Empörung ist keine Subversion

„Solidarität mit den Betroffenen rechter Gewalt“ und „Spenden für den Hilfsfonds der evangelischen Kirche“ – das waren die Forderungen, mit denen die Antifa-Demo am 1. August 2020 in Erfurt begann und endete. Minima Moralia und Karl Meyerbeer kritisieren einen zunehmenden Trend: das Ersetzen von Politik durch Moral.

Sag mir, wo Du stehst

„Solidarität mit den Betroffenen“ zielt auf eine Selbstverständlichkeit – darauf, sich situativ auf die Seite der Opfer zu stellen. Verlangt wird dafür nicht viel mehr als das Bekenntnis, auf der richtigen Seite zu stehen. Was kollektiv und gesellschaftlich gedacht riesige und wichtige Fragen sind – Wie können wir solidarische Strukturen schaffen? Wie kann eine solidarische Gesellschaft aussehen? – wird durch die alleinstehende Parole zur Plattitüde: „Gehöre auch Du zu den Guten“. Am 19. Juli hatte eine Horde Nazi-Schläger relativ wahllos eine Gruppe alternativer, junger Erwachsener vor der Staatskanzlei in Erfurt brutal angegriffen. „Solidarität mit den Betroffenen“ meint wenn man zugleich sagt „Gemeint sind wir alle“ nichts anderes, als sich dort zu positionieren, wo man als Antifaschist*in eben steht – ungefähr so weit geht der Gehalt der Forderung. Unspezifisch und beschränkt ist die Aufforderung. Es geht um moralische Positionierung und Empörung. Was fehlt, ist eine Analyse von Ursachenzusammenhängen sowie eine Orientierung auf Vernetzung und Strukturaufbau, die Solidarität jenseits individuellen Bekenntnissen überhaupt erst absichern können.

Der Modus der Moral

Wir sehen eine gewichtige Ursache der kurz geratenen moralischen Anrufungen in der Debattenkultur auf Twitter&Co. Idealtypisch zusammengefasst in der Frage: „Wie kann das sein?“ die in jüngerer Zeit angesichts rassistischer Polizeikontrollen, unzureichend ermittelnder Staatsanwaltschaften und nazi-verhätschelnder Versammlungsbehörden dahin getippt wird. Die der Frage zugrundeliegende Empörung ist gerechtfertigt, aber die Aussage unpolitisch und gefährdet beim Gegenüber ins Leere zu laufen. Wer mit der moralischen Bewertung nicht einverstanden ist, kann die rhetorische Frage wörtlich nehmen und sagen: Die rassistische Polizeikontrolle geschieht auf Grundlage von Art. 13 PAG, die Ermittlung auf Grundlage der Strafprozessordnung und der Naziaufmarsch auf Grundlage des Versammlungsrechts. Und Rassist*innen meinen: POC werden halt kontrolliert, weil sie kriminell oder zumindest verdächtig sind. Die gewollte empörte Reaktion – „Wir sind uns doch einig darin, dass das böse ist“ – bleibt aus, wenn das Gegenüber nicht sowieso schon der Meinung der Empörten ist. Die Intervention läuft ins Leere, sie funktioniert – wie die moralischen Anrufungen der Demo – nur in einem sozialen Kontext, der sowieso schon die Haltung der Fragenden teilt. Es ist kein Wunder, dass diese Art der Kommunikation gerade in den Echokammern des Internets funktioniert, wo sowieso nur Gleichgesinnte gemeint sind. Wird die Harmonie der Selbstbespiegelung gestört, dann wird eventuell verzweift getwittert „Ich könnte kotzen“ und der rechte Troll reibt sich begeistert die Hände. Möglich wird diese Dynamik auch dadurch, dass die moralische Intervention einen wichtigen Schritt überspringt: die Begründung der Empörung.

Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht

Die Struktur der moralischen Intervention ist: Ich sehe etwas und erkenne intuitiv: es ist böse. Das teile ich der Welt mit. Wir denken, dass Empörung nicht genug kritisches Bewusstsein bildet. Menschen bilden sich ihre Meinung in einem Kreuzfeuer verschiedener Meinungsanbieter*innen. Alle arbeiten mit Mitteln, die sowohl auf Affekte als auch auf Vernunft zielen. Beides wirkt. Die affektive Schiene (z.B. die Moral) wirkt eher auf diejenigen, die inhaltlich schon überzeugt sind. Um die zu erreichen, die sich noch nicht für die richtige Seite entschieden haben oder die man länger gewinnen will, ist es nötig, die eigenen Gründe mit zu liefern. Statt „Was ist da los?“ wäre unseres Erachtens besser: Was ist da los? Warum ist es verkehrt? Was ist das System dahinter? Wie können wir es ändern? Hinter rassistischen Kontrollen und parteilicher Justiz steht ein bürgerlicher Staat. Mit dem Gewaltmonopol nimmt er sich das Recht heraus, Grenzen, Ordnung und Kapitalinteressen zu schützen – mal mehr und mal weniger offen gewalttätig. Auf dieser Grundlage macht die Forderung, Polizei und Justiz sollten ihren Job endlich mal richtig machen – oft gehört in den Redebeiträgen der Demo –, unsichtbar, dass dazu auch Abschiebungen gehören. Klar wäre es erfreulich, gäbe es in Thüringen eine starke bürgerliche Zivilgesellschaft, die im Vergleich zur offen-parteilichen Exekutive zumindest für ein rechtskonformes Verhalten der Ordnungskräfte eintreten würde. Wenn Linksradikale so argumentieren müssen sie sich aber darüber klar sein, dass sie so ihren Frieden mit dem Normalbetrieb machen. Deswegen plädieren wir für eine radikalere Kritik an Polizei und Justiz.

