Probleme der Πρaξις und die Geheimnisse der schönen Seele

Lukas will eine Debatte um die Möglichkeiten der Anti-Politik anstoßen. Der Autor hat unter verschiedenen Pseudonymen in der „Vielfalt“-Broschüre und anderen Publikationen geschrieben.

In der in Erfurt kursierenden Broschüre mit dem Titel „Stadt der Vielfalt?“, deren erfreuliches Ergebnis es unter anderem die „Lirabelle“ ist, waren zwei Artikel enthalten, die sich mit der Kritik an der linken Demo mit dem Titel „Der Frust muss raus“ beschäftigt haben. Diese Demonstration hatte am 13. Oktober 2012 stattgefunden und sollte eine Reaktion auf die im vergangenen Jahr deutlich zugenommene Nazi-Gewalt in Erfurt sein und auf die Ignoranz von offiziell städtischer Seite diesem Problem gegenüber hinweisen. In der „Vielfaltbroschüre“, die unter anderem eine Nachbereitung dieser Demonstration beinhaltet hat, fanden sich nun zum einen der Redebeitrag der Antifagruppe Arnstadt-Ilmenau (AAI) abgedruckt, der den Titel „Zur Notwendigkeit kategorialer Gesellschaftskritik“ trug, der auf einige „kategoriale“ Fehler des Demoaufrufes hingewiesen hat, und zum anderen ein Text mit dem Titel „Gedanken über das Verhältnis kategorialer Kritik und konkreter Politik“ von Eva Felidae, der deutlich machte, dass Aspekte der Kritik der AAI auch im Vorbereitungskreis zur Demo diskutiert worden waren. Letzter Text hat sich bemüht, zwei Positionen innerhalb dieses Vorbereitungskreises darzustellen: Position A ginge es um die Anerkennung zivilgesellschaftlichen Engagements und um eine Akzentverschiebung innerhalb des herrschaftlich konstituierten Politik-Feldes, während Position B antipolitisch motiviert sei, was eine Konfrontation mit „zivilgesellschaftlichen und bürgerlichen Positionen“ beinhalte und einen Angriff auf die falschen Vorstellungen dieser Akteure und deren zugrunde liegender Identität erfordere. In ihrem Fazit tendierte die Zusammenfassung zur Zustimmung zu Position B. Ich möchte im Folgenden mit einigen frustrierten Gedankenblitzen in diese Debatte eingreifen.

Langweilige Demos und die langweilige Kritik daran

Zunächst will ich feststellen, das ich eine Kritik der linken Demo-Praxis im Allgemeinen und eine Kritik an der „Frust-Demo“ im Besonderen für äußerst notwendig halte und dass die beiden Texte dabei wichtige Punkte benannt haben. Insbesondere halte ich es für richtig, darauf zu insistieren, dass eine radikale Veränderung dieser Gesellschaft auch einen Bruch mit herrschenden Rollenmustern und Identitäten bedeuten muss und dabei auch vor linken Identitäten keinen Halt machen darf. Die Kritik bürgerlicher Subjektivität, die Dreh- und Angelpunkt beider Texte ist, muss zudem ein wichtiger Teil dessen sein, was man im Zuge marxistischer Debatten „Kritik der Politik“ genannt hat. Und man könnte beide Texte darüber hinaus dahingehend ergänzen, dass der Eindruck der besagten „Frust-Demo“ war, dass hier alles andere geschehen ist, als dass von Nazigewalt und von den Verhältnissen frustrierte Leute, einmal ihrem Unmut, von den alltäglichen Fesseln ungehemmt und konventionelle Grenzen überschreitend, Luft gemacht haben. Stattdessen wirkte der Demo-Trott auf mich eher als eine Pflichtveranstaltung von Leuten, die anscheinend so wenig wütend sind, dass ihnen nichts weiter einfällt, als das übliche Programm zu fahren: Latschdemo, heruntergeleierte Redebeiträge mit der gekünstelt wütend herausgerufenen Schlussparole und das anschließende Abfeiern des eigenen Erfolgs, den man an der Anzahl der Demo-TeilnehmerInnen bemisst, während letztere zum Applaus hierüber permanent vom Lautsprecherwagen aus motiviert werden müssen. Doch der letzte Kritikpunkt – anstatt wirklich wütend zu sein, das linke Gewohnheitsprogramm abzuleiern – trifft letztlich auch die beiden AutorInnen der besagten Texte. Auf jeder Provinz-Demo gehört es inzwischen dazu, dass auch ein paar mitgereiste Antideutsche dabei sind, die einen Redebeitrag vorlesen, der die Demo und ihren Aufruf kritisiert. Die damit Gemeinten sind daran so gewöhnt, dass hieraus nicht einmal eine Debatte entspringt und sich das Szenario dementsprechend nach ein paar Wochen einfach wiederholt.1 Unabhängig von dieser formellen Langeweile, glaube ich, dass die in beiden Texten ausgeführte Kritik haarscharf das verfehlt, was eine Kritik der Politik sein müsste.

