Anfang 2023 wurde der Oberlichtsaal der Bauhaus-Universität Weimar besetzt. Einige Aktivist*innen ihnen haben drei Monate später diesen Rückblick geschrieben.
Tag Eins
Es ist Montag, der 23. Januar, 11 Uhr. Überall um den Campus der Bauhaus-Universität ertönen die Sirenen der Megafone. Zu hören sind Sprüche wie: „Die Bauhaus Uni ist besetzt!“, „Wir brauchen radikale Theorie und Praxis!“, „Wir bitten nicht wir handeln!“ und „13 Uhr Vollversammlung im Oberlichtsaal!“. Verteilte Flugzettel klären über den Grundsatz der Besetzung auf. Parallel werden riesige Banner aus den Fenstern des Hauptgebäudes herunter gelassen, darauf steht: „Jin, Jiyan, Azadî!“, „System change not climate change!“, „Weimar hat ein Neonazi Problem!“ Im Hauptgebäude wird ein Infopoint für interessierte Menschen eingerichtet.
13 Uhr. Die Vollversammlung beginnt. Im Oberlichtsaal (OLS – größter Saal im Hauptgebäude) hören sich über 100 Menschen die Verlesung unseres Grundsatztextes an:
Wir haben die Bauhaus-Universität besetzt!
Wir sind Studierende der Bauhaus-Universität, die die bestehenden Verhältnisse nicht länger hinnehmen wollen! Deshalb haben wir das Hauptgebäude besetzt und schaffen so einen Raum für die Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Krisen, ihren Ursachen und Wegen zu deren Überwindung! Kommt vorbei und schließt euch an!…“
Klimakatastrophe, Corona, Pflegenotstand, Energiekrise, Armut… All das bringt die Kapitalistische Wirtschaftsweise hervor, die nicht ohne Kolonialismus, Rassismus, Vermögensungleichheit und Patriarchat bestehen kann. (…) Es reicht nicht, davon zu reden, dass wir die Krise durchstehen müssen, damit alles wieder gut wird. Im Kapitalismus ist die Krise selbst der Normalzustand!(…)
Mit der Besetzung schaffen wir den Raum für die dringend notwendige Auseinandersetzung mit den Krisen, ihren Ursachen und Wegen zu deren Überwindung!(…)
Wir solidarisieren uns auch mit den Uni-Besetzungen, die in den letzten Wochen und Monaten in anderen Städten und überall auf der Welt stattfanden. Insbesondere die Forderungen unserer Kommiliton*innen in Jena und Erfurt unterstützen wir ausdrücklich. Geschlechtergeschichte bleibt! Gegen die Abwälzung der Energiekrise auf die Studierenden!
(…)unsere Hoffnungen auf Veränderung [durch die bestehenden Systeme] wurden immer wieder enttäuscht. Deshalb richten wir uns mit der Besetzung nicht an Autoritäten und Entscheidungsträger*innen. Wir wollen unseren Protest nicht auf ein paar Minimalforderungen reduzieren, die mit einem schlechten Kompromiss abgewiegelt werden könnten. Wir wollen nicht die Illusion einfacher Lösungen für komplexe systemische Krisen erzeugen.
Wenn wir Bitten an eine Institution oder den Staat stellen, reproduzieren und verfestigen wir dadurch Machtstrukturen und begeben uns in eine schwache Verhandlungsposition. Unser Spielraum wäre auf Reformen begrenzt, die innerhalb der Logik der bestehenden Ordnung liegen.“ (…) Stattdessen schaffen wir den Raum, Kritik zu formulieren, Probleme und Ziele zu diskutieren und die Verhältnisse radikal zu hinterfragen. Es geht darum, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Wir müssen uns zusammentun, unsere Komfort-Zone verlassen, uns organisieren, starke Beziehungen und Strukturen aufbauen und den Wandel zu einer gerechten Gesellschaft in der ein gutes Leben für alle möglich ist selbst vorantreiben!(…)
Während der Besetzung gibt es ein Veranstaltungsprogramm, das sich ständig erweitert. Es finden Diskussionen, Lesungen, Workshops, Film-Screenings und vieles mehr statt. Wir haben politische Gruppen von innerhalb und außerhalb der Uni eingeladen, Studierende organisieren Diskussionsrunden, einige Lehrende integrieren ihre Vorlesungen in unser Programm. Außerdem seid ihr alle eingeladen, den Raum zu nutzen, den die Besetzung schafft, um eigene Veranstaltungen durchzuführen.(…)
Kommt zur Besetzung im Hauptgebäude, schließt euch dem Streik an, beteiligt euch an Veranstaltungen, kommt mit anderen ins Gespräch, organisiert eigene Workshops, Demos, Gesprächsrunden, Lesekreise oder was auch immer euch einfällt!
