Im Oktober 2014 findet sich eine Reisegruppe von 30 Menschen zusammen, um gemeinsam an einer Bildungsfahrt nach Lublin, Treblinka und Warschau teilzunehmen. Viele der jungen Menschen sind das erste Mal in Ostpolen. Sie wollen an historischen Orten mehr erfahren über die nationalsozialistische „Aktion Reinhardt“ – vielleicht auch ein wenig verstehen – mit dieser Hoffnung werden wohl viele solcher Bildungsfahrten konzipiert – eingelöst werden, kann sie nicht. Eine Teilnehmerin reflektierte etwa „Je mehr ich erfahre, desto weniger Sinn macht es.“ Auch deshalb ist dieser Bericht ein Sammelsurium an brüchigen, unvollständigen Gedanken zum Besuch Lublins und der Gedenkstätte Majdanek. Von Franziska.
Nach einer ewig langen Busfahrt kommen wir in Lublin an und beziehen unsere Zimmer im Hostel Krolewska. Viel gibt es heute nicht mehr zu sagen. Es herrscht eine gewisse Spannung in Erwartung des Bevorstehenden.
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Am Morgen begrüßt uns Wieslaw Wysok, unser Begleiter für die nächsten vier Tage in Lublin, zur Stadtführung. Lublin ist alt, Anfang des 14. Jahrhunderts erhielt es das Stadtrecht, heute zeugt davon die mittelalterliche Altstadt. Wir gehen durch das Krakauer Tor, den Eingang in die Altstadt. Stehen dort auf dem Marktplatz bis wir in der Dominikaner Kirche anhand des Gemäldes „Der Stadtbrand von Lublin“ aus dem 16. Jahrhundert mehr über die Stadtgeschichte erfahren. Fokus der Stadtführung ist jedoch nicht das mittelalterliche Lublin oder touristische Attraktionen. Durch die Aussage „Misstraut den Grünanlagen.“ des Schriftstellers Heinz Knobloch eröffnet uns Wieslaw einen Blick auf das Nicht-(mehr)-Sichtbare, das paradoxerweise eigentlich überall in der Stadt anzutreffen ist. Wir folgen den Spuren des jüdischen Lebens, das hier sehr lange gewirkt hat.
Aufgrund der antijüdischen Pogrome im Westen kamen im 14. und 15. Jahrhundert viele Jüd*innen nach Lublin, sodass sich dieses zu einem Zentrum der jüdischen Kultur und Religion wandelte. Zu einigen unserer Stationen: Die 1930 erbaute Talmudschule Jeschiwa Chachmej ist als Gebäude erhalten geblieben, weil dieses von den Deutschen als Lazarett genutzt wurde. Sie war ein Zentrum des „Jüdischen Oxfords“, wie Lublin aufgrund seiner Bedeutung für das Ostjudentum genannt wurde. Von vier jüdischen Friedhöfen ist der älteste erhalten geblieben. Dieser erscheint uns in herbstlich sonniger Atmosphäre. Er beherbergt Gräber berühmter Rabbiner, die ältesten Grabsteine sind etwa 450 Jahre alt. Von den vormals 50.000 Steinen sind nur noch wenige zu sehen – die meisten wurden als Baumaterial auch im KZ Majdanek benutzt.
Heute zeugen Leerstellen, wie Parkplätze davon, wo sich bspw. das jüdische Wohnviertel befand, in welchem ab 1940 Jüd*innen zwangsweise konzentriert wurden. Ab März 1941 entstand ein Ghetto, in dem bis April 1942 etwa 40.000 Jüd*innen leben mussten und von wo aus sie zur Zwangsarbeit oder zur weiteren Deportation in Durchgangslager selektiert wurden. Im März 1942 folgten Transporte gen Osten ins Vernichtungslager Belzec und ins nahegelegene KZ Majdanek. Die „Aktion Reinhardt“ hatte nun begonnen.
Laut Wieslaw leben heute noch etwa 40 Jüd*innen in Lublin – es waren einmal über 40.000.
Es ist Nachmittag, die verschiedenen Eindrücke der Stadt haben uns müde gemacht: Wir besorgen uns Kekse und sitzen in der Sonne – der Tag geht bald zu Ende, morgen besuchen wir das erste Mal die Gedenkstätte Majdanek.
