„ich vermisse euch wie sau“

Fritzie empfiehlt das im Dezember 2022 erschienene Buch der Gruppe gata preta, welches sich mit „Flucht, Exil und Illegalität“ anhand des Lebens von Ricardo auseinandersetzt. gata preta erinnern damit zugleich an ihren Freund und Gefährten und berühren die drängende Frage nach einem kollektiven Umgang mit Repression.

In Dresden unter sächsischen Kaltland-Verhältnissen wächst Ricardo in den 1990er-Jahren in der Landeshauptstadt auf. Prägende Faktoren für sein Aufwachsen sind die eigene Betroffenheit von Rassismus, die rechte Hegemonie in Form von rechter Gewalt und dem jährlich stattfindenden Europaweiten größten Naziaufmarsch um den 13. Februar. Dagegen setzt Ricardo, wie viele andere, das Ringen um eine linke Praxis. Er bewegt sich in verschiedenen Szenen: Graffiti, Hausbesetzungen, Antifa. Der Sächsische (Bullen-)Staat verharmlost über Jahrzehnte die anwachsenden und sich verfestigenden rechten Strukturen. Umso bereitwilliger überzieht er Linke, die sich auch militant dagegen wehren mit Repression.
Nach der Räumung eines durch Besetzung errichteten „sozialen Zentrums“ 2004 entzieht sich Ricardo das erste Mal den deutschen Strafvollzugsbehörden, wird letztlich jedoch ein Jahr und acht Tage im Zeithainer Jugendknast verbringen. Rassistische und faschistische Angriffe waren Alltag, bestärkten ihn jedoch in seiner politischen Haltung. Die Erfahrung des solidarischen Kontakts über Briefe und Besuche ließ ihn nach dieser Zeit, andere Gefangene unterstützen. Später machte er Radio bei „Coloradio“, produzierte Musik, war aktiver Teil der Antiglobalisierungsbewegung, vernetzte sich nach Südbrandenburg und baute kollektive Strukturen auf. Später wurde er zentraler Bestandteil des Hausprojekts „Praxis“ in Dresden, das bis 2013 existierte und 2010 einen Brandanschlag sowie 2011 einen der bedrohlichsten Naziangriff erlebte. Kurz darauf razzten die Schweine die Praxis, es lief ein breites 129-Verfahren gegen links. Ricardo organisierte sich daraufhin in der Soli-Gruppe 129 e.V., war weiter in der Roten Hilfe und Antiknastarbeit aktiv. Auf einer unangemeldeten Tekkno-Party 2012 kam es zu Auseinandersetzungen mit den Cops, Ricardo wurde misshandelt und daraufhin mit Verfahren überzogen, am Ende stand die Gewissheit eines weiteren Knastaufenthalts. Er entschied sich dagegen und flüchtete nach Moçambique.
gata preta schildern die Lebensumstände von Ricardo im selbstgewählten Exil Moçambique und geben eine sehr hilfreiche geschichtliche und politische Einordnung. Der Kontakt nach Deutschland findet vor allem per E-Mail statt, im Buch sind einige von Ricardo an seine Freund*innen zu finden. Ein kleines Glossar hilft Sächsische Begriffe und Eigenheiten zu verstehen. Ricardo versucht sich in der anfänglichen Illegalität ein Lebensgrundlage zu schaffen, immer begleitet von der Sehnsucht nach seinen Freund*innen sowie dem Anspruch und den sich ergebenden Widersprüchen weiter politische Arbeit zu leisten. Er bleibt kreativ, selbstbestimmt und widerständig. Ende 2017 erreicht die Freund*innen die Nachricht seines tragischen Todes. Ein Abschiedsbrief existiert nicht.

