Halb-düster-deutsche Sozialkritik

Investigativ untersucht K. die Rezeption der ARD-Krimiserie „Tatort“ innerhalb der linken Szene.

„Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zu Grunde. Es ist in der Tat Flucht, aber nicht wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene noch übriggelassen hat.“ (Max Horkheimer/Theodor W. Adorno)

Rückblick, Hamburg, 21.12.2013: Demo für die Rote Flora, die Esso-Häuser und nach Lampedusa Geflüchtete. Die Bullen greifen an und verletzen 500 Regimekritiker_innen. Ein Tag später. Sonntag. Es gibt am Abend wieder eine kleine Demo vor der Flora. Es werden mehr und mehr Bullenwannen. Wie es wohl heute ausgehen wird? Ich stehe neben Frauke*1 und Arndt*, die schon seit einer Weile nervös auf ihre Uhren schauen. Schließlich sagen sie, sie müssten unbedingt los. Warum? Um pünktlich zum Tatort zu Hause zu sein! Wie bitte?! Naja, ich kenn‘ das ja schon. Irgendwann im letzten Jahrzehnt wurde der verstaubte Tatort in größeren Teilen der linken, alternativen Szene hip und lässt sie sich vorm Bildschirm versammeln.

Aber wieso eigentlich? Ist es nicht allzu offensichtlich ein Widerspruch, dass sonst der Polizei gegenüber kritisch eingestellte Menschen regelmäßig an deren filmisch adaptierten Handeln Anteil nehmen, daran Unterhaltung finden und alle Kritik über Bord werfen?

Ist das das neueste und letzte Ritual? Liegt das dem Menschen – also mit der Natur – inne, nach Konstanz zu suchen? Ist es eine Erinnerung an die kindliche-jugendliche Phase – Fernsehkrimis-Schauen als etwas, was viele mit ihren Eltern gemacht oder erlebt haben? Handelt es sich um den ohnmächtigen Kampf gegen den Verlust von Tradition, wie dieser auch Ausdruck findet, wenn mensch das eine Mal im Jahr an Weihnachten dann doch zu den Eltern fährt?

Das Angebot ist der Sonntagabend. Ein Anruf in Berlin bei einem Regisseur von IndyMoviea* scheint es zu bestätigen. Der bekennende Linke sagt mir, dass der Tatort eine der besten deutschen Produktionen sei. „Sonntagsabend ist halt auch die Zeit, die man in WGs gemeinsam verbringt. Und das läuft ja, was soll man sonst ansehen?“ Ja, was sonst? Mensch könnte sich ja auch so treffen und etwas anderes machen; zumindest etwas anderes anschauen. Oder sind die Linken dann doch gar nicht so flexibel, wie sie meinen es zu sein?

Im neuen Jahr und zurück in Erfurt, beschließe ich, der Sache auf den Grund zu gehen.

Am Sonntagabend habe ich mich bei meinen Nicht-Szene-Freund_innen angemeldet – sie besitzen einen Fernseher, der um diese Zeit auch immer eingeschaltet ist. Ich frage nach der Krimiserie. Sie sagen, Tatort zu schauen sei spannend. Gesellschaftlich relevante Themen würden angesprochen. Man könne sich mal in eine andere Welt hineinversetzen. Allgemein seien die Motive und Tathergänge sehr realistisch. Dann ist es soweit. 20:15 Uhr. Was ich aber nicht wusste, geschieht jetzt: Es kommt ein Polizeiruf 110. „Liebeswahn“.2 Hm. Ein Klischee-Feuerwerk. Um herauszufinden, wer einem Lehrer die Zunge herausgeschnitten hat, raten die Ermittler_innen zwischen Islamisten, der Russenmafia oder der SM-Szene hin und her – genüsslich ihre Stereotype ausbreitend. Eine liebeskranke Ärztin war es und wird gerade noch rechtzeitig vor „Günther Jauch“ verhaftet. Ob das sehr verschieden von einem Tatort ist?

Eine Woche später klappt es schließlich: Der SWR lädt zum Tatort „Todesspiel“ ein. Laut taz zeigt er „beinahe erholsam“ Routine. Als Täterin – das heißt Mörderin – sieht mensch wieder eine Frau. Der Trend – von einigen Krimis, von denen ich in letzter Zeit erfahren habe – also der Trend geht hin zum Mann als Opfer. Und was das perfide ist, gern als Täterin die Frau, die sexualisierte Gewalt ausübt oder den Mann sexualisiert erpresst. Diesmal stammt sie aus Bosnien und bringt auf ihrem Selbstjustiz-Rache-Feldzug reihenweise deutsche Yuppies um. Liegt es an ihren Genen oder ihrer Kultur? Das wird nicht aufgeklärt, ist aber auch nicht wichtig, um Klischees zu perpetuieren. Ansonsten plätschert der Film in der Tat gemütlich-unterhaltsam dahin, auch wenn die Kamera immer ein bisschen zu tief gehalten wird, die Bullen wirken fast schon sympathisch. Bullen sympathisch? Ich erschrecke.