Was tun?

Um gemeinsam handlungsfähig zu werden, nützt es wenig, sich gegenseitig darin zu bestätigen, wie schlimm die Welt ist. Nötig ist vielmehr, an der intuitiven Irritation – die teilweise wirklich nur eine Irritation ist, keine Empörung – anzusetzen und eine Deutung anzubieten. Eine Deutung, die auf mehreren Ebenen ansetzen muss. Die theoretische Erklärung muss dabei aber mindestens ebenso wichtig sein wie Betroffenheit. Es geht also sowohl darum, zu erklären, welche systematischen gesellschaftlichen Dynamiken wirken, als auch, was diese für Menschen bedeutet.
Vielleicht noch wichtiger als die umfassendere Kritik und eine Begründung von Zielen und Haltungen ist aus unserer Sicht, eine kollektive Handlungspraxis zu entwickeln. In diesem Kontext bedeutet „Solidarität“ mehr, als sich an die Seite von Betroffenen zu stellen. Es geht darum, solide Strukturen aufzubauen, in denen wir nicht nur artikulieren und analysieren, was das Problem ist, sondern auch dafür sorgen können, dass es nicht länger geschieht. Entscheidend dafür ist nicht, sich situativ zu empören, sondern Rahmenbedingungen zu schaffen, die individuelles solidarisches Handeln jenseits von Heldentum möglich machen und nahelegen. Ohne Strukturaufbau stärken moralische Anrufungen außerdem nur vorhandene Strukturen, schaffen aber keine gegenseitige Hilfe. Konkret gesagt: Die Demo vom 1. August orientiert die Empörten auf die dort angerufenen progressiven Strukturen in Parlament und Zivilgesellschaft. Die zu stärken ist keine ganz schlechte Sache. Aber einer Antifabewegung, die mehr will, als zu zivilisieren, muss darüber hinaus gehen und eigene handlungsfähige Strukturen abseits bürgerlicher Politik und Aufmerksamkeitsökonomie aufbauen.

…statt beleidigt rumzustehen…

Eine weiterer Aspekt der Demo am 1. August kam bisher noch nicht zur Sprache: die weitreichende Abwesenheit der bürgerlichen Zivilgesellschaft. Außer der Anmelderin und der Opferberatung EZRA war diese im Großen und Ganzen abwesend und hat auch nicht zur Demo mobilisiert – obwohl die Forderungen der Demo im Kern die waren, für die auch PDL, DGB, die Kirche und das Plätze-Bündnis politisch stehen: einen bürgerlichen Antifaschismus. Einiges spricht dafür, dass auch für ihr Fernbleiben Moral eine Rolle spielte. Auch wenn Dissens, die Organisator*innen der Demo, sich bisher vor allem daran abgearbeitet hat, andere antifaschistische Kräfte zu denunzieren, was wir strategisch gesehen kritisieren, sehen wir die spiegelbildliche Abgrenzung der Zivilgesellschaft als politischen Fehler. Es ist im Moment mehr denn je nötig, gemeinsam gegen Nazis zu agieren. Das wissen auch die genannte Gruppen und Organisationen. Die Abgrenzung von Dissens war offenbar wichtiger als die politische Strategie. Was besonders merkwürdig ist, weil dieselben Kräfte sonst für den breiten Schulterschluss im Namen der Sache agitieren: „Alle zusammen gegen den Faschismus “ – außer man muss mit denen zusammen auf die Straße gehen, die einen kritisieren.

Fazit

Damit „antifaschistische Selbsthilfe“ kein verbalradikaler Slogan bleibt, müssen wir die reine moralische Empörung genau so überwinden wie die Kritik um der Kritik willen. Stattdessen geht es darum, auszuloten, wie ein handlungsfähigerer Antifaschismus gelingen kann. Aus unserer Sicht gehört sowohl eine partielle Zusammenarbeit unterschiedlicher antifaschistischer Kräfte als der Aufbau von Strukturen der (auch militanten) antifaschistischen und antirassistischen Selbsthilfe dazu, die weniger appellieren und mehr dafür sorgen, dass das, was uns nicht passt, auch nicht mehr passiert.


Am Rande bemerkt: Hinter dem moralischen Diskurs steht eine Weltanschauung, die sagt: „Das war schlimm für mich und deswegen erwarte ich, dass Du dich änderst“. Das ist unter Freund*innen eine angemessene Reaktion. Aber es ist unsinnig zu erwarten, dass politische Gegner*innen oder Gewaltakteure wie die Polizei sich von moralischen Parolen beeindrucken lassen. Außerdem übersieht die Haltung, dass viele Gewaltakteure Gewalt bezwecken und sich durch Moral nicht einfach umstimmen lassen. Und apropos „Niemand soll sich schlecht fühlen müssen“… Wir finden das situative Fühlen reicht als Argument nicht aus. Es gibt durchaus gute Gründe dafür, dass es auch mal unangenehm wird. Auch wir haben Rassismus, Sexismus und Klassenverhältnisse – also für andere äußerst gewaltvolle Strukturen – verinnerlicht oder wirken ungleichen Verhältnissen nicht ausreichend entgegen. Dass wir uns bei Kritik daran situativ schlecht fühlen ist durchaus ok und auch ein Impuls zur Veränderung, den wir uns wechselseitig zumuten können.

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