Schluss mit dem Theater

Sophie liefert eine kritische Betrachtung des Skandals rund um die Erfurter Gleichstellungsbeauftragte.

Im Oktober 2023 begann der öffentlichkeitswirksame Skandal um die ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Erfurt Mary-Ellen Witzmann mit zwei Zeitungsartikeln in der „Thüringer Allgemeine“. Die weiteren Protagonist*innen der öffentlichen Schlammschlacht sind Andreas Bausewein (zum damaligen Zeitpunkt noch langjähriger Erfurter Oberbürgermeister), Tobias Knoblich (Erfurter Kulturdezernent) und Guy Montavon (der mittlerweile beurlaubte Generalintendant des Erfurter Theaters).

Mary-Ellen Witzmann machte in besagtem TA-Artikel sexualisierte Übergriffe und Machtmissbrauch am Theater Erfurt öffentlich. Zuvor hatten sich Betroffene mit dem Wunsch nach Unterstützung an sie als offizielle Ansprechperson gewendet. In diesem Zuge fand sie heraus, dass übergriffiges Verhalten gegenüber dem weiblichen Personal am Theater Erfurt schon lange stattgefunden hatte und auch ihrer Amtsvorgängerin Birgit Adamek gemeldet wurde. Diese hatte seit dem ersten gemeldeten Fall im Jahr 2007 im Großen und Ganzen nichts getan. Es lässt sich nur mutmaßen, dass die Vorfälle in Absprache mit der Stadtspitze rund um Andreas Bausewein unter den Teppich gekehrt wurden. Als Frau Witzmann nun die Vorgänge am Theater an die Öffentlichkeit brachte, reagierte die Stadt prompt mit einer fristlosen Kündigung. Begründung: Diese Form der Öffentlichkeitsarbeit falle nicht unter die Aufgaben einer kommunalen Gleichstellungsbeauftragten. Sie habe ohne vorherige Absprache gehandelt und ihr Amt somit missbraucht. Der Fall schlägt Wellen, denn bundesweit sind die Verantwortlichkeiten von Gleichstellungsbeauftragten rechtlich nicht klar genug geregelt. Viele Gleichstellungsbeauftragte und ihre Vorgesetzten schauen gespannt nach Erfurt, denn was hier verhandelt wird, könnte als Vorlage für andere dienen.

Andreas Bausewein reagierte auf die Veröffentlichung der Vorfälle mit einer klaren Abwehrhaltung , Tobias Knoblich ließ etwas später mitteilen, dass sich aufgrund laufender Verfahren niemand äußern könne und schiebt ebenfalls jegliche Verantwortung von sich.

Zu einem späteren Zeitpunkt teilte das Rathaus mit, dass der für den Fall angefertigte Bericht vorerst nicht veröffentlicht wird – einerseits um die persönliche Daten aller Beteiligten zu schützen und andererseits um Klagen vorzubeugen. Außerdem seien die darin formulierten Vorwürfe sowieso (bis auf einen) nicht strafrechtlich relevant und/oder verjährt. Besonders unsympathisch äußerte sich auch der Anwalt von Guy Montavan: Für ihn gebe es keine „Vorfälle“, außerdem fragte er nach konkreten Anhaltspunkten, nach straf- rechtlicher Relevanz und dem Nachweis eines persönlichen Fehlverhaltens seines Mandanten.