Abstrakter Indifferentismus

Dabei verstrickt sich der Redebeitrag der AAI in einen heillosen Selbstwiderspruch. Wird am Anfang des Beitrages moniert, dass der Demo-Aufruf suggeriere, dass dem Rassismus allein „durch gutes Zureden und Argumentieren“ abgeholfen werden könne, dass dem entgegengesetzt aber „den sich hinter den Rücken der Menschen Geltung verschaffenden politökonomischen Konstitutionsbedingungen bürgerlicher Subjektivität“ allein durch Aufklärung nicht beizukommen wäre, so ist die Quintessenz des ganzen Textes doch nichts als der Versuch einer Aufklärung. Den Bruch mit den herrschenden Formen der Subjektivierung, den die Antifas herbeiführen wollen, stellen sie sich als das Ergebnis einer reinen Reflexionstätigkeit vor. Eva Felidae spricht dies auch in ihrer Beschreibung der „Position B“ aus: „Eine linksradikale Position muss sich als anti-politisch verstehen, wenn sie sich in die praktische Vermittlung ihrer Theorie, d.h. in Konfrontation mit zivilgesellschaftlichen und bürgerlichen Positionen, begibt.“ Das, was hier als radikal vorgestellt wird, erschöpft sich in der Vermittlung von Theorie, was man nur aus Distinktionsgründen nicht als Agitation oder Propaganda bezeichnet. Ihr Fazit lautet dann auch dementsprechend: „Eine linksradikale Kritik muss daher den Schluss ziehen, was zu erkennen bleibt: der einzig richtige Imperativ, diese Gesellschaft, alle gewaltförmigen Verhältnisse abzuschaffen. In der kollektiven Erkenntnis dieses Imperativs wird er zugleich vollzogen und die Frage nach dem ›Was tun?‹ obsolet.“ Der Schluss der ganzen Kritik läuft also darauf hinaus, dass es lediglich um das Problem einer Erkenntnis gehe. In der Erkenntnis eines Imperativs soll die Frage danach, was denn eigentlich zu tun ist, um Ausbeutung und Herrschaft erfolgreich abzuschaffen, obsolet werden. Charakteristisch für diese Position ist ein eigentümlicher Indifferentismus: Das Ziel – die Überwindung der bestehenden Verhältnisse und die Errichtung einer Gesellschaft von frei assoziierten Produzenten, die sich auch den bisher vorherrschenden Fetisch-Formen entledigt haben – muss zwangsläufig abstrakt gegen jeden Versuch prallen, dies in die Tat umzusetzen.

