Sind wir nicht alle links-grün verseucht? – Eine Kritik am pandemischen Ausnahmezustand

Anhand des Strategiepapiers des Bundesinnenministeriums zur Bekämpfung der Corona-Pandemie kritisiert Jens Störfried das aktuelle Krisenmanagement und seine potenziellen Folgen, die auch viele Linke leichtfertig in Kauf zu nehmen scheinen. Damit soll das Bewusstsein gestärkt werden, dass es auch bzw. gerade jetzt Kritik unter anderem an der halben Ausgangssperre und anderen autoritären Maßnahmen, sowie eine Weiterentwicklung unserer Vorstellungen von Solidarität braucht.

Die gesellschaftliche Krise, welche durch die rasche Ausbreitung des Corona-Virus hervorgetreten ist, wird die Handlungsbedingungen emanzipatorischer sozialer Bewegungen auf lange Sicht verändern. Es ist der globale Charakter dieser neuartigen Situation, verbunden mit einer tiefgreifenden Verunsicherung vieler Menschen, die aufgrund ihrer Gefühle des Ausgeliefertseins an einen unsichtbaren, unbekannten Feind, verdrängte existenzielle Ängste anspricht. Ängste sind irrational. Sie bringen Menschen dazu, Klopapier zu hamstern, sich zu Hause vorbeugend einzuschließen, rassistisch oder verschwörungstheoretisch zu werden, sich egoistisch auf die Kernfamilie zu fixieren oder irgendwie helfen und sich korrekt verhalten zu wollen.
Zweifellos bestehen allgemeine Bedürfnisse nach Schutz, Sicherheit, Gesundheit und Heilung bei den allermeisten Menschen. Um diese in einer als schrecklich empfundenen Krisensituation zu gewährleisten, wendet sich ein Großteil der Bevölkerung naheliegenderweise an die staatlichen Institutionen. Im Umkehrschluss verstärkt dies ihre Abwehrhaltung gegenüber Kritik an der bestehenden Herrschaftsordnung. Dass jene zumindest teilweise die Misere mit verschuldet hat, etwa weil die nationalen Gesundheitssysteme wie auch andere öffentliche Güter neoliberal zusammen gespart wurden, kann somit wiederum verdrängt werden. Ebenso, dass durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen all jene sozialen Probleme an die Oberfläche treten, die auch vorher bestanden: häusliche Gewalt, Obdachlosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse, faschistische Bürgerkriegsphantasien, Abschottung der Festung Europa, die Unselbständigkeit vieler Menschen, mit Unsicherheiten umzugehen und dergleichen. Für kritisch eingestellte Menschen bestätigt sich hingegen in der kollektiven Erfahrung des Ausgeliefertseins, was sie auch zuvor schon wussten: Dass Gesundheit, Absicherung und Wohl der Menschen keineswegs im Zentrum des staatlich-kapitalistischen Gesellschaftssystems stehen.
Somit tritt das Paradox hervor, dass der demokratische Staat, die demokratischen Grundrechte und -freiheiten seiner Bürger*innen massiv einschränkt, um der Krise Herr zu werden und sich selbst zu erhalten. Immerhin hätte die „gegenwärtige Krise […] das Potential das Vertrauen in die demokratischen Institutionen in Deutschland nachhaltig zu erschüttern. Dem kann und muss entgegengewirkt werden“ (S. 17 des Strategiepapiers). Die Angst der politisch Herrschenden macht sich nicht am Leiden und Sterben der ihnen Unterworfenen fest, sondern richtet sich auf den befürchteten Vertrauens- und Legitimitätsverlust. Dies wird nicht zuletzt deutlich im Strategiepapier des Innenministeriums, welches am 27.03. bekannt wurde. Darin heißt es unmissverständlich: „Sollten die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie nicht greifen, könnten [sic!] im Sinne einer ‚Kernschmelze‘ das gesamte System in Frage gestellt werden. Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einem völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert“ (S. 8). Zugegebenermaßen erscheint diese Aussicht doch etwas zu optimistisch, denn anarchistisches Denken, Fühlen und Handeln sind mitnichten soweit in der Bevölkerung verbreitet und verinnerlicht, als dass wir uns jener Hoffnung zu leichtfertig hingeben sollten. Vielmehr gilt es aktiv zur Ausbreitung des libertären Sozialismus beizutragen, anstatt auf den Gang historischer Zwangsläufigkeiten zu vertrauen.
Dennoch wird in dieser Aussage deutlich, dass die Bundesregierung, welche dieser Linie weitgehend zu folgen scheint, in der Krisensituation selbst vom Extrem her denkt, um ihre Handlungsfähigkeit zu behaupten, ihre Legitimität zu erneuern und sich aufgrund ihres langfristig angelegten Selbsterhaltungsinteresses auch selbst zu transformieren, sprich: Die Krise als Chance zu nutzen. Nicht von ungefähr lautet daher der Schlusssatz des Papiers: „Nur mit gesellschaftlichem Zusammenhalt und gemeinsam distanziert voneinander kann diese Krise nicht nur mit nicht allzu grossen Schaden überstanden werden, sondern auch zukunftsweisend sein für eine neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat“ (S. 17).
