die Handlung: Don, Karen, Hanna und Peter finden sich als Heranwachsende in einem neoliberalen Großbritannien der nahen Zukunft für kurze Zeit in einer WG zusammen, um in einem verlassenen Gebäude bei London zu leben und dort Dinge zu tun, die ich dann doch hinter einem Spoiler-Tag verbergen müsste. Aber sowas gibt‛s bei diesen Offline-Medien, die auf Papier gedruckt werden ja nicht. Danach trennen sich ihre Wege wieder.
Eigentlich ist es aber nicht besonders fair mit dieser Beschreibung an ein solches Buch heranzugehen. Erstens gibt es neben der Haupt-Storyline diverse Nebenfiguren und Geschichtchen, an die sich die Autorin im Vorbeierzählen heranzoomt, um so einen sezierenden Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu werfen. Und zweitens ist hier offensichtlich nicht die Handlung der Star, sondern die Art und Weise mit der der dystopische Gesellschaftsentwurf dargestellt wird – vor allem auch sprachlich.
„Das ist die Geschichte von / Don / Gefährderpotential: hoch / Ethnie: unklare Schattierung von nicht-weiß / Interessen: Grime, Karate, Süßigkeiten / Sexualität: homosexuell, vermutlich / Soziales Verhalten: unsozial / Familienverhältnisse: 1 Bruder, 1 Mutter, Vater – ab und zu, aber eher nicht / Sie beginnt in Rochdale. / Fucking Rochdale. Ein Ort, den man ausstopfen und als Warnung vor unmotivierter Bautätigkeit in ein Museum stellen müsste.“
Noch die größten Abscheulichkeiten werden trocken, knapp und völlig emotionslos beschrieben. Die Figuren werden im Telegrammstil mit eher zufälligen Attributen eingeordnet, um anschließend in kurzen Abschnitten mit noch kürzeren Sätzen ihre Geschichten weiterzuspinnen. Gerade diese kalte entemotionalisierte Sprache führt aber zu einer sicher beabsichtigten Wahrnehmung: Was den Einzelnen hier widerfährt erscheint nicht wie individuelle, schreckliche Geschehnisse, sondern wie der gesellschaftliche Normalfall. Ein beschissenes Leben am Rande des Unerträglichen ist nicht die Ausnahme und auch nicht selbstverschuldet, sondern die Regel. Lesbar bleibt das Buch durch das trotz aller Aussichtslosigkeit durchscheinende Augenzwinkern. Unter anderem beinhaltet der Text einige versteckte Botschaften in der namensgebenden esoterischen Programmiersprache Brainfuck.
Damit habe ich ein wenig vorgegriffen. Wenn hier vom Unerträglichen im Zukunftsentwurf der Autorin die Rede ist, meint das folgendes: Die ökonomische Nutzlosigkeit von Großteilen der Bevölkerung führt zu einer Einstufung eben dieser Menschen als überflüssig. Das bedeutet permanente Überwachung, Gängelung, Entmündigung, Beschäftigungszwang mit bürokratischem Unsinn unter ständiger Androhung des Entzugs von minimalen Lebensgrundlagen wie Wohnraum und Gesundheitsfürsorge. Dazu kommen offener Rassismus, allgegenwärtige sexuelle Übergriffe, Hass auf Frauen, Minderheiten und grundsätzlich jegliche sich anbietende Andersartigkeit. Selbst die gesellschaftlich Nutzlosen hegen die Hoffnung, noch jemand unterhalb der eigenen gesellschaftlichen Stellung zu finden den man, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, beschissen behandeln kann. Klingt furchtbar, kommt aber auch irgendwie seltsam bekannt vor.
Der wohl erschreckendste Aspekt des Zukunftsentwurfs ist die auf die Spitze getriebene Individualisierung. Bis auf wenige Ausnahmen handeln die Menschen, ohne sich für die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen auch nur zu interessieren. Dieses Desinteresse am jeweils Anderen zieht sich bis in die Kleinfamilien und (sexuellen) Beziehungen durch. Der Hauptantrieb sich mit anderen Menschen überhaupt abzugeben ist die Hoffnung daraus irgendeinen Vorteil zu ziehen oder es „zum wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtseigenschaften“ kommen zu lassen – die Einvernehmlichkeit spielt dabei oft eine untergeordnete Rolle. Das führt zur absoluten Unfähigkeit aller handelnden Personen sich irgendwie sinnvoll über einen längeren Zeitraum zusammenzuschließen, um sich den Widrigkeiten der Gesellschaft gemeinsam zu widersetzen.
…also eine klassische Dystopie? Irgendwie schon, aber: Auf den ersten Blick entspricht das geschilderte Menschenbild dem in vielen Endzeit-Apokalypse-Geschichten populären „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“ (siehe z.B. Cormac McCarthy – Die Straße). Anders als in diesen Dystopien, die das konkurrenzorientierte und nur auf Eigeninteresse beruhende Verhalten der Menschen in eine nachzivilisatorische Ära verlagern und damit nahelegen, dass dies das „natürliche“ Verhalten der Menschen ist, findet hier die Handlung aber in einer nahen Zukunft statt, die sich nicht so stark von der Gegenwart unterscheidet. Viele Handlungsfetzen orientieren sich an Ereignissen, die vor kurzem durch die Nachrichten geisterten. Die Stadt Rochdale wurde nicht zufällig als Ausgangsort der Handlung gewählt; die Beschreibungen der Amokläufe junger frustrierter Männer und deren Motivation lassen einem im Angesicht der jüngsten Anschläge in Christchurch oder auch Halle die Haare zu Berge stehen. Die „freiwillige“ Überwachung der Bevölkerung, die Unmöglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe ohne ein „Endgerät“, die Zerstörung der Lebensgrundlagen auf diesem Planeten, um ökonomischen Gewinn zu erwirtschaften, das Beitragen aller gesellschaftlichen Schichten zur Aufrechterhaltung der Unterdrückungsmechanismen.
Damit funktioniert der Zukunftsentwurf einerseits als Warnung vor dem, wozu bestimmte Haltungen und Tendenzen unserer gegenwärtigen Gesellschaft in ihrer Konsequenz führen können. Und in Bezug auf das geschilderte Menschenbild ergibt sich daraus auch ein wichtiger Unterschied zu den oben erwähnten Endzeit-Apokalypsen: Das nur am eigenen Interesse orientierte Verhalten der Handelnden erklärt sich nicht dadurch, dass „Menschen eben so sind“, sondern durch eine Gesellschaft, die ihnen ein solches Verhalten nahelegt oder aufzwingt. Somit ist auch die Stoßrichtung der Warnung der Autorin wohl nicht einfach: „Verhaltet euch doch bitte nicht so schlecht zueinander“, sondern eher: „Sorgt dafür, dass die zukünftige Gesellschaft nicht wie eine Zuspitzung der jetzigen aussieht“.
…also lesen, erschrecken, nachdenken und handeln! Am besten in der richtigen Reihenfolge.

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