Auch in der Lirabelle wird über die aktuellen Politik der moralischen Anrufungen gestritten. Und während ein Teil der Kritiker gegen Befindlichkeiten polemisiert und damit die eigene Subjektivität universell setzt, übersieht eine reine Politik der Moral die Bedeutung von Gesellschaft. Beide Verkürzungen erlauben weder eine gute Gesellschaftskritik noch begründen sie eine radikale Praxis – behauptet Karl Meyerbeer und zeigt auf, wie die zwei spezifische Verkürzungen als Zeitgeistphänomen jeweils auseinander folgen und zudem als Ausdruck geschlechtsspezifischer Subjektivierung funktionieren.
Ausgangspunkt: 1968er-Befindlichkeitskultur
Betrachtet man den Zeitgeist im etwas größeren Maßstab scheint gerade die Befindlichkeitskultur der 68er-Generation wieder sehr angesagt. Duz-Kultur, Politik der ersten Person und selbst gestrickte Wollpulis waren damals Ausdruck dessen, was Herbert Marcuse als „Neue Sensibilität“ bezeichnet hat: Nach dem Scheitern der großen politischen Ziele von 1968 lotet er im Essay „Versuch über die Befreiung“ die emanzipatorischen Potentiale zugewandter Umgangsformen aus. Hintergrund dafür ist die Beobachtung, dass schon damals die Produktivkräfte so weit entwickelt waren, dass im Grunde ein gutes Leben für alle Menschen durchaus möglich gewesen wäre. Als Hemmnis für die ausbleibende Revolution identifiziert er eine durchweg verinnerlichte Moral der Knechtschaft, die es den Einzelnen ermöglicht, „die Aggressivität, Brutalität und Hässlichkeit der etablierten Lebensweise“ überhaupt zu ertragen. Gewichtiger Baustein des „Ertragens“ ist ein sozialpsychologischer Zusammenhang: Wo der Kapitalismus für die Bedürfniserfüllung einzig Waren anbietet, bindet das bürgerliche Subjekt positiven Gefühle – Glück, Freiheit, Autonomie – an diese Waren. Das Glücksgefühl beim Kauf von Tablets und Fernreisen (bei Marcuse: Fernseher und Autos) erzeugt in den Metropolen breite Zustimmung zu einem objektiv zerstörerischen System. Damit ist laut Marcuse „die Konterrevolution […] in der Triebstruktur verankert.“. Aber anders als Adorno und Horkheimer, die den Spontaneismus der 1968er-Revolte vor allem als bedrohlich gedeutet haben, sah Marcuse in diesen Formen von Politik ein revolutionäres Potential. Gegen die verwaltete Welt sollte „das Sinnliche, das Spielerische, die Muße […] Form der Gesellschaft selbst werden“. Eine Politik der Phantasie, Sinnlichkeit und Ästhetik – man könnte sagen: ein Marsch durch die Emotionen – sollte die verinnerlichte Konterrevolution brechen und dazu führen, dass sich das Politische in seiner zerstörerischen Form nicht mehr aufrecht erhalten lasse. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die Neuen Sozialen Bewegungen haben die Gesellschaft verändert und mehr Teilhabe und mehr Offenheit erzeugt, von einem Ende der zerstörerischen Formen kann man aber nicht reden. Spätestens mit dem deutsche Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 unter GRÜNER Beteiligung war klar, dass man trotz Yoga, gewaltfreier Kommunikation und Achtsamkeit Kampfjets auf den Balkan schicken kann.
Zwischenspiel: neoliberales Affektmanagement
Im Mainstream ist die Politik der Emotionen, Gesten und Sensibilitäten 2022 voll angekommen. Vertreter einer eher traditionellen und harten Männlichkeit mussten über kurz oder lang damit leben, dass eine Hart-wie-Kruppstahl-Subjektivität im flexiblen Kapitalismus auf Dauer wenig produktiv ist und die neue hegemoniale Männlichkeit verfeinerter daher kommen muss – was nicht schlecht ist, aber zu merkwürdigen Effekten führt, wenn Menschenschinder und Schreibtischtäterinnen plötzlich verletzte Gefühle als Argument nutzen, wie der BDI-Chef (traditionell ein Posten für NS-Verbrecher), der Streiks als „unsensibel“ bezeichnete. Und das ist nur ein prägnantes Beispiel für ein zeitgeisttypisches Phänomen: Mark Fisher hat 2009 in einem Essay über „Kapitalistischen Realismus“ darauf hingewiesen, dass postmoderne Kultur keine moralischen Vorschriften und Leitbilder vorgibt, sondern eher ein „Regime des Affektmanagement“, bei dem die Zuschauer*innen nicht lernen, Vorgänge moralisch zu bewerten, sondern die angemessenen Gefühle dazu einzunehmen. Recht hat er – leider nicht nur in Bezug auf die Mainstreamkultur, sondern auch in Bezug auf die Linke. Verfolgt man die sehr flachen Debatten auf Twitter, weiß man danach vor allem eins: welche politischen Vorgänge widerlich, ekelhaft und schlimm sind, wen man supporten und was man reflektieren muss – allesamt individuelle, selbstbildende Operationen, die vor allem damit zu tun haben, eine korrekte Haltung und die entsprechenden Affekte zu einem gesellschaftlichen Problem einzunehmen.
Was ist also das problematische am Affektmanagement? Es geht nicht darum die Welt und die Verhältnisse zu verändern, sondern sich selbst und die eigenen Gefühle dazu. Dieser Befund ist weitgehender als der von Marcuse: Während dieser in den Affekten noch einen Rest von Nicht-Vergesellschaftung gesehen hat und demzufolge die Verteidigung des Sinnlichen (gegen das Rationale der verwalteten Welt) als emanzipatorischen Akt deuten konnte, hat die neoliberal-ganzheitliche Adressierung des Menschen die Konterrevolution noch tiefer verankert: die verinnerlichte Konterrevolution erstreckt sich nicht nur über die Bedürfnisse, sondern auch die Affekte der Subjekte.