Um dieses Meta-Ziel zu erreichen, gilt es alles dafür zu tun, das „Worst-Case-Szenario“ der Seuche zu verhindern, weil es der deutschen Volkswirtschaft immensen Schaden zufügen würde. „Kommunikation“, „Geschlossenheit“, „Nachvollziehbarkeit“ und die „Mobilisierung“ der Zivilgesellschaft (S. 1f.) lauten daher die Devisen des Krisenmanagements. Hierbei sollten wir uns keinen Illusionen hingeben, wozu dies dient, denn die „deutsche Volkswirtschaft ist eine Hochleistungsmaschine, die Jahr um Jahr ein hohes Maß an materiellen Wohlstand und allen Bürgern zugänglichen öffentlichen Gütern wie einer umfassenden Gesundheitsversorgung und öffentlicher Sicherheit bereitstellt. Ihre Leistungsfähigkeit wird von einem hohen Maß an Arbeitsteilung innerhalb und außerhalb des Landes getragen. Die Voraussetzung dafür ist, dass der überwiegende Teil aller bestehenden Unternehmen und Arbeitnehmern einsatzfähig ist und die Integrität des Gesamtsystems nicht in Frage gestellt wird. Genau dies macht die Volkswirtschaft auch so anfällig wie einen Hochleistungsmotor, denn nur das gleichzeitige Funktionieren all seiner Bestandteile wahrt die Funktionsfähigkeit des gesamten Systems“ (S. 8).
Damit die BRD nicht in den „Abgrund“ (Szenario 4) gerät und möglichst das „lange Leiden“ (Szenario 3) verhindert wird, gilt es das Szenario 2 „Rückkehr der Krise“ anzustreben, da die „Schnelle Kontrolle“ (Szenario 1) als unwahrscheinlich angesehen wird (vgl. S. 9-11). Damit werden weitere Ausgangsbeschränkungen für den Herbst und eventuell das folgende Jahr als wahrscheinlich eingestuft. Solange jedenfalls die Testkapazitäten für das Virus nicht aufgebaut sind, „bleibt nur der ‚Holzhammer‘ (‚The Hammer‘) der starken sozialen Distanzierung, ungeachtet des genauen Infektionszustandes aller Betroffenen“ (S. 8). Sprich, im Grunde genommen ist sowohl politisch als auch medizinisch hoch umstritten, ob die allseits panisch geforderte und pingelig kontrollierte Forderung nach der „sozialen Distanzierung“ überhaupt wesentlich zur Bekämpfung der Pandemie beiträgt. Doch Vorsorge ist besser als Nachsorge. Die gesellschaftlichen Folgekosten dieser Strategie werden in der Rechnung kapitalistischer Verwertungsinteressen und staatlicher Herrschaftslogik allerdings mit keiner Silbe erahnt, geschweige denn erwähnt.
In diesem Zusammenhang stellt sich für linksradikale und andere Akteur*innen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen jedoch die Frage, wie mit den veränderten Handlungsbedingungen, die aus dem Krisenmanagement resultieren, umzugehen ist. Sie bestehen in einem weitreichenden Versammlungsverbot, im Verbot und der Ächtung von Gruppentreffen und Veranstaltungen, der massiven Verlagerung der Organisierung ins Internet, einer moralisch überhitzten Einstellung in Hinblick auf „angemessene“ Verhaltensweisen, sowie dem fast gänzlichen Verzicht auf eine radikale Kritik am Krisenmanagement und den daraus erwachsenden Folgen. Mit dem „USA PATRIOT Act“ wurden nach 9/11 weitreichende demokratische Grundrechte bis heute vollständig außer Kraft gesetzt und 2015 durch den „USA Freedom Act“ weiterhin stillgelegt. Das dahinter stehende sogenannte „Sicherheitsparadigma“ wurde auch in Frankreich nach den Anschlägen auf das Bataclan am 13.11.2015 durch die dortige Notstandsverordnung durchgedrückt (was unter anderem zur Verhinderung des Protestes gegen den Klimagipfel führte) und anschließend ins geltende Recht überführt. Aufgrund dieser Erfahrungen ist davon auszugehen, dass die Einschränkung demokratischer Rechte in den Nationalstaaten weltweit und auch der BRD, keineswegs vollständig zurückgenommen werden. Im Gegenteil, es werden soziale Kämpfe darum zu führen sein, um sie wieder zu gewinnen.
Daher kann die aktuelle Situation aus dreierlei Gründen als pandemischer Ausnahmezustand bezeichnet werden. Erstens ist ihr Anlass eine Seuche, das heißt ein unsichtbarer, unbekannter und tendenziell allgegenwärtiger Feind, den auch die Bundesregierung als solche benannt und den Vergleich mit dem Krieg nicht gescheut hat. Dieses produzierte Feindbild füllt die notwendige Lücke der Gegnerschaft, durch deren Bekämpfung sich die bestehende Herrschaftsordnung zu stabilisieren anstrebt.
