Moralische Überlegenheit am Abgrund – Die Thüringer Zivilgesellschaft im Kampf für Heimat und Gewissen

Die Antifa ist so überflüssig und deswegen so gefragt wie nie. Die Zivilgesellschaft, allen voran die Thüringer Bürgerbündnisse gegen Rechts, die sich vorwiegend aus den sozialdemokratischen Parteien und Organisationen rekrutierten, und der Filz aus dessen Umfeld, haben das Hauptkampffeld der Antifa übernommen. Selbst in Käffern wie Kirchheim und Ballstädt, die die örtlichen Gutmenschen1 längst in Wehrdörfer verwandelt haben, braucht es die Antifa nicht mehr um Protest gegen Nazis zu organisieren. Die Schlussfolgerung, die Bürger hätten endlich verstanden und machen jetzt selber, ist naiv. Die Proteste gegen Naziaufmärsche und -zentren sind unter der Regie der Parteikader zu Werbeveranstaltungen für die Gesellschaft verkommen, die die Nazis hervorbringt. Antifaschistische Kritik ist nur noch im Widerspruch gegen diese Farce zu haben. Von Fabian & Ox Y. Moron.

Für ihren Bundesparteitag am 18. Januar benötigte die NPD zwei Anläufe, da in Saarbrücken kurzfristig der Nutzungsvertrag für die Lokalität gekündigt wurde. Die Nazis mussten sich umorientieren und wichen nach Kirchheim aus. Die Panne aus Saarbrücken steht in einer Reihe von Zerwürfnissen, Spaltungen und Skandalen, die die Partei seit geraumer Zeit von einer Krise in die nächste stürzt.

Die Thüringer Zivilgesellschaft lief nach Bekanntwerden des NPD-Besuchs zu Hochtouren auf. Schließlich könne es nicht angehen, dass der Ilm-Kreis als Versammlungsstätte für Extremisten diene, wie es Stefan Landmann von der SPD im Vorfeld formulierte. So versammelten sich in Kirchheim auf der einen Straßenseite die NPD-Delegierten und auf der anderen der zivilgesellschaftliche Heimatschutz. Getrennt wurden beide Seiten nicht durch Polizeiketten oder Ordner, sondern durch eine auf dem Boden gezogene weiße Linie. Diese Linie, so die Absprache mit der Polizei, sollte während der Gegenkundgebung nicht überschritten werden. Wer das doch tat, wurde von der Polizei oder deren Hilfskräften mit Ordnerbinden wieder zurück geschickt. Eine angenehme Stimmung herrschte zwischen Polizei und Protestierenden. Als einige Antifas versuchten näher an das Gelände heran zu kommen und dabei von der Polizei aufgegriffen wurden, interessierte das den Anmelder und den Rest der angereisten Nazigegner wenig. Es wäre auch ungünstig, wenn die Mittelfinger-Show von Wirtschaftsminister Uwe Höhn2 und das Strammstehen vor der Presse durch einige schwarz gekleidete Jugendliche gestört worden wäre. Bei einem so großen Ereignis und dem zu vermutenden Presseauflauf durften die Vertreter der Thüringer Politik nicht fehlen. Schließlich will jeder einmal in die Kamera „Nazis raus!“ brüllen oder in der Zeitung zitiert werden. Nachdem die SPD sich mit einem großen Transparent an den Anfang der Kundgebung stellte, wurde diese wieder zur Seite verwiesen, da die Bürgerbündnisse hier die Hoheit beanspruchten. Die Frontplätze mit Aussicht auf ein gutes Pressefoto waren noch heißer umkämpft als die Redezeiten. Im 5-Minutentakt gaben sich die Funktionäre das Mikro in die Hand und klopften sich auf die Schultern, ganz ergriffen angesichts der durch bloße Masse der politischen Prominenz angezeigten moralischen Überlegenheit dieses Unterfangens. Beim Meet & Greet gegen Nazis kamen Parteien und Organisationen, die sonst erbittert um Posten, Ministerien, Zuweisungen, Planstellen, Zeitungsspalten, Sendeminuten, etc. konkurrieren, einträchtig zusammen. Und das sollte Antifaschisten stutzig machen: Denn wenn man in Deutschland – in freilich historisch tragenderen Momenten als diesen – keine Parteien mehr kannte, sondern nur noch Deutsche, dann bahnte sich stets Unheil an.