Viele haben als Kind Bullen gar nicht unsympathisch gefunden:

„Der Volkspolizist, der es gut mit uns meint,

Der bringt mich nach Hause, er ist unser Freund!“

Der Polizist als Freund und Helfer, der die Guten beschützt und die Bösen bestraft. Dieses Gut-Böse-Schema legen die meisten spätestens dann ab, wenn der behelmte Polizist eine_r das Biertrinken auf der Antifa-Demo verbietet. Und Schlimmeres mehr… <= hinter den drei Worten steckt sehr viel!

Seltsam, dass all die negativen Erfahrungen mit der Staatsgewalt verblassen, wenn wir uns am Sonntagabend mit den ach so menschlich dargestellten Bullen identifizieren dürfen. Oder geht es genau darum, dass mensch sich fernab von aller Polittheorie mal wieder einem einfachen Gut-Böse-Schema hingeben kann? Zugegeben, die mit all ihren Ecken und Kanten inszenierten Ermittler lösen dieses Schema hin und wieder auf, wie Ausflüge ins heikle Privatleben der Polizisten zeigen.

Doch liegt hier auch ein weiteres Problem: Polizisten sind Menschen und folgen in ihrem Handeln einer eigenen Moral, die manchmal im Gegensatz zu geltenden Gesetzen steht. Ganz nach dem Motto: Wo Recht Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht. Sind die Rechtsbrüche ein bloßes realistisches Abbild des Polizeialltags oder werden sie affirmiert, d.h. abgefeiert? Einiges spricht für das letztere. Herausragend in dieser Tendenz war der letztjährige „Tatort der Barbarei“ (so die Blogger_in cosmonautilus) mit dem Sexisten und Folterer Nick Tschiller, gespielt vom – einer Distanz zu der Rolle nicht vermuten lassenden – Til Schweiger. All das wurde hochgejubelt vom stern: „Und natürlich kommt er dem Rechtsempfinden entgegen, schließlich ermitteln Tschiller und seine Kollegen gegen eine Menschenhändler-Mafia, die Mädchen aus dem Osten in die Prostitution prügelt. Das Böse ist so böse wie möglich, der Held so korrekt wie unbedingt nötig.“

Das Ganze übrigens so unerträglich, dass kreative „Tatortverunreiniger_innen“ Schweigers Anwesen mit Farbe modifizierten und einen Luxusschlitten davor abfackelten.3 Eine Freundin sagt mir dazu: „Symbolpolitik ist besser als keine.“

Ich recherchiere weiter zum Tatort bei wikipedia. „Zum Konzept der Reihe gehört das Lokalkolorit“ lese ich da. Richtig, erinnere ich mich, im November wurde ja auch in Erfurt ein Tatort gedreht. Und damit ist Thüringen nun „auf der wichtigsten Landkarte verzeichnet, die die Medienrepublik Deutschland zu bieten hat.“ (Focus) Schließlich gelingt es mir, einen der Drehorte in der Nähe einer linken WG ausfindig zu machen. Ein Mann um die dreißig schleppt gerade Kohleneimer4 hinein. Als ich nach dem Tatort frage, wird er wütend: „Da kannst Du alle anderen hier fragen! Das ist mir Pumpel, ob die das gucken. Wenn sie wenigstens in anderen Bereichen abgehen würden!“ Ich versuche es ein Zimmer weiter. Der junge Bewohner bittet mich herein und erzählt mir bei einer Tasse Kaffee von dem großen Tag. Sogar die Ministerpräsidentin war da. Echte Bullen hätten schon frühmorgens die ganze Straße abgesperrt. Auf seinem Flatscreen schauen wir schließlich rein. Kostprobe gefällig?

Minute 21, Kriminalhauptkommissar Funck zu Kriminaloberkommissar Schaffert: „Hättest dem mal schön das Hirn wegblasen sollen“

Minute 25, Schaffert zu Funk: „Was hältst Du von unserer Praktikantin?“ – Funk: „Hat‘n geilen Arsch.“

Minute 60, Schaffert betreffs einer Zeugin zu Funk: „Was hast‘n mit der gemacht? Fuck and Go?“

Die zwei Macker verhaften die intrigante, eifersüchtige Mörderin, den „kalten Engel“, nachdem sie anderthalb Stunden ihre Praktikantin „wie ein[en] Fußabtreter behandelt“ haben und obendrein von noch einer bösen Frau, nämlich ihrer ständig stänkernden Vorgesetzten gegängelt wurden.5