Darüber wie es mit Guy Montavons Position am Theater weitergehen kann, hatten Bausewein, Knoblich, er selbst und diverse Anwält*innen lange nachgedacht. Es wurde hin und her überlegt, zunächst sollte er im Amt bleiben oder zumindest weiter als Berater tätig sein, plus nach seinem offiziellen Vertragsende eine Abfindung von sechs Bruttomonatsgehältern bekommen, bis sich schließlich darauf geeinigt wurde, dass Montavon zunächst in die bezahlte Beurlaubung geschickt wird. Der Umgang mit Guy Montavon und Mary-Ellen Witzmann könnte unterschiedlicher nicht sein. Während sich bezüglich Guy Montavon große Gedanken gemacht und die Vorfälle am Theater als „unschöne und teils schwer nachvollziehbare Situationen“ bezeichnet wurden, wurde Mary-Ellen Witzmann ohne mit der Wimper zu zucken fristlos gekündigt. Für sie gibt es keine Abfindung. Im Gegenteil: Durch die fristlose Kündigung hatte sie die ersten drei Monate danach nichtmal Anspruch auf Arbeitslosengeld. Wegen dieses Umgangs mit ihr ist Frau Witzmann vor Gericht gezogen. Die Stadt will die Kündigung, Frau Witzmann will ihren Job und ihren Ruf zurück, denn auch sie ist durchaus karriereorientiert. Bisher (Stand Juni 2024) gibt es keine Einigung im „Fall Mary-Ellen Witzmann“; der zuletzt angesetzte Gerichtstermin wurde in den Herbst 2024 verschoben.

Nun steht die Stadt Erfurt also schon seit über einem halben Jahr ohne Gleichstellungsbeauftragte da. Ach nein! Irgendwer muss es ja machen und da wird die Behindertenbeauftragte halt mal eben auch noch Gleichstellungsbeauftragte. Die zwei weiteren Mitarbeiter*innenstellen im Gleichstellungsbüro müssen auch erstmal nicht besetzt werden (das waren sie vorher ja auch schon nicht), dafür sollte man erstmal abwarten was beim Gerichtsverfahren gegen Frau Witzmann rauskommt. Dieser Umgang mit dem Gleichstellungsbüro der Stadt zeugt von der kalten Ignoranz die den Anliegen von FLINTA*-Personen vonseiten des Rathauses entgegengebracht wird. Dass die Gleichstellungsbeauftragte beispielsweise für Betroffene ansprechbar sein soll und außerdem noch viele Frauenprojekte mitzuverwalten hat, wird offensichtlich nicht als wichtige Arbeit, für die es Zeit und eine entsprechende Ausbildung braucht, bewertet. Stattdessen wird dem gesamten Themenkomplex „Gleichstellung“ hämisch lachend der Rücken gekehrt. Und damit ist nicht nur die Gleichstellung der Geschlechter gemeint, sondern auch die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, denn auch hier werden durch die Doppelbesetzung Kapazitäten eingebüßt.

Der öffentliche Fokus im Skandal rund um Mary-Ellen Witzmann liegt klar auf dem Streit rund ums Thema Arbeitsrecht zwischen der Stadtspitze und Frau Witzmann. Mal wird Frau Witzmann als gefallene und dennoch stets kampfbereite Heldin dargestellt. Mal dreht sich ein Zeitungsartikel um die Sichtweise der Stadtspitze und ihre Enttäuschung über den „Verrat“, den Frau Witzmann begangen hat. Die Täter-Opfer-Umkehr lässt grüßen. Wobei das „Opfer“ hier Frau Witzmann ist und nicht etwa die Betroffenen. Es geht um Frau Witzmanns Karriere, es geht um Guy Montavons Karriere. Und alle Beteiligten sorgen sich um ihren guten Ruf. Bei der Kommunalwahl hat der „Skandal“ Andreas Bausewein vielleicht die ein oder andere Wähler*innenstimme gekostet, während Andreas Horn sich dahingehend im Wahlkampf als „der Gute“ in Szene setzen konnte. Er hatte die Situation mit Frau Witzmann sogar als einen Punkt in seinem 10-Punkte-Plan vermerkt: Er hoffe auf eine gütliche Einigung und schließe eine Wiedereinstellung nicht aus. Auch hier scheint es vor allem ums gute Image und eine Abgrenzung zur Konkurrenz im Wahlkampf zu gehen, während die Perspektive der Betroffenen dagegen unterging.
An dem gesamten Vorgang lässt sich ein ganz typischer Umgang mit sexualisierter Gewalt erkennen: Man könne nichts sagen, bis nicht alles geprüft und geklärt sei und außerdem gehe es hauptsächlich um den Dienstmissbrauch der Gleichstellungsbeauftragten, wobei die Protagonisten der Stadtspitze die Leidtragenden seien.