In Kirchheim demonstrierten die Zivilgesellschafter gegen Rassismus und verstanden darunter Vorurteile gegen Schwarze oder Roma. Gegen die Abschiebung und Drangsalierung letzterer hatten viele von ihnen jüngst zwar wenig einzuwenden, aber wehe die NPD formuliert als Forderung, was bei SPD und CDU längst Maß der aktuell betriebenen Politik ist („Mehr Geld für die Oma statt für Sinti und Roma“). Probleme von Flüchtlingen sind aktuell nämlich weniger die faschistischen Übergriffe auf sie – eine freilich niemals zu unterschätzende Gefahr –, als die materiellen Probleme, die ihnen der Staat durch Unterlassung von Hilfeleistungen, Drangsalierung3 oder durch die Abschottung gegen sie besorgt und von denen der gutmenschelnde Protest in Kirchheim und anderswo gerade ablenkt, wenn die Nazis zwar als Bedrohung für Nicht-Deutsche – was sie unzweifelhaft sind – dargestellt werden, während aber die Gefahr, die vom ganz gewöhnlichen deutschen Regierungs- und Verwaltungshandeln ausgeht, eine untergeordnete Rolle spielt und allenfalls in der nie weiter spezifizierten Plattitüde vom Rassismus in der „Mitte der Gesellschaft“ untergeht. Propagiert werden von den Parteikadern4 allzu oft ausschließlich kostenneutrale Formen von Ausländerfreundlichkeit: Wenn im Asylbewerberheim die Scheiben eingeschmissen oder Flüchtlinge krankenhausreif geschlagen werden, dann verurteilt das die Gesellschaft der Steuerzahler und Verfügenden, weil sie die Kosten für die Scheiben und den Krankenhausaufenthalt zahlen muss. Wenn die Flüchtlinge aber von unverschämt wenig Geld leben müssen oder gar nicht erst ins Land gelassen werden, interessiert das nur noch Wenige. Beim Geld hört die Freundschaft auf, wird sich der Stinkefinger-Minister denken.

Den bisherigen Gipfel der gutmenschlichen Borniertheit markiert der Aufruf der Thüringer Bürgerbündnis-Vernetzung zum Protest gegen „Nationalstaatlichkeitspropaganda“ (!) in Kirchheim. Vermutlich ging es ihr um Nationalismus, aber wer weiß das schon. Der Leitsatz solch ausformulierten Unsinns lautet, mit einem Satz von Karl Kraus: „Es genügt nicht keinen Gedanken zu haben, man muss auch unfähig sein, ihn auszudrücken.“ Der Zivilgesellschaft scheint jede der Realität standhaltende Vorstellung dessen zu fehlen, was sie da tut und wofür sie überhaupt eintritt. Nur so ist noch zu erklären, dass Funktionäre aus den staatstragenden Parteien Phrasen vom solidarischen Europa und gegen Nationalstaatlichkeit in die Welt schreien, während der eigene Parteiapparat andernorts das Spardiktat über Griechenland verhängt und die Festung Europa ausbaut. Diese an Schizophrenie grenzende Borniertheit ist das Berufsethos jedes Phrasen schwingenden Zivilgesellschafters, der meint verteidigen zu müssen, was bereits jeder Substanz entbehrt und was das eindeutige Gegenteil der aktuellen Verhältnisse ist. Die Idee eines solidarischen Europas muss nicht in Kirchheim vor der NPD verteidigt werden, da die Partei derzeit höchstens Stichwortgeber ist; von Rassismus sollte nicht reden, wer Abschiebungen vorrangig dann problematisch findet, wenn sie die NPD fordert und nicht, wenn sie die Polizei auf Geheiß der Politik exerziert; und wie kann gegen Nationalstaatlichkeit vorgehen, wer am Staat mitwirkend nichts zu bemängeln hat, als seine lasche Verbotspraxis gegen seine Gegner. Gerade in dieser Leugnung der Realität ähneln sie wieder den Nazis, die ebenso dem Wahnsinn verfallen sind, der objektiv herrscht anstatt noch den verzweifelten Versuch zu wagen, ihn zu begreifen. Vielleicht liegt ja hierin eine Erkenntnis über das Gutmenschentheater: Die heruntergekommenen Vorstellungen von Menschlichkeit, die den Protest angeblich motivieren, lassen sich nur noch gegen die Realität behaupten: Von Solidarität kann der Sozialdemokrat nur noch im Wahn reden, weil es in der herrschenden Politik, die die seine ist, keine mehr gibt.