Die Suche nach Erkenntnis ist manchmal ein schmerzhafter Weg. Also schauen wir uns zusammen auch noch das „Making of“ an. Hier begründet der Produzent die Wahl des Standortes: „Erfurt ist einfach eine sehr intakte schöne Stadt“. Das reichte um die Dreharbeiten durch Politik, Lokalpresse und MDR abzufeiern, hatte man im Wettbewerb der Städte doch auch mal gewonnen – als „wichtiges Signal zur Stärkung Thüringens“ mit „vielfältigen wirtschaftlichen Aspekten“ (Marion Walsmann, CDU). Und wie bei anderen national bedeutenden Ereignissen wurde zum Public Viewing geladen, zu dem die Thüringer Allgemeine titelte: „Erfurt schaute ‚Tatort‘: Szenenapplaus für den Petersberg und die Universität“. Der Standort und sein Inventar werden zum Subjekt, das Volk zur Gemeinschaft.

Auf weiterer Spurensuche begebe ich mich in den Erfurter Süden*. Von einem Bekannten in der Szene habe ich einen Tipp bekommen. Es geht um einen von mehreren linken Haushalten, die Sonntagabends dem Tatort frönen. Um mich unauffällig unter die circa 15 Besucher_innen mischen zu können, habe ich mir einen Bart wachsen lassen und eine schicke Northface-Jacke besorgt. Lange habe ich an kritischen Fragen überlegt, die ich nach dem Film stellen will. Ich fühle mich bestens vorbereitet. Ein bisschen mulmig wird mir dann doch, als ich klingele. Im Hausflur merke ich, dass etwas nicht stimmt. Besonders als das Licht ausgeht. Ein Flashmob kommt von allen Seiten eingestürmt und fällt über mich her. Aus irgend einem Grund ist meine Tarnung aufgeflogen. „Das Private ist privat.“ ruft mir einer hinterher als ich meinen lädierten Körper auf die Straße schleppe.

Im Krankenhaus gibt es, anders als in meiner Jugend, auch Fernseher. Ich sehe die Wiederholung: Diesmal ist es ein Plädoyer für das Gewaltmonopol des Staates, für mehr Kameras und mehr Überwachung des Internets. Ein von einer um Aufmerksamkeit suchenden, eitlen Frau initiierter Haufen gesichtsloser Gewalttäter wird am Schluss von einem anderen Haufen gesichtsloser Gewalttäter, also den Bullen, zur Strecke gebracht und die Ordnung wiederhergestellt. Mit Blendgranaten. So wie damals bei der Räumung des Besetzten Hauses. Die Bilder, die Erinnerungen verschwimmen. Alles dreht sich im Kreis. Scheiß Schmerzmittel.

Apropos Wiederholung: Wieder nüchtern suche ich Aufklärung bei Horki und Adorno. Sie schreiben von der Kulturindustrie, der „Totalität der Kulturindustrie“, in der alles zu einem einzigen großen Müllhaufen verschwimmt: „Sie besteht in Wiederholung.“ Da ist wohl etwas dran – nicht nur, dass sich die Themen der Krimis zu wiederholen scheinen, sie selbst werden auch regelmäßig in den dritten Programmen und im Internet wiederholt.

Weiter schreiben sie: „Das Vergnügen befördert die Resignation, die sich in ihm vergessen will.“ Ob sie damit auf ganz verdrehte Art Recht behalten sollten? Ich jedenfalls resigniere am Vergnügen der anderen. Und bin nicht schlauer als vorher.

Zu viele Fragen bleiben offen.6

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1*
Namen und Orte sind geändert.

2
Circa alle sechs Wochen kommt kein Tatort, sondern ein Polizeiruf 110.

3
vor allem aber auch wegen der Kriegsverherrlichung des Schauspielers z.B. in der BILD in „„Til Schweigers Afghanistan-Tagebuch“, so das Bekenner_innenschreiben bei indymedia: „Krieg beginnt hier, hier wird er kulturell eingebettet und legitimiert“.

4
wir, die dadaistische jugendkoordination krawinkel/internationalistische nichtstuer_innen assoziation, bündnis 90 kommandozentrale flatsch, halten diese fußnote besetzt, bis all unsere forderungen erfüllt sind, die da lauten: weniger fußnoten, weniger text, mehr katzenbilder!

5
Folgerichtig wurde der Erfurter Tatort „Kalter Engel“ von den „Medienfrauen von ARD, ZDF und ORF“ mit dem Negativpreis „Saure Gurke“ für besonders frauenfeindliche Machwerke ausgezeichnet.

6
Ist der Tatort der letzte Strohhalm intellektuellen Genusses, der noch möglich ist? Handelt es sich um die rituell-inszenierte intellektuell-zwanghafte Abgrenzung zum Pöbel, der den ganzen Tag den Fernseher laufen hat, aber gerade während der Tatort selbst läuft, den (Pseudo-)Blockbuster auf Pro7 eingeschaltet hat? Räumt Til Schweiger in einem halben Jahr in der Hamburger Gefahrenzone auf?

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