Peter Gispert kommentiert die Anti-Nazi-Aktivitäten am 1. Mai in Erfurt
Auf einem riesigen Transparent der Antifaschistischen Koordination Erfurt (AKE) wird aus dem Schwur von Buchenwald zitiert. Ausgepackt wurde das Transparent am diesjährigen 1. Mai, weil Nazis der „Freien Kräfte“ durch Erfurt demonstrieren wollten. Statt Bratwurstessen und Straßenfest hat das von AKE im Vorfeld initiierte Bündnis „Keinen Meter“, das tief in das bürgerliche Lager hineinreicht, dazu aufgerufen den Aufmarsch zu verhindern. Solche oder ähnliche Bündnisse sprießen seit einigen Jahren bundesweit überall dort aus dem Boden, wo Nazis einen Aufmarsch ankündigen. Zum Einsatz kommt dabei meist die Aktionsform der Massenblockaden, inklusive 5-Finger Taktik und dem Durchfließen von Polizeiketten.
Tatsächlich ist es damit nicht nur einmal gelungen, die Nazis am Laufen zu hindern. Vor über zehn Jahren gab es das in diesem Ausmaß noch nicht.
Damals waren es vor allem Antifagruppen, die sich den Nazis offensiv in den Weg stellten. Bürgerliche Antifaschist_innen „protestierten“ meist (nicht ausschließlich) jenseits der Nazis bei Kaffee und Bratwurst auf einem Straßenfest. Diese Verschiebung hin zu breit getragenen Blockaden gegen Naziaufmärsche ist gut. Es ist gut, mordenden, prügelnden und agitierenden Nazis ihre Aufmärsche zu vermiesen und umso besser, wenn das viele machen. Es ist ein Fehler, die mit dieser Entwicklung einhergehenden Chancen zu ignorieren oder aus einer vermeintlich oder tatsächlich radikaleren Perspektive schlecht zu reden. Wenn andere sich um den Kampf gegen Nazis kümmern, kann die radikale Linke die frei gewordene Zeit für vielleicht spannendere Themen oder Aktionen verwenden. Außerdem können Bürger_innen, die sogar dazu bereit sind, sich Nazis in den Weg zu stellen/setzen, leichter gegenüber Rassismus, Nationalismus, Sexismus und so weiter sensibilisiert werden.
Mit einer antikapitalistischen Nachttanzdemo am 30. April und einer Hausbesetzung am 1. Mai wurde genau das versucht. Ein stärkerer solidarisch- kritischer Bezug auf die von „Keinen Meter“ geplanten Aktionen hätte die Synergieeffekte noch verstärken und damit mehr Leute, die durch den Naziaufmarsch zu Aktivitäten angefixt wurden, erreichen können.
Solche Verschiebungen geschehen jedoch nicht ohne gleichzeitig stattfindende gesamtgesellschaftliche Veränderungen, die im Sinne einer antifaschistischen Praxis analysiert und reflektiert werden müssen. Nach dem medialen Aufschrei im Nachgang zu einem Brandanschlag auf eine Synagoge in Düsseldorf im Oktober 2000 verkündete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder den „Aufstand der Anständigen“. Als dessen Folge wurden Aktionspläne entworfen und Fördertöpfe für Projekte gegen „Rechtsextremismus“ ins Leben gerufen. Spätestens mit diesem inszenierten „Kampf gegen Rechts“ gehört gegen Nazis-Sein zum guten Ton. Zumindest offiziell ist die Verächtung von Nazis weitgehend durchgesetzt. Doch der Schein trügt. Denn während sich äußerlich fast alle gegen Nazis abgrenzen, breiten sich menschenverachtende und ausgrenzende Einstellungen immer weiter aus. Im gleichen Zeitraum, in dem sich gegen-Nazis-Sein etabliert hat, führten Sportereignisse wie die WM 2006 und die EM 2008 zu einem ungeahnten nationalen Taumel und Sarrazin erhielt mit seinen rassistischen und sozialdarwinistischen Thesen millionenfachen Zuspruch. Studien zur Einstellungsforschung wie „Deutsche Zustände“ oder für Thüringen der „Thüringen Monitor“ zeigen immer wieder, wie weit Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus in der Bevölkerung verbreitet sind. In Thüringen stimmen über 50% der Bevölkerung rassistischen Aussagen zu, über 60% nationalistischen. Erschreckende 25% der Thüringer_innen sind der Meinung, dass es wertvolles und unwertes Leben gibt. Die Abgrenzung gegen Nazis scheint zu großen Teilen also nur eine formale Abgrenzung zu sein, die nicht inhaltlich begründet ist. Bloße Anti-Nazi-Aktionen verkommen damit lediglich zu einem Kampf gegen „die Anderen“, die sowieso niemand mag und verspielen damit ihren progressiven Gehalt.
Dem Schwur von Buchenwald folgend wäre es am 1. Mai in Erfurt im Kontext eines allgemein durchgesetzten gegen-Nazis-Sein an der Zeit gewesen, sich nicht nur an den Nazis abzuarbeiten, sondern die menschenverachtenden Einstellungen weiter Teile der Bevölkerung und staatliche rassistische Praxen wie Residenzpflicht und Abschiebungen in Angriff zu nehmen. Gerade im Rahmen eines breiten Bündnisses gegen den Naziaufmarsch hätten Auseinandersetzungen mit Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus viel bewirken können. Nicht nur der Aufruf, sondern auch inhaltliche Veranstaltungen im Vorfeld oder die Zeitung wären als Plattformen dafür gut geeignet gewesen. Hier eröffnen sich Interventionsmöglichkeiten nicht nur für die radikale Linke. Auch Antira-Gruppen oder Linke innerhalb des „Keinen Meter“-Bündnisses hätten ihre Standpunkte stärker machen können.
Eine Auseinandersetzung mit menschenverachtenden Einstellungen kann zu einer Auseinandersetzung mit zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Ursachen führen. Und genau darum geht es im Schwur von Buchenwald. Der gesellschaftliche Konsens gegen Nazis erlaubt es einen Schritt weiter zu gehen und gesellschaftliche Ursachen in den Blick zu nehmen. Nur in deren Bekämpfung wird der „Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit“ möglich werden.