Beim Parteitag der chauvinistischen „Alternative für Deutschland“ (AfD) am 1. Februar in Arnstadt, zwei Wochen nach dem Kirchheim-Spektakel, hatte die Zivilgesellschaft die Möglichkeit ihrer Phraserie etwas mehr Gewicht in der Realität zu verleihen. Sie tat es nicht.5 Zwar ist die AfD, was ihre politischen Einflussmöglichkeiten angeht, durchaus als gefährlicher einzuschätzen als die NPD, nur geht es der Zivilgesellschaft vorrangig offenbar eben gar nicht um die Bekämpfung der Gefahr, die von nazistischer Ideologie ausgeht – sofern sie überhaupt einen Begriff davon hat. Deswegen misst sich die Stärke ihres Protestes auch nicht an einer rationalen Einschätzung ihres Gegenstandes, sondern sie bemisst sich offensichtlich vielmehr an der medialen Aufmerksamkeit, die dem Ereignis zu teil wird. Und wenn beim Bundesparteitag der verstrittenen und vorm Verbot stehenden NPD bundesweite Medien nach Kirchheim zum Leichenschmaus fahren, muss sich dort eben die halbe Landes-SPD-Führung versammeln, um „Gesicht zu zeigen“ oder auch mal den Stinkefinger.

Und so steht auch hinter dem gemeinsamen Protest gegen das Naziproblem noch eine ganz andere Dynamik, ganz andere Zwecke, Interessen und Absichten als die Verteidigung der Menschenwürde und der Einsatz für ein solidarisches Europa. Diese mehr oder minder bewussten Absichten und Rücksichten dürften ganz unterschiedlich aussehen (moralische Betroffenheit, Schuldgefühle, Standortlogik, Kompensationsleistungen, Abreißen von Arbeitszeit) und zu ganz unterschiedlichen Problemen führen. Sie machen einen Komplex aus, der der Forschung würdig wäre und der unerforscht bleiben wird, weil für so was niemand mehr ohne Trickserei bezahlt wird.

Wolfgang Pohrt bringt eine der wohl vorherrschenden Verhaltensdispositionen der Zivilgesellschaft in einem Text aus dem Jahr 2004 auf den Punkt: Antisemiten und Rassisten „werden gebraucht, weil sie so was wie der Dreck sind, an welchem der Saubermann zeigen kann, dass er einer ist. Sie werden gebraucht, damit Schröder die von ihm geführten Raubzüge der Elite als ‚Aufstand der Anständigen‘ zelebrieren kann. Sie werden gebraucht, weil die Ächtung von Antisemiten und Rassisten das moralische Korsett einer Clique sind, die sich sonst alles erlauben will […]. Sie werden gebraucht, damit die Aufsteiger […] sich nunmehr das Herz an der Vorstellung wärmen können, sie stünden den Verfolgten bei […].“ Im Hintergrund stand damals die Agenda 2010, der benannte „Aufstand der Anständigen“ und das erste Verbotsverfahren gegen eine NPD, die der Verfassungsschutz „erst mühsam hochgepäppelt“ hatte. An Gründen, warum die Elite und ihr think tank in Fragen der Moral heute ihre Schuhe an den Nazis abputzen müssen, mangelt es bekanntlich nicht und freilich haben letztere kein Mitleid verdient.

Bei der von Pohrt beschriebenen Motivation dürfte es sich lediglich um ein Mosaik des angesprochenen Komplexes handeln. Alle Teile dieses Motivationskomplexes haben aber wohl eines gemeinsam: Sie sind kein Beitrag, das Naziproblem ursächlich zu begreifen und damit zu beseitigen. Die Zivilgesellschaft ist blind für das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie und die Modernisierung faschistischer Ideologie. Sie organisiert den in der postfaschistischen Gesellschaft gebotenen Konsens der gesellschaftlichen Eliten gegen die offenkundigsten Nazis, gegen jene, die von der NS-Nostalgie nicht lassen können, und damit macht sie den notwendigen Protest gegen Naziaufmärsche und -ideologie zur Farce, zum sinn- und konsequenzlosen Gesabbel, zum öffentlichen Schaulaufen für die Presse und zur Werbeveranstaltung für diese ach so tolle Gesellschaft. Als ob der Aufmarsch von 100 Funktionären und ebenso vielen Gutgläubigen für diese Gesellschaft sprechen würde und nicht gerade gegen sie. Die bürgerliche Aufklärung über Nazistrukturen und -ideologie findet nicht in kritischer, sondern in staatstragender Absicht statt. Im Vordergrund steht die Sicherung des Gemeinwesens, der „Demokratie“, des geregelten gesellschaftlichen Miteinanders, dieser öden, verhängnisvollen Immergleichheit am Abgrund, aus der es endlich auszubrechen gälte.