Zweitens handelt es sich um eine globale Krise, welche vergleichbar der (weiterhin existenten!) Klimakrise Menschen weltweit ein merkwürdiges Gefühl der Verbundenheit erleben lässt, gleichzeitig jedoch in den meisten Ländern der Gegenwartsgesellschaft zu einem massiven Ausbau von Repression und der Stärkung autoritärer Tendenzen führt. Denn der Autoritarismus entfaltet eine ungeheure Sogwirkung, wo seine Mechanismen (bspw. Tracing von Smartphones, zwangsweise Isolierung von Infizierten und ihrem Umfeld, Einsatz des Militärs im Inland, Manipulation der öffentlichen Meinung etc.) sich als effizient für die Krisenbewältigung erweisen – oder zumindest so dargestellt werden. Obwohl die Pandemie dort bisher nur in sehr geringem Umfang angekommen ist, regiert Viktor Orban in Ungarn seit dem 30. März auf unbestimmte Zeit per Dekret – was einer faktischen Abschaffung der Demokratie gleichkommt.
Sicherlich läuft die Politik in der BRD ihren eigenen Gang. Aufgrund der Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals und der Zuspitzung gesellschaftlicher Widersprüche besteht dennoch auch hierzulande ein hartes Interesse an der Ausweitung autoritärer Maßnahmen und Gesetzgebungen. Dafür bietet nicht zuletzt das Zustandekommen der derzeitigen Krisenbewältigungsgesetze ein anschauliches Beispiel.
Drittens ist der eingesetzte Ausnahmezustand als pandemisch zu bezeichnen, weil er tatsächlich tiefgreifend in das gesellschaftliche Leben hinein wirkt und von nun an prinzipiell immer ausgerufen werden kann. Von dieser Ausnahme her die Souveränität der Herrschaft zu denken, wie der italienische Philosoph Giorgio Agamben es tut, ergibt daher durchaus Sinn. Gerade das macht Maßnahmen wie verhängte Ausgangssperren oder auf einer anderen Ebene die Aufforderung zur „sozialen Distanz“ ja so gefährlich: Sie etablieren tatsächlich graduell bestimmte Verhaltensweisen in der Bevölkerung beziehungsweise verstärken sie. Daher gilt es aus herrschaftskritischer Perspektive eine deutliche Kritik an der sogenannten „Zivilgesellschaft“ zu üben. Es zeigt sich, dass diese tatsächlich als weitreichender Vorhof staatlicher Herrschaft zu verstehen ist, wie Antonio Gramsci theoretisierte. Wenn Menschen sich in ihren Nachbarschaften selbst organisieren und gegenseitig helfen, ist dies in den meisten Fällen allerdings nicht das selbe, wie wenn sie von staatlichen Behörden als „Zivilgesellschaft“ adressiert und damit auch instrumentalisiert werden. So können wir auch deutlich lesen: „Neben umfassender Information und Aufklärung von Seiten staatlicher Behörden, ist der Staat in besonderer Weise auf die zivilgesellschaftliche Solidarität angewiesen. Dieses ‚Zusammen‘ muss mitgedacht und mitkommuniziert werden. Dazu braucht es ein gemeinsames Narrativ (#wirbleibenzuhause, oder ‚gemeinsam distanziert‘ – ‚physische Distanz – gesellschaftliche Solidarität‘) und im besten Fall viele Gesichter (Prominente, Politikerinnen und Politiker, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler), die sich mit der Kampagne identifizieren. […] Die Nachbarschaftsgemeinschaft wird mobilisiert, um mit der Versorgung der Personen in Heimquarantäne mitzuhelfen und um Risikogruppen abzuschirmen. […] diesen Helferinnen und Helfern gilt schon jetzt politisch zu danken und sie zur Verstärkung ihrer Aktivitäten aufzufordern und gleichzeitig für die Eigeninitiative zu loben“ (S. 17).
Bitte das tun wir gern. Und danke an die politischen Strateg*innen, dass sie um das „Worst Case Szenario“ zu vermeiden, gezielt die Urängste von Menschen ansprechen, Kindern Angst machen und vor nicht erwiesenen Langzeitfolgen von Covid-19 warnen wollen (vgl. S. 12). Eine angemessene Entlohnung für die Arbeitenden im Gesundheitssystem oder eine Transformation der Gesellschaft, damit die Bedingungen für ein gelingendes Leben für alle geschaffen werden, wären aber deutlich besser. Dazu müsste allerdings eine soziale Distanz zu Staat und Kapitalismus wieder erlangt werden. Mit dieser Herangehensweise könnten wir neu überdenken, was Solidarität und soziale Freiheit für uns bedeuten und unsere Handlungsfähigkeit auch unter den neuartigen und uneindeutigen Bedingungen wiedererlangen.

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