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Wir fahren tatsächlich mit einem üblichen Stadtbus zur Gedenkstätte Majdanek. Sie ist nicht weit entfernt vom Zentrum gelegen. Wie Wieslaw uns später erklären wird, ist die Stadt an das ehemalige Gelände des KZs herangewachsen. Doch bereits während des NS war die Stadt Lublin nicht weit vom Konzentrationslager entfernt. Einer größeren Straße folgend, passieren wir ein Wohngebiet bis sich eine grüne Weite auftut, in der schwarze Gebäude, Baracken, stehen. Ein riesiges Monument ragt in den Himmel. Der Bus hält und wir steigen aus – andere Mitfahrende sind bereits ausgestiegen oder folgen ihrem Arbeits- und Schulweg weiter. Hier ist Alltag. Gegenüber scheint ein Gebäude einer der vielen Lubliner Universitäten zu stehen. Unser Blick richtet sich aber auf das Gelände der Gedenkstätte.
Die Gedenkstätte selbst wurde bereits im Oktober 1944 gegründet nach der hastigen Räumung des Lagers durch die Deutschen und das darauffolgende Eintreffen der Roten Armee im Juli 1944. Es wurde quasi nie befreit, sondern aufgelöst. Errichtet wurde das Lager 1941 und hieß offiziell „Konzentrationslager Lublin“. Ab Oktober 1941 fungierte es zunächst als Kriegsgefangenenlager für sowjetische Soldaten. Bald wurden auch Jüd*innen aus Lublin und Umgebung eingeliefert. Nach Jüd*innen waren Pol*innen die größte Häftlingsgruppe.
Wieslaw empfängt uns. Wir sind die erste Gruppe im neusanierten Museumsgebäude. Er gibt uns Einblick in seine Überlegungen zum vielschichtigen Charakter von Gedenkstätten. Zu verschiedenen Zeiten herrschte eine andere Wahrnehmungen des Lagers vor, womit sich unterschiedliche Perspektiven auf den Ort, seine Bedeutung und daraus entstehende Aufgaben entwickelt haben.
1944 war Majdanek ein Friedhof – die Trauer über die Toten, das tatsächlich Mögliche und Eingetretene herrscht vor. Vielleicht ist Majdanek auch ein Schlachtfeld, das vom Kampf ungleicher Gegner berichtet und Relikte, Beweise hinterließ. Aber es ist auch Museum – mit Ausstellungen, „Originalobjekten“, dargestellten Erinnerungen und Beschreibungen. Majdanek ist ein „traumatischer Ort“, der in sich das Geschehene behält, es aber zugleich in die Gegenwart und Zukunft vermittelt. Damit wir lernen können? Majdanek ist auch Materialisierung des Gedenkens – damit immer auch eine Inszenierung. Es ist auch Baustelle. Diese mag die erwartete Authentizität stören, aber sie bedeutet Wandlung und Bewegung – ein Werden, das die Erinnerung in sich behält und Gedenken immer wieder neugestaltet. Verschiedene Zeiten, verschiedene Wahrnehmungen, verschiedene Funktionen des Ortes.
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Stille kehrt ein.
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Wir tun die ersten Schritte aufs Gelände. Plötzlich stehen wir vor diesem kolossalen Monument, das den Blick lenkt – das Ehrenmal des Kampfes und Martyriums. Es ist der erste Teil des Mahnmalkomplexes von Majdanek, der von Wiktor Tolkin konzipiert und 1969 enthüllt wurde. Über zwei massive Pfeiler erstreckt sich ein übergroßer Steinblock – die Konstruktion kann als Tor gelesen werden.
Ein kleiner Weg Richtung dieses Tores führt uns abwärts mehrere Stufen hinunter. Spitze Steine ragen uns bedrohlich entgegen. Es ist beklemmend hindurch zu gehen. Seitwärts, bevor man das Tor erreicht, erkennt man einen kleinen, ganz schmalen Gang, der einen Blick nach „draußen“ offenbart. Ein Symbol der Hoffnung. Eine zweifelhafte Hoffnung. Die folgenden Treppen erklommen, baut sich dieses Tor auf – es ist Grenze zwischen zwei Welten: Der Welt des Lagers und der Außenwelt. Sein Korpus ist mächtig, darin kann man gepresste, verzerrte Körper erahnen. Das Tor symbolisiert das stattgefundene, übermächtige Leid sowie auch den historischen Eingang ins Lager.