Gegendiskurs: Objektivistische Verkürzung und zynische Vernunft
Der radikalen Linken war die von den 1968ern gelebte Sensibilitäts- und Betroffenheits-Kultur schon in den 1980er-Jahren suspekt, allerdings ironischer Weise zuerst eher auf einer subjektivistischen als auf einer theoretischen Ebene. Aber mit dem Zerfall der nihilistischen Milieus und dem Niedergang der „Politik der ersten Person“ kommt spätestens in den 1990er-Jahren die objektivistische Theorie wieder: teilweise sektenhafte ML-Gruppen werden zu Stichwortgebern der Postautonomen und der Antifa. Die ideale Theorie dieser „objektivistischen“ Weltanschauung (wie das Pierre Bourdieu schon 1977 genannt hat) ist eine möglichst abstrakte, mit der es gelingt, die unübersichtliche Mannigfaltigkeit der Welt auf wenige, im schlechtesten Falle mechanistisch verstandenen, Prinzipien zu erklären – wobei „erklären“ hier eigentlich das falsche Wort ist, denn das analytische Vorgehen der Besserwisser ist die Ableitung. Wie lässt sich Phänomen XY auf den Warenfetisch, die Kräfteverhältnissen oder die deutschen Ideologie zurückführen? Wenn das die Fragestellung ist, wird kaum etwas neues dabei rauskommen. Theorie dieser Art wirkt beruhigend, weil die vielen Widersprüche in der Betrachtungsweise aufgehoben scheinen und die Leser*innen mit dem guten Gefühl die Zeitschrift zuklappen können, wenigstens zu wissen, wieso die Welt so bekloppt ist, wie sie ist. Gute Theorie wäre es, das Allgemeine und das Besondere immer wieder neu miteinander zu vermitteln statt Beobachtungen in feststehende theoretische Konzepte einzusortieren.
Diese objektivistische Verkürzung wird richtiggehend menschenfeindlich, wenn sie so weit den auch in subjektiven Lebensbedingungen begründeten Befindlichkeiten anderer entrückt ist, dass sie dem eigenen politischen Handeln kein Maßstab mehr sind. Konkret gesagt handelt es sich um das „Es bringt nichts, wenn es konkreten Menschen damit besser geht, so lange die Verhältnisse so sind wie sie sind“-Argument, dass auch in der Lirabelle dann und wann vorgebracht wird. Das Leiden an den Verhältnissen wird somit rationalisiert, was besonders herrschaftssichernd und menschenfeindlich wird, wenn hier z.B. Akademiker*innen über Arbeiter*innen oder Männer über Frauen schreiben – und übersehen, dass ihre eigenen Möglichkeiten, innerhalb der Verhältnisse halbwegs bequem auf wesentliche Veränderungen zu warten, einer partikularen Sichtweise entspringt.
Die objektivistische Verkürzung ist aber nicht nur zynisch, sondern auch nicht geeignet, Gesellschaft zu begreifen: Guckt man sich die verwaltete Welt an, muss man sehen, dass rationale Mittel (also die ständige Suche nach effektiven Mitteln, nach Rationalisierung, wie es im übertragenen Sinne heißt) für einen gänzlich irrationalen Zweck (Kapitalismus) verausgabt werden. Durch eine ganz und gar rationalistische Theorie lässt sich dieser Zusammenhang überhaupt nicht begreifen, wer davon ausgeht, dass der Mensch an Sich ein vernünftiges, Zweck-Nutzen-optimierendes Wesen ist, wird niemals begreifen können, wie es dazu gekommen ist, die gesamte Gesellschaft unter die Knute der Zweck-Nutzen-Optimierung zu bekommen.
Fazit: das Verhältnis spiegelbildlicher Verkürzung
In der feministischen Wissenschaftskritik sind die hier nur kurz angerissenen Kritikpunkte schon länger bekannt, dass sie in der Szene der Bescheidmeier-Linken nicht ankommen, ist kein Zufall. Denn, und da möchte ich zum Verhältnis zweier spiegelbildlicher Verkürzungen kommen, die beiden Verkürzungen entsprechen zwei geschlechtlich codierten Modi des Weltbezugs: Zugewandt und affektiv auf der einen, scheinbar universell und rational auf der anderen Seite. Scheinbar universell, weil auch das Zurechtstutzen der wirklichen Welt auf eine abstrakt-vernünftige Deutung eine partikulare Sichtweise ist, nur eben die derjenigen, die die Regeln machen (und dadurch ihre Sicht als universell verkaufen können). Wirklich begreifen, was in der Welt geschieht, ist nur möglich, wenn man Subjekte und Strukturen begreift, und dabei Affekte, Kontexte und Entwicklungen beachtet. Das nicht-messbare, unvernünftige einfach abzuschneiden macht es vielleicht leicht, eine widerspruchsfreie Weltanschauung vorzulegen, als Gesellschaftskritik taugt es nicht. Während sich die Betroffenheitslinke vor allem damit beschäftigt, wie man sich mit den Verhältnissen fühlen soll, doziert die Besserwisser-Linke darüber, wie man die Verhältnisse deuten kann. Das Solide einer kollektiven Handlungspraxis, welches in der Lirabelle 23 als dringende Notwendigkeit radikal linker Politik herausgearbeitet werden sollte, bleibt auch hier Nebensache. Gerade eine solche aber wäre nötig, wenn man mehr will, als die eigene Haltung zur Welt entweder argumentativ oder aber affektiv gegen Veränderung abzuschotten.