Im Redebeitrag der AAI klingt das so: „Die nachhaltige Beendigung des Rassismus und die Abschaffung der herrschenden Produktionsweise bedin- gen sich also notwendig gegenseitig, wenn Rassismus wie übrigens auch Antisemitismus aus der politökonomischen Konstitution bürgerlicher Subjektivität entspringen. Die Konsequenz der politischen Linken kann demnach nur die sein, das Kapitalverhältnis abzuschaffen, bevor das Kapitalverhältnis damit fortfährt die Menschen abzuschaffen.“ Der Gedankengang, der hier vorgestellt wird, funktioniert so: Man findet eine linke Praxis vor, die offensichtlich nicht (oder nur mäßig) dazu in der Lage ist, Ideologien, die der Vergesellschaftungspraxis im Kapitalismus entspringen, etwas wirksam entgegenzusetzen. Also rechnet man den Linken vor, dass das, was sie bekämpfen wollen, genau dieser Vergesellschaftungspraxis entspringt. Dem folgt aber nicht mehr, als dass man dem linken Praxis-Versuch eine ganz allgemeine und unkonkrete Parole entgegenstellt, der man natürlich nichts anderes als zustimmen kann: Abschaffung aller Verhältnisse, in denen der Mensch, bla bla bla. Unabhängig davon, dass die meisten Praxis-Versuche der versprengten Linken tatsächlich folgenlos bleiben, merken die kritischen KritikerInnen nicht, dass sie das Problem der Praxis und ihrer Voraussetzungen einfach umschippert haben. Übrig bleibt die Geste einer gerümpften Nase und des hochgezogenen roten Samthandschuhs – der kritische Kritiker des linken Aufklärers ist doch nichts anderes als ein besserwisserischer Aufklärer. Die Hamburger Kapelle Tocotronic spielt ihm seine postmoderne Melodie vor: „Ich bin kein Mensch in der Revolte, die Revolte ist in mir.“

Marx und die Kritik der Politik

Dem wäre entgegenzuhalten, was Kritik der Politik wirklich meint. Wenn ich hierzu einige Ausführungen in Bezug auf Karl Marx anstelle, dann nicht, weil der olle Bärtige es eh‘ schon immer gewusst hat und sich derjenige am besten selbst gefallen darf, der ihn am treffsichersten zitieren kann, sondern deshalb, weil er im Kontext der beiden genannten Texte ein wichtiger Bezugspunkt sein dürfte und ein Bezug auf Marx deshalb sinnvoll sein kann, um die Widersprüche in der Debatte klarer hervortreten zu lassen. Man kann konstatieren, dass im Gesamtwerk von Marx zwei Teilbereiche eine besondere Rolle spielen: Die Kritik der Ökonomie und die Kritik der Politik. Beide Gegenstände bedingen sich in ihrer Kritik gegenseitig, denn einerseits setzt das gesellschaftliche Klassenverhältnis, in dem die einen Besitzer von Produktionsmitteln sind, während die anderen nichts als ihre Arbeitskraft besitzen, voraus, dass die Besitzlosen einmal von den Produktionsmitteln – also den Bedingungen zur Verwirklichung ihrer Arbeitskraft – enteignet wurden und dies konnte historisch nicht anders geschehen als durch politische Gewalt. Andererseits erzeugt die gesellschaftliche Praxis von voneinander unabhängigen PrivatproduzentInnen quasi automatisch jenen allgemeinen gesellschaftlichen Ausschuss, den wir als Staat kennen – weil sich die einzelnen Kapital-Interessen gegenseitig widersprechen, müssen sie sich im bürgerlichen Staat miteinander vermitteln. Herrschaft und Eigentum, anders gesagt: politische Form und ökonomische Form bedingen sich wechselseitig – es ist kein Privateigentum ohne bürgerlichen Staat, der die Unverletzlichkeit des ersteren garantiert, denkbar. Während der erste Bereich – die Kritik der Ökonomie – in Marxens Hauptwerk eine systematische Ausformulierung gefunden hat, finden sich zur Kritik der Politik nur wenige Stellen, in denen Marx klar und deutlich Position bezogen hat. Er hat dies vor allem in drei Texten getan, an denen sich ausführen lässt, was es mit der Kritik der Politik auf sich hat: Im „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“, im Text „Zur Judenfrage“ (beide von 1844, MEW 1) und im Zirkular der Internationalen Arbeiterassoziation über die Pariser Kommune, „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ (von 1871, MEW 17). Während die ersten beiden Texte einen Fokus auf das Subjekt der Politik legen, führt letzterer Text in einer historischen Analyse aus, wie moderne Nationalstaatlichkeit entstanden ist und sich möglicherweise überwinden lässt.

