Glitter up the Geschlechterverhältnisse

Rockstars singen Falsett, im Internet treffen sich nichtbinäre Wesen mit hybridem Begehren und mit dem Synthesizer verschmelzen Mensch und Maschine zum Cyborg. Das Patriarchat ist am Ende. Oder ist der wummernde Synthesizer nur eine Schwanzverlängerung für den Rocker, Archetyp kriegerischer Männlichkeit? Karl Meyerbeer hat zwei sehr unterschiedliche Bücher über Geschlechterverhältnisse in Pop und Rock gelesen.

„Glitter Up the Dark – How Pop Music Broke the Binary“, dieser Titel ist Programm: Sasha Geffen geht davon aus, dass die klaren Ordnungskriterien fein säuberlich unterscheidbarer Identitäten – The Dark, die dunkle Seite der Moderne –, eigentlich nie wirklich aufgehen, sondern ständig durch Abgrenzung neu hergestellt werden müssen, um die heteronormative und weiße Ordnung der Dinge zu erhalten. Dabei entstehen Brüche. Wie diese im Feld der Pop­mu­sik sichtbar werden, ist Gegenstand des Buches. Dessen große Erzählung ist, dass Veruneindeuti­gungen ständig und überall auftreten, diese immer wieder übersehen, marginalisiert oder integriert werden – wobei trotzdem auf lange Sicht die Verbindlichkeit der Normalität abnimmt. Geffens Lesart findet das Nichteindeutige auch bei Künstler*innen, von denen man das nicht erwartet, z. B. den Beatles: Haare, die über den Hemdkragen ragen, seien in den 1960ern in den USA ein klares Zeichen für Femininität und Homosexualität gewesen, ebenso wie Singen und sich sinnlich Bewegen. So kann Geffen auch Elvis‘ Auftritte als Verletzung hegemonialer Männlichkeit deuten. Weil bei den Konzerten der Beatles die Stimmen der kreischenden Teenager die Band übertönt hatten, fand auch dabei – so Geffen – eine Verschiebung statt. Die eigentlichen Stars seien nicht die Musiker, sondern die kreischenden Teenager gewesen. Gelungen sei dies, weil Brian Epstein (der Manager der Beatles), der Welt seinen (schwul begehrenden) Blick auf die vier gutaussehenden Jungs aus Liverpool aufgezwungen habe. Gewährspersonen für die große These der Veruneindeutigung ist für Geffen oft die Gegenseite: konservative Moralhüter, die Elvis, Alice Cooper oder die Beatles als schwul und weibisch beschimpft haben. Punk wird nur aus der US-Perspektive besprochen. Psychedelic mag Geffen nicht, Glam um so mehr. Wobei der Erfolg von Rockstars, die sich in knallbunte Gummianzüge quetschen – z.B. Marc Bolan und David Bowie – als kulturelle Aneignung von Drag- und Trans-Kultur kritisiert wird – die trotzdem „eine Transzendenz von Männlichkeit“ bedeutet habe. Veruneindeutigungen findet Geffen auch in Technologien: Verzerrer machen unklar, ob die Töne vom Mensch oder von der Maschine kommen, der Synthesizer wird zur „Erweiterung des Körpers“, Musiker*innen dadurch zu Cyborgs. Es passt also alles rein in die große Erzählung: Die machtvolle Herstellung von Eindeutigkeit bringt ständig Brüche hervor, die zeigen, wie fragil die Normalität ist. Das ist oft plausibel und gut erzählt – interessant beispielsweise, wie stark die New Yorker Wave- und Punk-Szene von den Stonewall-Riots und den Queers rund um Andy Warhols „Factory“ beeinflusst war. Allerdings scheint mir, dass der Gegenstand teilweise ein wenig zurechtgebogen wird, um in die Erzählung zu passen: Bestimmt haben Stings Falsettgesang, David Bowies Kostüme und Iggy Pops sexy Bühnenpräsenz dazu beigetragen, traditionelle Männerbilder zu erweitern und vielleicht auch ihren konstruierten Charakter offengelegt und damit Möglichkeitsräume für Nichtbinäres erweitert. Stings pädophile Texte, Bowies sexuelle Übergriffe und Pops Hypermaskulinität lassen sich aber gleichzeitig geradezu als Ausdruck hegemonialer Männlichkeit deuten. Aber alles, was auch nur ein Wenig mehrdeutig, verschwommen, unklar ist, wird von Geffen als Beispiel für die veruneindeutigende und damit befreiende Kraft des Pop herangezogen. So wird auch der vom Management kalkulierte Skandal der Newcomer-Boy-Band Frankie goes to Hollywood und deren (sehenswert) schwulem Video zu „Relax“ als Befreiungsgeschichte erzählt. Hip-Hop gilt per se als widerständig, weil es eine schwarze Kultur ist und Sampling vielschichtig Bedeutungen dekontextualisiert und dekonstruiert. Und sogar Grunge wird als Geschlechterverwirrung gedeutet, weil Kurt Cobain mal in einem Interview meinte, er habe sich immer besser mit Frauen verstanden als mit Männern. Es mag sein, dass mein Urteil zu harsch ist, weil ich das (englische) Buch nicht immer gut verstanden habe, aber trotzdem: mir geht die Eindeutigkeit der großen Veruneindeutigungs-Erzählung an vielen Stellen zu weit.