Wir stehen oben auf, an der symbolischen Grenze. Der Blick auf das Gelände ist nun frei. Die grüne Weite nimmt Struktur an – alles, was hier im Lager geschah, hatte seine Ordnung. Ordnung bedeutete hier mörderische Disziplin. Die Fläche des zu unseren Füßen liegenden Geländes erscheint groß, war früher jedoch noch größer, 270 Hektar. Nach Planung der Deutschen sollte es viermal so groß werden. Dazu ist es nicht gekommen, aber das, was existierte, reichte aus, um dem deutschen Vernichtungswahn umzusetzen.
Das Gelände teilt sich in den ehemaligen Häftlings-, Wirtschafts- und SS-Bereich. Untergebracht waren die Häftlinge in fünf Feldern zu je 22 Baracken. Gesichert war jedes einzelne Feld mit doppeltem unter Hochspannung stehendem Stacheldrahtzaun. Rundherum standen 18 Wachtürme der SS. Im Wirtschaftsbereich waren u.a. Magazine und Werkstätten untergebracht. Die SS hatte zur Versorgung und Verwaltung einen weiteren Bereich. Alle Gebäude waren aus Holz gebaut – auch die Krematorien. Heute sehen wir noch einige schwarze Baracken und Wachtürme, sie wurden rekonstruiert, um die Authentizität zu „wahren“.
Vor uns liegt eine lange Straße, als Teil des Denkmales, wird sie „Weg der Ehre und Erinnerung“ genannt. Dieser führt direkt zum Mausoleum. In diesem Rundbau mit einem sich auf zwei Pfeilern stützenden flachen Kuppeldachs befindet sich die Asche der Ermordeten, Erniedrigten, Gequälten.
Es ist eine überdimensionale, begehbare Urne. Die symbolische Deutung des Mausoleums liegt quasi offen vor uns. Das Steinrelief, das die Kuppel umrundet, trägt eine Aufschrift in polnischer Sprache – „Unser Schicksal eine Mahnung für Euch“.
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Die Frage der Authentizität in der Konzeption von Gedenken und Gedenkstätten begleitet uns über das Gelände. Die Struktur des Lagers wurde beibehalten – es ist erkennbar, wo welcher „Arbeitsschritt“ der Deutschen in der Verwertung der Arbeitskraft und Leiber ihrer Gefangenen stattgefunden hat. Da die Baracken und Gebäude jedoch zum großen Teil aus Holz bestanden, sind das, was heute hier zu sehen ist, alles Rekonstruktionen. Ausgenommen davon sind die Steinböden in den Duschbaracken, den Krematorien und Gaskammern. Sie sind begehbar. Wieslaw fragt uns, ob das so sein sollte. Darf man als Besucherin im Jahr 2014, auf demselben Boden stehen, auf dem tausende Menschen vor Angst zitternd um ihr Leben bangten und schließlich starben? Ist es wichtig für unser Verstehen heute, in diesen Räumen zu stehen? Welches Verhalten ist angebracht? Wieslaw berichtet uns von Besuchern, Neonazis, die hier ihre „Späße“ trieben. Ist eine Inszenierung, wie es durch den künstlichen Erhalt und die Rekonstruktion von Lagerteilen oder Relikten geschieht, sinnvoll? Allein der Anblick und das inszenierte Erleben in den Lagern wird niemanden verstehen lassen.
„Man hat nicht die Pflicht sich das konkret vorzustellen, aber zu wissen, was an den Orten passiert ist.“, sagt Wieslaw Wysok.
Das Konzentrationslager Majdanek war zu NS-Zeiten schon dafür bekannt, dass es eines der „härtesten“ war. So eine Einschätzung ist schwierig, warum sollte man Konzentrationslager miteinander vergleichen? In Majdanek waren die Lebensbedingungen, u.a. aufgrund fehlender Kanalisation bis 1943, besonders schlecht – auch der Umgang des SS-Wachpersonals mit Inhaftierten war – laut Aussagen der wenigen Überlebenden – besonders brutal und willkürlich. All dies wirkte sich auf die Lebensdauer der Inhaftierten aus. Die durchschnittliche Überlebensdauer war in Majdanek niedriger als in anderen Lagern. Zwei Drittel starben allein an den Lebensbedingungen, zu welchen auch die schwerste körperliche Zwangsarbeit zählte als auch Hunger und Krankheit. Viele nach Majdanek Deportierte – vor allem Jüd*innen und besonders deren Kinder – wurden jedoch keine Häftlinge, sondern wurden nach den Selektionen im „Rosengarten“ direkt getötet. In Majdanek verband sich Ausbeutung der Arbeitskraft und Massenmord. Ab dem Frühjahr 1943 mit der Ankunft der Deportierten aus dem Warschauer Ghetto muss Majdanek auch als Vernichtungslager betrachtet werden.