Entfremdung von der eigenen Gesellschaftlichkeit

Das Problem des politischen Subjekts besteht nach Marx in der Zerrissenheit der bürgerlichen Persönlichkeit: sie zerfällt in den bourgeois auf der einen Seite, der sich privat reproduzieren muss und egoistisch seinen privaten Geschäften folgt und in den citoyen auf der anderen Seite, der Staatsbürgersubjekt ist und sich mit anderen Staatsbürgern über die Belange der Allgemeinheit berät. Aus dieser Zerrissenhei entspringt ein Blumenstrauß von Ideologien – denn das Staatsbürgersubjekt, das sich immer als souverän Handelndes verstehen muss, muss daher seine privaten Voraussetzungen von sich abspalten. Freiheit und Gleichheit kann sich das bürgerliche Subjekt nur deswegen als real existent vorstellen, weil es die reale Unfreiheit und Ungleichheit im Privatleben verbirgt. Weil es andererseits nicht in der Lage ist, diese Ungleichheiten als gesellschaftlich hervorgerufen und bedingt zu begreifen – denn die Sphäre des Vertrags geht ja wirkmächtig von Freien und Gleichen aus –, muss es die Existenz des Staates als lebensnotwendig erachten. Weil es seine privaten Bedingungen und egoistischen Interessen nicht von selbst gesellschaftlich vermitteln kann, braucht es den Staat, der die gesellschaftliche Qualität alles Tuns und Werkelns institutionalisiert und darin von den einzelnen bourgeois verselbstständigt und entfremdet. Nicht staatlich miteinander vermittelte Einzelinteressen sind für den Bürger nur als Mord und Totschlag vorstellbar, während der Staat das Recht auf Gewaltanwendung monopolisiert. Dementsprechend fordert Marx in den beiden erstgenannten Schriften, dass der bourgeois den citoyen in sich zurücknehmen müsse – das heißt, dass die privaten Menschen sich ihrer gesellschaftlichen Qualitäten bewusst werden und ihre Vermittlung in die eigene Hand nehmen müssen. Diese Zurücknahme des citoyen in den bourgeois macht konsequenterweise jede staatliche Vermittlung überflüssig. Marx spricht dies bspw. folgendermaßen aus: „In der Monarchie z.B., in der Republik als einer nur besondern Staatsform, hat der politische Mensch sein besonderes Dasein neben dem unpolitischen, dem Privatmenschen. Das Eigentum, der Vertrag, die Ehe, die bürgerliche Gesellschaft erscheinen hier […] als besondre Daseinsweisen neben dem politischen Staat, als der Inhalt, zu dem sich der politische Staat als die organisierende Form verhält […]. In der Demokratie ist der Staat als Besondres nur Besondres, als Allgemeines das wirkliche Allgemeine, d.h. keine Bestimmtheit im Unterschied zu dem andern Inhalt. Die neueren Franzosen haben dies so aufgefaßt, daß in der wahren Demokratie der politische Staat untergehe. Dies ist insofern richtig, als er qua politischer Staat, als Ver- fassung, nicht mehr für das Ganze gilt.“ (MEW 1, S.231f) Jenseits der hier für die Darstellung immanent notwendigen, aber für philosophisch ungeschulte LeserInnen schwer nachvollziehbaren Begriffsbestimmungen von Allgemeinem, Besonderem und Ganzem sowie von Form und Inhalt, ist hier entscheidend, dass es die Entgegenstellung von bürgerlicher Gesellschaft als Sphäre der Privatinteressen und politischem Staat als Sphäre des Allgemeinen, nach Marx in einer „wahren Demokratie“ nicht mehr geben soll. Ich habe diese Stelle aber vor allem deswegen herausgesucht, weil Marx hier von den „neueren Franzosen“ spricht und darin deutlich wird, was Voraussetzung und Fluchtpunkt seiner theoretischen Auseinandersetzung war: Dazu, sich mit den schwierigen Fragen von Staat und Gesellschaft herumzuschlagen, wurde Marx nämlich entscheidend von der französischen Revolution und der darauf folgenden Revolutionsepoche inspiriert, während er sich ähnliche Umwälzungen auch für Deutschland wünschte, aber schließlich vom Verlauf der 1848‘er Revolution schwer enttäuscht wurde.

