Runder Tisch der Unterdrückten

„Staaten unterdrücken Menschen, das ist einfach Mist.“ So einfach und treffend ein Erfurter Punk die Sache zusammenfasst, werden viele ihm erst mal zustimmen. Aber was heißt das im nächsten Schritt? Für die einen bedeutet es, dass man sich am ungeliebten Apparat die Finger nicht schmutzig machen darf. Andere begeben sich auf den Marsch durch die Institutionen oder sehen den Staat als Feld, auf dem es Kämpfe zu führen gilt. Lirabelle hat Menschen aus verschiedenen Spektren zum Kaffee eingeladen und eine Diskussion über den Staat angestoßen. Deutlich wurde, dass sich am Ende alle fest in Zwängen verankert sehen.

Könnt Ihr euch kurz vorstellen und zum Einstieg bestimmen, was dieser ominöse „Staat“ überhaupt ist und was ihr mit ihm zu tun habt?

Melanie: Ich arbeite bei einer Bildungseinrichtung, die letztlich staatliche Gelder bekommt, also über verschiedene staatliche Stellen finanziert ist. Insofern gibt es, wenn ich jetzt z.B. Veranstaltungen organisiere, schon einen staatlich gesetzten Rahmen, in dem diese Veranstaltungen stattfinden. Der ist an manchen Punkten vielleicht weit, weil im Gesetz nicht ganz genau steht, wie die Bildung inhaltlich ausgerichtet sein soll. Aber spätestens bei der konkreten Planung spielt der Einfluss schon rein als irgendwie darüber hängende Macht, die nicht konkret vor Ort und personifizierbar ist. Wobei ein Geschäftsführer, der sensibler drauf guckt als ich, sicher auch eine Rolle spielt.

Franzie: Ich bin aktiv in verschiedenen Gruppen, die man vielleicht einer selbstorganisierten oder autonomen Szene zuordnen würde, u.a. auch in der Roten Hilfe. Gerade dort ist man in jeder Sekunde mit dem Staat konfrontiert, der uns als Institution von Herrschaft mit seinem Gewaltmonopol gegenübertritt – darauf reagieren wir. Die Antirepressions-Arbeit stellt eine notwendige Aufgabe in den gegebenen Verhältnissen dar. Es ist der Versuch, diverse linke Positionen in ihrer Praxis gegen den Staat und seine Verfolgungsorgane zu schützen und zu stärken. Wir begleiten Betroffene, die aufgrund ihres politischen Handelns kriminalisiert werden. Zur Unterstützung der Betroffenen arbeiten wir mit „politischen“ Anwält*innen zusammen und versuchen das Beste für die Betroffenen herauszuholen. Ich finde, dass das eine Aufgabe ist, die gemacht werden muss. Trotzdem würde ich die Position einer radikalen Kritik stark machen wollen: Staat ist Vermittler von Kapitalinteressen; und Demokratie letztlich nur die politische Form, in der das verhandelt wird.

Yves: Ich denke, ich bin hier die Quotenpunkerin und hab‘ nicht so die Funktion. Obwohl, ich könnt das lokale Radio F.R.E.I. nennen, ich mach da halt mit. Ich würde Staat als Konstrukt von irgendwelchen Institutionen sehen, also so Justiz, Politik, Parteien und Bullen, die das Gewaltmonopol dann am Ende durchsetzen. Was das Radio angeht, da steckt auch Geld vom Staat drin und insofern bist Du natürlich abhängig und hast irgendwie damit zu tun – das macht  sich bemerkbar in der Projektarbeit. Und ich würde auch meinen, dass ich selbst direkt vom Staat abhängig bin, so mit Hartz IV. Es gibt da wahrscheinlich keinen großen Unterschied zu anderen Abhängigkeitsverhältnissen, weil wir alle keinen Zugang zu Produktionsmitteln haben. Aber mit meinem ALG2 gibt’s wahrscheinlich noch ne direktere Abhängigkeit vom Staat, der bei euch vielleicht mehr im Hintergrund ist.