Und genau hier kommt die Antifa und der Anspruch, das Naziproblem als gesellschaftliches Problem, als Problem einer Gesellschaft, die potentielle und aktuelle Nazis mit Notwendigkeit hervorbringt, zu begreifen, ins Spiel. Solche antifaschistische Kritik ist nur noch im Widerspruch zur dargestellten Scharade der Zivilgesellschaft zu haben. Ihr ist das Gemeinwesen, die gepriesene Demokratie bzw. eben ihre aktuelle Verfallsform Gegenstand der Kritik statt der Affirmation. Die beengende Heimeligkeit beim Pfeifkonzert gegen Rechts ist ihr zuwider wie die gesellschaftliche Zurichtung, die der Ideologiewahn der Zivilgesellschafter vergessen machen will. Sie weiß, dass nicht fehlende Bildung in Menschenrechtsfragen die Ursache von Rassismus ist, sondern die tendenzielle Überflüssigkeit jedes Einzelnen für das gesellschaftliche Verhältnis und der falsche Reim, den sich die Rassisten auf sie machen. Ihre Mittel sind deswegen nicht der durch stete Wiederholung auf dem Rednerpult einzuübende Grundsatz von der Gleichheit und der Menschenwürde, sondern die radikale Aufklärung über eine Gesellschaft, in der die Menschenwürde und die Gleichheit so prekär und scheinhaft sind, dass man sie als Recht fixieren und staatlich garantieren musste. Diese Gesellschaft bringt die Nazis und ihre Ideologie mit Notwendigkeit hervor wie sie die Einzelnen zu austauschbaren Momenten eines irrational-rationalen Molochs erniedrigt und sie um das beraubt, was das Kapitalverhältnis in seinen Anfängen einmal verheißen mochte: Die Freisetzung der geschichtsbildenden Potenzen der menschlichen Arbeit und damit die Ermöglichung des Eintretens des Menschen in seine Geschichte. Weil eben dieses Eintreten und also: die sozialistische Revolution ausblieb, haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verhärtet, sind für die Einzelnen unhintergehbarer und verhängnisvoller geworden und haben mit den Nazis Kräfte freigesetzt, die etwas Schlimmeres möglich machen, als das Bestehende. Dieses Bestehende ist im Notfall mit der Zivilgesellschaft zu verteidigen, die dafür eintritt, ohne dessen menschenfeindlichen Charakter zu begreifen. Solange sich aber keine Machtübernahme der regressivsten Kräfte anbahnt (ihnen fehlen Führer und entschlossene Massen), ist an Adornos Wort zu erinnern, dass die größte Gefahr vom Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie ausgeht, statt vom Nachleben des Nationalsozialismus gegen sie. Gerade jene Tendenzen sind solche gegen die die Zivilgesellschaft blind ist und gegen die ohne sie vorgegangen werden muss. Radikale Aufklärung über solche Zustände zu leisten und sich dabei von der eigenen Ohnmacht nicht dumm machen zu lassen, das ist die Anforderung, der sich die Antifa heute zu stellen hat.

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1
Die polemische Bezeichnung Gutmensch, die übrigens weder die Nazis noch Nietzsche erfunden haben, sondern die sich schon bei Karl Marx findet, problematisiert nicht den Anspruch ein guter Mensch zu sein, sondern die Borniertheit eines Denkens, das meint innerhalb der bestehenden Ordnung lasse sich ein Leben in Unversehrtheit für alle realisieren; ein Denken, das nicht nur die Analyse der materiellen Verhältnisse bzw. die Einsicht in diese verweigert, sondern das blind ist für die eigene Verstrickung in diesen Abgrund und das die bestehenden Institutionen antreibt oder um Hilfe anbettelt, statt sie samt und sonders abschaffen zu wollen.

2
In dieser Pose eines pubertierenden Halbstarken ließ sich der Thüringer Wirtschaftsminister ablichten. Die Suche nach den konservativen Sittenwächtern kann man sich schenken, die standen daneben.

3
Betroffene berichten etwa von gravierenden psychischen Belastungen, die allein der Gang zur Ausländerbehörde bzw. die behördliche Behandlung bei ihnen erzeugt, etwa durch die ihnen in rechtlichen Grauzonen, außerhalb des Protokolls mitgeteilten Drohungen – von den unzähligen rassistischen Kontrollen durch die Polizei gar nicht zu reden.

4
Seinen Gipfel hat dieser Irrsinn in Thüringen erreicht als die SPD-Ministerin Taubert in Greiz bei einer antirassistischen Demonstration das Mikro überreicht bekam und Grußworte an die Demonstranten richtete, welche gegen rassistische Hetze und Abschiebungen protestierten, die Tauberts Partei an vorderster Front anweist. Sie bekam Beifall. Auf die Idee rohe Eier und matschiges Gemüse zu besorgen kam keiner.

5
Vielleicht hatten die Zivilgesellschafter auch nur Angst auf ehemalige Parteifreunde zu treffen, schließlich versammelt sich in der AfD eine Melange aus ehemaligen Parteimitgliedern aller Parteien von SPD bis NPD. Oder es sind eben doch inhaltliche Schnittmengen zur AfD, die sie abschrecken zu demonstrieren.

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