Es schien so, als ob im weiteren Verlauf der Geschichte Frankreich jenes Land bleiben sollte, von dem die wichtigsten Impulse zu einer umfassenden Umgestaltung der Gesellschaft im globalen Maßstab ausgehen würden. Als im Jahre 1871 der Aufstand der Pariser Kommune ein machtvolles Fanal für die weltweite revolutionäre Arbeiterbewegung wurde, jedoch von der französischen Bourgeoisie unter Aufsicht der preußischen Militärs blutig niedergeschlagen wurde, hatte Marx sich freilich theoretisch entscheidend weiterentwickelt. In seiner Analyse der modernen Nationalstaatlichkeit, exerziert am Beispiel des Übergangs des Absolutismus in eine bürgerliche Republik in Frankreich, spielen dementsprechend die konkreten historischen und materiellen Voraussetzungen und Bewegungstendenzen jener Zeit eine wesentlich größere Rolle, als in seiner immanenten Kritik am Großphilosophen Hegel. Auch ist hier kaum noch von einem Ideal der Demokratie die Rede und die Staatskritik Marxens hatte sich radikalisiert. In seiner Betrachtung der Pariser Kommune entpuppte sich Marx als „Theoretiker des Anarchismus“ (Maximilien Rubel): für ihn war die Pariser Kommune „nicht eine Revolution gegen diese oder jene – legitimistische, konstitutionelle, republikanische oder kaiserliche – Form der Staatsmacht. Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft […].“ (MEW 17, S. 541) Was aber die Frühschriften Marxens mit seiner späteren Analyse verbindet, ist ein ähnlicher Gedanke – so wie der bourgeois den citoyen in sich zurücknehmen solle, so hat, laut Marx, die Gesellschaft in der Pariser Kommune die Staatsgewalt in sich zurückgenommen und darihabe die revolutionäre Arbeiterklasse historisch die politische Form ihrer Emanzipation entdeckt.

Voraussetzungen und Fluchtpunkt kategorialer Kritik

Die ganze Dimension der Marxschen Staatskritik konnte ich bis hierher und in diesem Rahmen freilich nicht ausführen. Aber ich wollte damit eines deutlich machen: die Ideen, einerseits das Subjekt der Politik zu erschüttern und abzuschaffen, so wie andererseits der Staat unmissverständlich abzuschaffen ist, – also das, was Kritik der Politik als Kritik der entfremdeten politischen Formen tatsächlich heißt – bezog Marx nicht aus den luftigen Sphären reiner Selbstreflexion, sondern sie entsprangen einerseits aus gesellschaftlichen Kämpfen, so wie sie andererseits aus sich heraus fordern mussten, sich in einer Zuspitzung dieser Kämpfe zu radikalisieren und zu verwirklichen. Ohne die französische Revolution und ohne den Aufstand der Pariser Kommune wäre Marx schwerlich auf solche Gedanken gekommen. Was im letzteren Fall interessant sein dürfte, ist, dass Marx dazu in der Lage war, bestimmte Tendenzen der Wirklichkeit – deren Teil die wirkliche Bewegung ist, die den jetzigen Zustand aufhebt – zu lesen und wahrzunehmen, die sich jedoch niemals in ihrer Reinform in dieser Wirklichkeit zeigen. So gab es zwar in der Pariser Kommune zahlreiche Dekrete und Ratsbeschlüsse, die Nachtarbeit verboten, Brotpreise auf ein erträgliches Maß reduzierten, Politikergehälter auf die Höhe eines gewöhnlichen Arbeitergehalts herabstuften, zum Teil sogar verlassene Privatbetriebe in genossenschaftliche Produktion überführten und damit Produktionsmittel praktisch kollektivierten, etc. – also alles Maßnahmen, die sich in ihrer Tendenz als kommunistisch bezeichnen lassen. Im Vorhaben, das Privateigentum in dieser Situation unumkehrbar abzuschaffen, verhielten sich die Pariser Kommunarden jedoch auf eigentümliche Weise zurückhaltend – die Reichtümer der Nationalbank blieben ebenso unangetastet wie die Betriebe jener Bürger, die sich nicht nach Versailles verdünnisiert hatten. Marx hat diese Zögerlichkeit der Kommunarden kritisiert, ebenso wie er andere Fehler im Verlauf dieses Aufstandes aufgearbeitet und kritisiert hat. Aber er wäre niemals auf die Idee gekommen, sich daneben zu stellen, die Nase zu rümpfen und zu nuscheln: Nein, Nein, das ist aber nicht der Kommunismus. Der Kommunismus ist eben keine Idee, sondern eine Bewegung, die sich notwendig durch Widersprüche hindurch vollziehen muss.