Fast eine Gegenthese ist das 1995 auf englisch erschienene und jetzt in einer erweiterten Neuauflage mit zusätzlichen Kapiteln ins Deutsche übersetzte „Sex Revolts“ von Joy Press und Simon Reynolds. Schon im Vorwort beziehen sich die Autor*innen auf ein theoretisches Schwergewicht: Klaus Theweleits „Männerfantasien“ – ein 1977/78 erschienener zweibändiger Wälzer, in dem der Autor zeigt, wie sich in den 1920er-Jahren die protofaschistische Psyche in einem beziehungsunfähigen, agressiven, körpergepanzerten Männlichkeitstyp manifestiert. Auch bei Press/Reynolds haben wir eine starke These, die sich durch das ganze Buch zieht: Rock wird als Geschichte von Abgrenzung und Beziehungslosigkeit erzählt, als egomanische Version von Freiheit. Der Rock-Rebell stößt sich von allem Weiblichen und Mütterlichen ab: von Passivität, Zurückhaltung, Häuslichkeit und sozialen Normen. Sein Alptraum ist ein Einfamilienhaus mit Ratenzahlung. Im diskursiven Universum der Rockstars tauchen Frauen – wenn überhaupt – als hinterhältige und klebrige Agentinnen von Konformität und Anpassung auf, die den Rocker festhalten und damit seiner unbändige Männlichkeit berauben wollen. Dagegen er, alleine, Free as a Bird, Fly Like an Eagle, Like a Rolling Stone. Den musikalischen Ausdruck dieser Geschichte nennen Press/Reynolds Cock-Rock – phallische Musik, die in Präsentation (Gitarren-Masturbation), Musik (wummernder Beat, krachende Riffs, Geschwindigkeit, Lautstärke) und Texten vom Kampf und Tod eine kriegerische Männlichkeit abfeiert. Besonders eindrücklich im Heavy Metal, einer „Phantasiewelt pubertierender Jungs“, „voller Explosionen, Invasionen und keuscher, mädchenfreier Abenteuer“ – oder imaginierter sexueller Gewalt. Iggy Pop wird ausführlich als Paradebeispiel für offen frauenfeindliche, kriegerische, ungebundene Männlichkeit herangezogen – komplett mit Begeisterung für Ronald Reagan und Mordphantasien gegenüber Frauen. Auch die Deutung der quietschbunten Verkleidungswelt des Glam-Rock unterscheidet sich deutlich von der im anderen hier rezensierten Buch: Bolan und Bowie im hautengen Dress und mit Glitter würden, so Press/Reynolds, vor allem zeigen, dass sie sich selbst genug seien und mit ihrem selbstverliebten Auftreten einen zentralen Aspekt von Männlichkeit auf die Spitze treiben: die Selbstbezüglichkeit. Ihre Androgynität zeige in diesem Sinne vor allem eines: dass sie niemanden außer sich selbst brauchen. Eine Gegenbewegung zu dieser ausführlich begründeten Geschichte selbstbezüglicher Männlichkeit sehen Press/Reynolds in „ozeanischer“ und sphärischer Musik: Die wabernden – hier würde „uneindeutigen“ auch passen – Klänge von Psychedelic Rock und Ambient deuten die Autor*innen als Ausdruck einer psychischen Sehnsucht nach Ruhe und Passivität im Uterus: „Mein idealer Lebenszustand wäre der der völligen Inaktivität“, so Robert Wyatt, Sänger der Progrock-Band Soft Machine (und Kommunist). Auch das heute erkennbar auf Schwäche und Passivität zurechtgemachte Männlichkeitsideal im Pop – vermutlich auch das aktuelle, fürchterliche Radio-Gedudel zwischen Deutsch-Pop und Schlager – gehört zu dieser Traditionslinie. Im Grunde sehen Press/Reynolds „zwei Fraktionen, die um die Seele des Rock‘n‘Roll kämpfen: Punks vs. Hippies, Krieger vs. Softies“, als männliche Psychodynamik zwischen Unabhängigkeit durch Muttermord und inzestuöser Wiedervereinigung mit dem Weiblichen. Gerade diese Gegenüberstellung macht deutlich, wie grundsätzlich unterschiedlich die Herangehensweisen der beiden Bücher sind: Press/Reynolds gehen von gegensätzlich und einander ergänzend konstruierten Subjektpositionen (Mann-Frau, Krieger-Softie, dazu die passenden kulturellen Formen) aus und finden diesen Antagonismus natürlich auch überall – kein Wunder, die gegenwärtige Gesellschaft ist ja tatsächlich stark cissexistisch und heteronormativ strukturiert. Geffens Position – das Nichtbinäre – wird von Press/Reynolds nicht gesucht und daher auch systematisch übersehen. Davon ausgehend ist es vielleicht angemessen und politisch richtig, dass Geffen ebenso systematisch – durch Übertreibung – darauf besteht, dass das Nichtbinäre überall ist und auch immer schon war.
Beide Bücher sind nicht nur für Musiknerds interessant. Viele der herangezogenen Künstler kennt man aus dem Radio, die diskutierten Fragen sind für alle relevant, die sich für das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft interessieren. Die angesprochenen Theorie-Kapriolen – Queer-Theory im einen, Psychoanalyse im anderen – werden so sparsam ausgeführt, dass man sie auch überblättern kann, ohne dass die Bücher dadurch unverständlich oder langweilig werden. Für spannende Musiktipps ist „Glitter Up the Dark“ besser geeignet. Die Lektüre von „Sex Revolts“ birgt immer die Gefahr, sich gerne Gehörtes zu vermiesen, weil man mitkriegt, wie patriarchal es funktioniert.

Sasha Geffen: Glitter Up the Dark – How Pop Musik broke the bianry. Austin, University of Texas Press 2020, 254 Seiten, 17,65€.

Joy Press, Simon Reynolds: Sex Revolts – Gender, Rock und Rebellion, Main, Ventil 2020, 472 Seite, 30€.

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