Renate: Das ist bei mir ähnlich, ich krieg‘ auch Hartz IV. Ich mache in der Offenen Arbeit ziemlich viel, werde aber nicht bezahlt und habe keine Funktion. Dadurch bin ich wahrscheinlich bei den Sachen, die ich wichtig finde, unabhängiger als jemand, der eine Stelle hat – weil mein Engagement halt nicht davon abhängt, ob ich Geld dafür kriege oder nicht. Ich denke, ich habe in der OA wenn überhaupt, dann über Umwege mit dem Staat zu tun. Die Offene Arbeit gehört zur evangelischen Kirche, das ist schon etwas anderes als „Staat“ im engeren Sinne, auch wenn‘s natürlich nicht mehr so ist wie in der DDR, als Kirche eine Art Insel war. Ich mache auch noch bei der AG gegen Rechtsextremismus beim Bürgertisch Demokratie der Stadt Erfurt mit. Da könnte man auch sagen, dass das Staat ist, weil es eine Verbindung zur Stadtverwaltung gibt. Andererseits treffen sich da Bürger*innen, um ihr Engagement gegen Rechtsextremismus zu bündeln und ich denke, dass wir da schon ziemlich eigenständig unser Ding machen und die Stadt auf ihre Verantwortung hinweisen können. Ich kann meine Position noch mal deutlicher machen: Auch wenn der Staat mir nicht gefällt, komme ich nicht umhin, zur Kenntnis zu nehmen, dass er im Moment da ist. Und ich gehe nicht davon aus, dass der Staat demnächst gestürzt wird oder sich von selbst auflöst – insofern muss ich gucken, wie ich darauf hinwirken kann, dass möglichst viele möglichst viel zu sagen haben und auch gehört werden. So eine totale Kontra-Position bringt da glaube ich nichts.

Franzie: Ich stimme in einem Punkt zu: Wir leben in einem Staat, es gibt Strukturen, die bestimmen unser Leben und unseren Alltag bis ins kleinste Detail, auch was wir sind – Männer, Frauen, lohnabhängig, arbeitslos und so weiter. Die Frage ist nun: Wie stelle ich mich dazu? Ich finde, man sollte bestimmen, was das Schlechte am Staat ist und wie er sich auf unser aller Leben auswirkt. So kommt man nicht umhin, sich mit Kapitalismus auseinanderzusetzen. Der Staat hilft bei der Organisation der Ausbeutung in Form von Lohnarbeit und trägt somit bspw. dazu bei, dass Menschen fremdbestimmt leben. Mein Ziel ist es, etwas abseits davon möglich zu machen bzw. dieses in einem ersten Schritt erstmal zu denken. Die Perspektive heißt, ohne Staat und Kapitalismus leben. Dafür muss ich mich bewusst zu den Verhältnissen stellen, sie kritisieren, wo es nur geht und dazu gehören auch politische Verkehrsformen. Für mich heißt das dann auch, Selbstorganisierungsprozesse voranzutreiben und in diesen zu wirken.

Renate: Aber schließt sich das aus? Kann ich nicht selbstverwaltete Strukturen schaffen und trotzdem für mehr Demokratie eintreten? Ich fänd‘s klasse, wenn Staat nicht notwendig wäre. Aber ich sehe das nicht in absehbarer Zukunft. Es ist natürlich ein Kreislauf – ganz viele Menschen machen einfach, was vorgegeben ist. Deswegen finde ich es ja wichtig, Mitdenken und Mitsprechen zu fördern, mehr Demokratie anzustoßen, damit sich das ändert. Denn die Grundvoraussetzung für die Abschaffung des Staates ist, dass alle mitdenken und mittun, statt blind dem Gegebenen zu folgen.

Yves: Naja, das klingt dann so ähnlich wie „Nebenwiderspruch“. Wir versuchen irgendwie, über dieses System hinaus zu kommen, aber tatsächlich arrangieren sich doch viele Menschen mit den Gegebenheiten. Das fängt ja schon mit den Romantischen Zweierbeziehungen an. Was ist denn das mehr als die Hoffnung auf das Glück im Rahmen des kapitalistischen Systems? Aber das kriegt man alleine halt nicht hin. Am Ende muss es darum gehen, das ganze menschenverachtende System abzuschaffen. Und da kann gerade das Nicht Mitmachen ein Anfang sein.