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Von Lublin aus wurde die nationalsozialistische „Aktion Reinhardt“ geleitet. Sie war Teil der systematischen Ermordung von nahezu allen Jüd*innen und Rrom*nja des Generalgouvernements. Ihren Namen erhielt die Operation wahrscheinlich im nationalsozialistischen Andenken an Reinhardt Heydrich, der im Juni 1942 durch ein Attentat in Prag getötet werden konnte. Als Organisator für die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ war es seine Aufgabe, die Massenvernichtung zu ermöglichen. Odilo Globocnik leitete ab 1941 die Durchführung: Bis zum „Ziel“, dem Tod, war alles zu verwerten, was die Menschen geben konnten – ihr Hab und Gut, ihre Kleidung, ihre Goldzähne, ihre Arbeitskraft, ihr Menschsein.
In den Lagern Sobibor, Belzec und Treblinka wurde ab 1942 nur gemordet – dafür wurden die Vernichtungslager gebaut und reichlich ideenreich und arbeitsteilig organisiert, damit ein hohes Maß an Effizienz erreicht werden konnte. Hier wurde das Wissen aus dem „Euthanasie“-Programm „T4“ weiterentwickelt. Die sogenannte „Umsiedlung“ der im Generalgouvernement lebenden Jüd*innen und Rrom*nja begann.
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Im Sommer 1943 ordnete Heinrich Himmler an, die verbliebenen Jüd*innen in den Distrikten Lublin, Galizien und auch Krakau zu ermorden. In einem Brief an den zuständigen SS- und Polizeiführer formulierte er, dass die Überlebenden eine große Gefahr darstellen würden. Der Befehl wurde unter dem Decknamen „Aktion Erntefest“ geplant und schließlich vom 03. auf den 04. November 1943 durchgeführt. Dieser Tag ging als „Blutmittwoch“ in die Geschichte Majdaneks ein.
Hinter den Krematorien am Rande des Lagers mussten in Vorbereitung darauf jüdische Häftlinge drei Gräben mit einer Länge von je einhundert und einer Tiefe bis zu sechs Metern ausheben. Auch Jüd*innen aus Lagern der Umgebung wurden in Majdanek auf Feld V zusammengetrieben. Flucht war nicht möglich, jegliche widerständige Reaktion führte zum Erschießen. Nach Plan mussten die Menschen sich in die Gräben hineinlegen, dann wurde geschossen. Um die Schüsse zu übertönen, wurde laute Tanzmusik gespielt, die auch in der Stadt Lublin zu hören war. So ging es wohl neun Stunden lang ununterbrochen.
Es war eine der umfangreichsten Massenerschießungen an Jüd*innen. Insgesamt wurden an diesem einzigen Tag im Distrikt Lublin 42.000 Menschen erschossen, im Konzentrationslager Majdanek waren es 18.000 jüdische Häftlinge.
Nur wenige überlebten – mit viel Glück und unter besonderen Umständen. Ein besonderer Umstand war die Zuweisung zu einem „Filzkommando“, welches fürs Sortieren der Habseligkeiten der Ermordeten verantwortlich war. Im „Sonderkommando“, für welches in allen Vernichtungslagern eingeteilt wurde, mussten jüdische Häftlinge u.a. für die Verbrennung der Leichenberge sorgen – dies dauerte in Folge des „Blutmittwochs“ etwa zwei Monate.
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Zwischen Frühjahr 1942 und Herbst 1943 – während der „Aktion Reinhardt“ – kamen über zwei Millionen Menschen ums Leben. Ermordet in Ghettos, in Lagern, auf der Straße, in der Öffentlichkeit. Ermordet durch Zwangsarbeit, Hunger, Gewalt, Krankheit, Gas, Waffen, bloße Hände – aus Hass, Lust, Sadismus, Langeweile, Pflichtgefühl und Disziplin.
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Am Gedenkstein für die Opfer des 03. und 04. Novembers 1943 hinter den Krematorien in Majdanek steht unsere Gruppe. Mit dem Lager im Rücken blicken wir auf die nun grünen Gräben, dahinter verläuft ein Zaun, es folgen Wohnhäuser, Gärten … die Zeit ist trotz allem weitergegangen. Wir gedenken den Toten in Stille.
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Ein Ort der Trauer wird Majdanek bleiben.