Tag Sieben, es ist Sonntag der 29. Januar
8 Uhr. Der Wecker klingelt. Müde Menschen kriechen aus ihren Schlafsäcken im hinteren Teil des OLS. Der Nachtschicht wird Platz auf der „Comfy-Matratze“ gemacht. Nebenan wird schon Zähne geputzt. Es wird Kaffee aus der Teekanne des Präsidiums verteilt. Mit Brot und Aufstrich schleppen wir uns auf die Stühle zum morgendlichen Plenum. Menschen, die zu Hause geschlafen haben, finden sich ein. Heute Morgen werden Themen besprochen, wie die Kommunikation mit der Unileitung, die Zurückeroberung des Raums 002 und das Weiterverfahren der Besetzung. Das Tagesprogramm wird fix durchgesprochen und ergänzt durch Vorschläge und Angebote aus dem Plenum. Zuletzt wird abgecheckt, ob alle Schichten für Awareness, Küfa und Infopoint besetzt sind. Leider erklären sich hierfür meist nur dieselben Menschen bereit. TO-Punkt fürs nächste Plenum?: Bessere Aufgabenverteilung!
12 Uhr. Im OLS findet eine Diskussion zum Thema „Ziviler Ungehorsam als politische Strategie der Klimabewegung“ statt. In den Fluren gibt es weitere Gespräche über die Erhaltung des Studiengangs „Public Arts“. Das Skillsharing zu Awareness startet. Eine Gruppe plant eine genaue Umsetzung der Zurückeroberung des Raumes 002, unserem solidarischen Austausch- und Arbeitsraum, welcher am Abend vorher von der Unileitung verschlossen wurde.
15 Uhr. Das Awareness Telefon klingelt. Eine Person möchte sich im Ruheraum ausruhen. Unsere Pressesprecher*innen geben gerade ein Interview. Die Küfa (Bild unten) beginnt im Eingangsbereich des Hauptgebäudes zu schnippeln. Zwiebelduft breitet sich aus. Warum so zeitig? 10 Kilo Nudeln brauchen ’ne ganze Weile. Plötzlich hört die Küfa-Gruppe Stimmen aus dem Raum 002. Die Besetzer*innen haben es geschafft den Raum wieder zu besetzen.
19 Uhr. Die Krautnudeln sind fertig, die Köch*innen erschöpft und 120 Menschen satt. Menschen finden sich zusammen um gemeinsame Banner und Plakate zu malen, im Raum 002 zu arbeiten, über aktuelle Krisen zu diskutieren oder an Veranstaltungen, wie dem Demo ABC der Roten Hilfe teilzunehmen. Nach den abendlichen Aktionen findet das Gute-Nacht-Plenum statt. Dort wird der Tag reflektiert, über das persönliche Wohlbefinden gesprochen und der Schichtplan von Awareness und Nachtwache diskutiert. Puh, die Infrastruktur einer Besetzung braucht echt viel Kraft und Menschen. Im OLS werden die Schlafsäcke wieder ausgepackt und ein weiterer aktivistischer Tag geht zu Ende.
Zehn Tage nach Beginn der Besetzung, verfassen die Aktivist*innen ein Abschlussstatement und beenden die Besetzung. Das Statement ist auf der Webseite der Lirabelle verlinkt.
Vier Wochen nach der Besetzung
Die Besetzer*innen haben sich 4 Wochen später zusammengefunden, um darüber zu sprechen, was wir gut fanden und was wir bei weiteren Aktionen besser machen wollen. Was uns an der 10-tägigen Besetzung am meisten gefallen hat?
Der Raum, den wir geschaffen haben, Eigeninitiativen der Besetzer*innen, Transparenz und Gruppendynamik, Platz für eigene Unsicherheiten, Wertschätzung. Wir kamen auch auf einige Punkte, die wir besser machen wollen, um unseren politischen Ansprüchen gerechter werden zu können. Aufgabenverteilung der Care-Arbeit ist einer davon. Menschen machten „strukturrelevante“ Aufgaben, weil sie das Gefühl hatten, dass niemand es sonst tut. Weiterhin ist uns aufgefallen, dass Care-Arbeit auf der Besetzung immer noch tendenziell öfter von FLINTA*-Personen übernommen wird. Wir fragen uns, wie wir für Awarenessstrukturen auch im Alltag mehr Raum schaffen können, sodass Menschen besser aufeinander aufpassen.
Zum Ende der Besetzung haben sich ungefähr zwei Standpunkte ergeben. Der Eine, der konkrete Forderungen stellen will, um etwas zu „erreichen“ (z.B. die Forderung nach einem permanenten eigenen Raum). Der Andere, der das Zusammenarbeiten mit der bestehenden Elendsverwaltung ablehnt und den Erfolg darin sieht, sich die Räume zu nehmen und das eigene Austauschen zu den selbst gewählten relevanten Themen zu ermöglichen. Beide mit der offenen Ankündigung immer wieder unerwartet aktiv zu werden.
Bei den Nachbereitungstreffen konnten wir viele bereichernde Ideen und praktische Ansätze herausfinden, wie wir weitere Aktionen besser gestalten wollen. Wir schauen lächelnd auf das, was es ohne die Besetzung nicht geben würde: die Erfahrung, unfassbar gutes Küfa-Essen, der Aufbau neuer Beziehungen, die Politisierung und Vernetzung in Weimar.
Und vergessen wir nicht: Nach der Aktion ist vor der Aktion. Und wir bleiben so lange in Bewegung, bis wir diese Welt lebenswert für alle Menschen gemacht haben.