Melanie: Ich weiß da nicht so richtig, für welche Seite ich mich entscheiden soll. Inhaltlich stellt sich die Frage jeden Tag. Wenn ich z.B. in einer Schule Pro- jekttage für Demokratie und Toleranz mache, ist das ein Zwangskontext, in dem ich ganz viele Kröten schlucken muss, die ich in der kurzen Zeit gar nicht thematisieren kann. Muss ich das ablehnen, weil der Kontext von Grund auf schon falsch ist? Ich tendiere eher zu was, das ich mal die reformistische Schiene nennen will – wenigstens im Kleinen was bewegen. Aber glücklich bin ich damit oft nicht – dann denke ich, das hält gesellschaftliche Konflikte unter dem Deckel. Ein anderes Beispiel ist der „Keinen Meter“-Aufruf gegen die Nazis. Da steht ja ganz knapp und fast schon nur andeutungsweise eine Kapitalismuskritik drin. Ich habe nun leider in meinem Arbeitskontext mit Institutionen zu tun, die sich dann darüber beschweren: „Kann man nicht mal nur gegen Nazis sein?“. Und wenn man dann sagt: „Hallo, das eine hat doch mit dem anderen zu tun!“ kommt das große Unverständnis. Ich will sagen: Für mich ist das ganze oft vor allem eine schwierige praktische Frage.

Renate: Das hat halt auch mit der Hoffnung zu tun, dass man was bewirkt und Denkprozesse in Gang setzt und zu selbständigem Handeln anstößt. Ich weiß z.B., dass die Transition-Town Bewegung kritisiert wird, weil sie nicht kapitalismuskritisch ist, was ich auch schade finde. Trotzdem halte ich sie für unterstützenswert und muss sagen, dass das, was die machen, doch Selbstorganisation und Vernetzung ist – z.B. im interkulturellen Garten. Und das stößt vielleicht doch ganz gute Prozesse an.

Yves: Ich würde auch meinen, so ein interkultureller Garten oder ein Schulprojekttag ist schon besser als zu lernen, wie man sich möglichst gut verwertet. Aber wenn die dann am Ende Nazis Scheiße finden, aber genau so mackermäßig drauf sind, wie die, ist auch nicht viel gewonnen.

Es klingt, als seien sich erst mal alle einig darin, dass zumindest der real existierende Staat BRD kritisiert werden muss. Warum begeben sich trotz- dem Menschen in dieses Ding hinein und versuchen es von innen heraus zu zivilisieren? Und warum lassen andere es sein?

Renate: Na, ich hab‘s ja schon gesagt: Ich denke, die Menschen sind noch nicht so weit, dass Alle mitdenken und mitmachen. Insofern ist es notwendig, die Leute aufzurütteln, damit sie Lust bekommen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, statt sich mit Job und Freizeit abspeisen zu lassen.

Melanie: Mir scheint es als das kleinere Übel. Gar nicht politisch tätig zu sein, kann ich mir nicht vorstellen. Und mir fällt nichts besseres ein, das zu mir passt. Ich muss zugeben, das ist auch in hohem Maße Bequemlichkeit. Und ich empfinde es durchaus als Luxus, dass ich auf der Arbeit Sachen mache, die zumindest nicht richtig schlecht sind. Wobei Arbeit und Privatleben in der Frage sowieso schwer zu trennen sind.

Franzie: Ich kann diese Bedenken gut nachvollziehen. Das wird bei mir nach dem Studium vielleicht nicht anders werden. Die Wahl ist gestellt, nimmt man das größere oder das kleinere Übel. Aber ich will eigentlich gar kein Übel: Trotz allem bleibt die reale Abhängigkeit und der Zwang sich zu verwerten, um das eigene Leben bestreiten zu können. Dennoch muss es darum gehen, mit den Leuten zu reden und aufzuzeigen, welche Funktion sie als Subjekt in diesem Staat einnehmen. Ich finde, man muss seine eigene Position immer so reflektieren, dass man sich derer bewusst ist, nur dann kann man auch Kritik üben.

(Allgemeines Kopfnicken)

Yves: Stimmt. Es reicht ja schon, wenn Du einkaufen gehst. Aber wenn Du halt ein Haus besetzt, kriegst Du gleich von den Bullen eins über die Mappe. Es ist halt so schwierig, Alternativen zu schaffen. Es gäbe zwar ‚ne Menge Möglichkeiten, es wird dir aber unmöglich gemacht. Wenn‘s ein paar Tausend Leute in Erfurt gäbe, die sagen würden: „Wir scheißen jetzt da drauf, besetzen ganze Straßenzüge und versuchen ‚ne neue Gesellschaftsform auszuprobieren“, dann säh‘s anders aus. Aber da würden ja auch Bullen kommen und Leute erschießen. Dieser Staat hält‘s einfach nicht aus, wenn die Menschen sich was nehmen, was ihnen letztlich sowieso gehört.

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