Exil

Im zweiten Teil des Buches reflektiert die sich aus Freund*innen und Gefährt*innen zusammensetzende Gruppe ihre Bezüge und die Solidaritätsarbeit. Einen festen Zusammenhang habe es in der Vergangenheit nicht gegeben, warum dies so war, ist ebenso Teil der Auseinandersetzung. Eine Gruppe reist 2019 nach Moçambique, trifft enge Bezugspersonen von Ricardo von vor Ort und geht gemeinsam drängenden Fragen nach, deren Antworten nicht alle zu finden sind. Dabei werden die Komplexe Kommunikation, emotionale Unterstützung, finanzielle Hilfe, politische Verantwortung und kollektive Solidarität bearbeitet. Ein Interview mit einem solidarischen Rechtsanwalt gibt Einblick in rechtliche Fragestellungen rund um Flucht, Exil und Illegalität. Ein Ergebnis dieser teils schmerzhaften Reflektionen ist dieses Buch, das viele Anknüpfungspunkte für linke Bewegung enthält.

Illegalität

Um einen Blick über die konkrete Situation von Ricardo hinaus zu leisten, schließen sich Interviews zu weiteren Perspektiven und historischen Situationen an. Wie verhält es sich bspw. wenn einer Person im Fluchtland vor Ort zur Seite gestanden wird? Antworten gibt ein Interview mit einer Person, die einen kriminalisierten, verfolgten Anarchisten unterstützt.
Eine weitere Perspektive gibt ein Interview mit Margrit Schiller, die Teil des Sozialistischen Patientenkollektivs sowie der RAF war und dafür insgesamt fast sieben Jahre im Knast verbrachte. Sie überlebte Isolationshaft, Hungerstreiks und Zwangsernährung. 1985 entschied sie sich als Frau aus dem bewaffneten Kampf allein erst nach Kuba, dann nach Paraquay ins Exil zu gehen, um weiterer Repression zu entgehen. Mittlerweile lebt sie wieder in Berlin.
Peter, Thomas und Bernd sind 1995 zusammen untergetaucht. Sie gehörten der imselben Jahr selbstaufgelösten militanten Gruppe K.O.M.I.T.E.E. an, welcher ein Brandanschlag auf ein Bundeswehrgebäude in Bad Freienwalde sowie der Versuch der Sprengung des im Bau befindlichen Abschiebeknasts in Berlin-Grünau zur Last gelegt wird. Einige Straftatbestände sind mittlerweile verjährt, nicht jedoch die „Verabredung zu einem Sprengstoffverbrechen“, wofür die absolute Verjährungsfrist 40 Jahre beträgt. Die Verfolgung geht weiter, im Interview sprechen Thomas und Bernd über ihre Flucht und das Leben in der Illegalität in Venezuela. Ende 2021 erhielten Peter und Thomas politisches Asyl in Südamerika, Bernd erlebt dies nicht mehr und stirbt im Mai 2021.
Dass sich die linke Bewegung mit dem Thema Knastaufenthalt der Einzelnen auseinandersetzen muss, ist eine aktuelle wie historische Herausforderung und notwendige Aufgabe. Im Knast sitzen die Einzelnen als politische Gefangene – in unterschiedlichen Ländern, in unterschiedlichen gesellschaftlichen Realitäten. Jedes Jahr zum 18. März erinnern Zusammenhänge an die soziale und politische Isolation der unseren und appellieren diese aufzubrechen. Denn politische Gefangene sind einerseits als Teil einer Bewegung in feindlichster Umgebung eingeknastet, anderserseits auch als individuelle geschädigte Subjekt.
Solidarität darf keine hohle Phrase sein, wir müssen uns aktiv mit Repression auseinandersetzen und ehrlich mit Ängsten, Zweifeln und Unfähigkeiten umgehen. Auch damit ein Verrat politischer Überzeugungen und unserer Strukturen keine Option ist.

Danke an alle solidarischen Menschen innerhalb und außerhalb der kalten Knastmauern!

Herzliche Grüße gehen raus an R., der eine ganze Weile abzusitzen hat. Wir denken an dich! Du gehst deinen Weg nicht allein.

gata preta: ich vermisse euch wie sau. Eine Auseinandersetzung mit Flucht, Exil und Illegalität. Immergrün-Verlag, 224 Seite, 12 Euro.

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