Diese Diskursverschiebung weg von den Betroffenen und weg von den sexistischen, männerbündischen Strukturen und hin zu einer öffentlichen Schlammschlacht von Kommunalpolitiker*innen gilt es scharf zu kritisieren. Es kann nicht sein, dass Betroffene wieder einmal auf der Strecke bleiben, dass wieder einmal öffentlich jegliche Schuldfragen von sich gewiesen werden, dass wieder einmal Übergriffigkeiten als „strafrechtlich nicht relevant“ abgetan werden und das alles ohne, dass es jemand mitbekommt, weil alle Augen nur darauf gerichtet sind, wer das nächste Tor im „wer hat Recht“-Spiel schießt. Der mediale Diskurs befeuert dies, statt mal ausführlich darüber zu berichten, wie die Strukturen eigentlich genau aussehen, die jahrelangen Machtmissbrauch möglich gemacht haben. Betroffene kommen nicht zu Wort, ihre Stimmen werden nicht groß gemacht. Es ist natürlich vollkommen in Ordnung, wenn die Betroffenen selbst sich nicht bereit fühlen, öffentlich über ihr Erlebtes zu sprechen. In diesem Fall wäre es aber zum Beispiel möglich mit Betroffenen-Beratungsstellen über die psychischen und existenziellen Auswirkungen zu sprechen, die Betroffene zumeist noch jahrelang mit sich tragen. Auch ein Verweis auf mögliche Anlaufstellen am Ende eines Artikels wäre äußerst begrüßenswert.

Es gilt Betroffene solidarisch zu unterstützen und ihnen (und allen Anderen) zu zeigen, dass ihnen geglaubt wird und Menschen hinter ihnen stehen. Es gilt gemeinsam gegen den sexistischen Normalzustand zu kämpfen und das Thema groß zu machen. Wo ist eigentlich die Erfurter radikale Linke in solchen Momenten? Sexistische, männerbündische Strukturen agieren direkt vor der eigenen Haustür und wieder einmal sind es die ewig selben (hauptsächlich FLINTA*-Personen), die sich beim Versuch, feministische Themen auf die Tagesordnung zu setzen, die Zähne ausbeißen. Der Aufschrei, dass es jahrelangen Machtmissbrauch am Erfurter Theater gab und männerbündische Strukturen in der Stadtspitzenpolitik der Normalfall sind, blieb weitgehend aus.

Es bleibt spannend: Das große Kommunalpolitikspektakel geht in teils neuer Besetzung weiter. Doch im Endeffekt bleibt es dabei, dass wir uns selbst um einen konsequenten feministischen Kampf kümmern müssen – denn weder Mary-Ellen Witzmann noch Andreas Horn werden das in naher (oder ferner) Zukunft für uns erledigen.

Anlaufstellen für Betroffene in Erfurt:

  • Frauenhaus Erfurt
  • Interventionsstelle Erfurt
  • Brennessel – Beratungszentrum gegen Gewalt an Frauen
  • Antisexistischer Support Erfurt

Anlaufstellen für Betroffene in Weimar:

  • Frauenzentrum Weimar
  • Kinder- und Jugendschutzdienst Känguru

Anlaufstellen für Betroffene in Jena:

  • Frauenzentrum Towonda
  • Frauenhaus Jena
  • Kinder- und Jugendschutzdienst Strohhalm
  • Frauenfachberatungsstelle Jena bei häuslicher Gewalt
  • Beratungsstelle Seerose

Anlaufstellen für Betroffene in Gera:

  • Kinder- und Jugendschutzdienst Gera
  • feministisches Kollektiv Gera
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