Identitätspolitiken

Karl Meyerbeer findet, dass die Lea Susemichel und Jens Kastner präzise und trotzdem leicht verständlich Ordnung in die Diskussionen um Identitätspolitiken bringen, wodurch es gelingt, mit weit verbreiteten Fehlschlüssen über das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft aufzuräumen.

Um Identitätspolitiken wird viel gestritten. Dabei besteht die häufigste Verkürzung darin, strikt zwischen Klassenkämpfen um soziale Ungleichheit auf der einen und Kulturkämpfen um Rassismus und Geschlechterverhältnisse auf der anderen Seite zu unterscheiden. Dagegen lässt sich einwenden, dass bei dieser „ausschließenden Gegenüberstellung […] die vielen – praktischen wie theoretischen – Verknüpfungen von Politiken der Anerkennung kultureller Differenz mit jenen gegen soziale Ungleichheit übersehen“ (13) werden. Beide finden aber in allen Politikfeldern statt. So ist etwa der Klassenkampf der Arbeiterbewegung undenkbar ohne den identitätspolitisch motivierte Aufbau von Bildungsvereinen, Kneipen und Sportvereinen von und für Arbeiter (ohne *innen). Mit Marx gesprochen ging es darum, von der Klasse an sich (also der sozialstrukturellen Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe, die ausgebeutet wird) zur Klasse für sich (also einer kämpferischen Arbeiterklasse, die um ihre gemeinsame Situation weiß) zu kommen (49). Der gemeinsame Kampf gegen Klassismus – die symbolisch-kulturelle Abwertung von Arbeiter*innen – war in diesem Kontext kein Ersatz für Klassenkampf, sondern Strategie, „Etappe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft“ (14).
Das Buch diskutiert genau diese Verknüpfungen, die hier nur beispielhaft genannt wurden, entlang politischer Bewegungen (Arbeiterbewegung, Black Liberation, koloniale Befreiung, Frauenbewegung, Queer-Feminismus) und deren Strategien.
Dabei gelingt es den Autor*innen durchgängig, eine begründete Position zwischen „zwei Querfronten“ (19) einzunehmen: Zwischen den entschiedenen Befürworter*innen von Identitätspolitik, die dazu neigen, „den gewaltförmigen Konstruktionscharakter von kollektiver Identität zu übersehen“ (ebd.) und den Gegner*innen, die den herrschaftlichen Charakter des Universalismus der Aufklärung übersehen, der es blendend erlaubt, formale Gleichheit mit realer Ungleichheit zu verbinden. Als „Querfront“ bezeichnen die Autor*innen die beiden Verkürzungen, weil die Vertreter*innen der kulturalistische Verkürzung am Ende mit dem BSD für das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ demonstrieren, während das universalistische (und vulgärmarxistische) Lager am Ende mit der AfD „gegen Islamismus“ agitiert.
Neben politischen Strategien diskutieren die Autor*innen sozialpsychologische und philosophische Theorien von Identität und Subjektivität – Kritische Theorie, westlicher Marxismus, Cultural Studies. Ausgangspunkt ist dabei das Dilemma, dass „jede linke Identitätspolitik“ darin gefangen bleibt, „sich notgedrungen positiv auf die Kategorie beziehen zu müssen, die gerade die Grundlage der eigenen Unterdrückung bildet“ (32).
Das Buch ist in elf Kapitel aufgeteilt. Einleitung und Zusammenfassung („gegen Individualisierung, für Solidarität“ (131ff)) lassen sich separat lesen.
Die Kapitel, die einzelne, teils historische, Bewegungen und deren politische Strategien diskutieren, werden unterbrochen durch Theoriekapitel, die aber auch allgemeinverständlich bleiben. Zwei Exkurse diskutieren zum einen das wechselseitige Verhältnis von Sichtbarkeit/Repräsentation und tatsächlicher politischer Macht sowie die Problematik des linken Nationalismus als Übernahme rechter Identitäspolitiken beispielsweise durch PODEMOS oder den nationalen Flügel der PDL.
Wer sich (wie der Rezensent) manchmal ratlos zwischen vulgärmarxistischer Besserwisserei („Der Kapitalismus beutet alle Menschen gleichermaßen aus“, deswegen sollen Frauen und POC sich mal nicht so anstellen) und kulturalistischen Moralapellen („Hört den Betroffenen zu und reflektiert eure Privilegien“) wiederfindet, wird dieses Buch gerne lesen. Obwohl es viel hilfreicher wäre, wenn diejenigen, die sich (mit oder ohne Begründung) ganz sicher sind, dass postmoderne und Queer-Theory schlimm oder Wursthaar auf Kartoffelköpfen böse ist, es lesen und ihre identitäre Nische verlassen würden.

Lea Susemichel, Jens Kastner: Identitätspolitiken – Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster, Unrast 2020, 150 Seiten, 12,80€.

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