Dies ist für die Debatte über Realpolitik vs. Antipolitik deswegen entschei- dend, weil in Marxens Ausführungen deutlich wird, dass kategoriale Gesell- schaftskritik ihre Voraussetzung in Praxisversuchen und historischen Taten hat, denen gegenüber sich Kritik nicht indifferent verhalten kann, sondern ihre Impulse selbst aufgreifen muss. Ein kategorialer Bruch kann niemals ein reines Gedankending sein, sondern er muss ein realer Bruch in der Praxis sein2. Selbst in denjenigen historischen Momenten, in denen jede mögliche Praxis verstellt zu sein scheint, darf sich eine theoretisch-kritische Perspektive nicht mit kritischen Gesten und reiner Haltung begnügen – sie muss sich Rechenschaft über ihre eigenen praktischen Bedingungen ablegen (denn auch die radikalste Kritik gebiert sich nicht aus sich selbst), die über sich selbst hinauszutreiben sind. So wie gegen Theoriefeindschaft und Pseudo-Praxis anzugehen ist, so ist es doch wenig hilfreich, sich permanent einzureden, dass überhaupt keine kritische Praxis jenseits der Praxis der Theorie möglich sei. Die objektiven Bedingungen einer revolutionären Umwälzung sind nach wie vor gegeben, erkennbar und spitzen sich permanent zu – „nur“ sind die Revolutionäre von ihnen getrennt. Die eigenen Handlungsmöglichkeiten in den permanenten gesellschaftlichen Konflikten aufzuspüren, das würde bedeuten, sich seine eigenen sozialen Qualitäten anzueignen und wäre damit Teil jener Zurücknahme des citoyen in den bourgeois.

Das Schwierige und Seltene: der revolutionäre Wille entzündet sich an Problemen des Alltags

Nun befinden wir uns freilich am Beginn des 21. Jahrhunderts in einer etwas anderen Situation als Marx damals im 19. Jahrhundert. Insbesondere deswegen, weil sich die Produktivkraftentwicklung in den kapitalistischen Zentren hin zur Ausdifferenzierung der Wissensarbeit und des Dienstleistungssektors verschoben hat, müssen hier die Probleme der Ideologie einen besonderen Stellenwert in der Gesellschaftskritik erhalten. Zudem hat der Verlauf des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass das mörderische Potential von Ideologien uns dazu drängt, nicht nur von Produktionsbedingungen zu sprechen, sondern diese auch auf die Produktion von Ideologie zu beziehen. In dieser Beziehung ist der AGIL und der Autorin Eva Felidae dahingehend Recht zu geben, wenn sie Ideologiekritik forcieren und zuspitzen wollen. Ebenso bedarf es eines Maximalismus, der sich als Geste in beiden besprochenen Texten findet, der vor keiner Schranke Halt macht und der Alles will, anstatt sich mit Häppchen zufrieden zu geben. Doch auch in diesen Fragen müssen wir uns darüber bewusst werden, dass eine Erschütterung der Beziehung der Subjekte zu sich selbst und ein konkretes Streben nach dem Maximum keine reinen Gedankendinger sein können – ein solcher Bruch erfordert einen Bruch in der Praxis, wer alles will, der muss alles dafür tun. Wenn man aber die Redebeiträge und Texte der AGST (zu denen die AAI gehört) liest, bekommt man zum Teil den Eindruck, dass es hier weniger um eine Kritik der Zivilgesellschaft geht, die ja tatsächlich ganz und gar mit staatlichen und halbstaatlichen Institutionen verstrickt ist, sondern eher darum, die Angst davor loszuwerden, dass die eigenen hehren Ideale sich in einem praktischen Vollzug verunreinigen könnten. Weil es in Thüringen 2013 keine breiteren gesellschaftlichen Kämpfe gibt, äußert sich ein radikaler Anspruch in abstrakten Idealen und unverletzlichen Prinzipien.

1.600 Kilometer von Erfurt entfernt, haben einige spanische Anarchisten ihre Erfahrung reflektiert, welche Widersprüche auftreten können, wenn ein solch radikaler Anspruch mit plötzlich aufflammenden Riots konfrontiert wird, wie dies im Mai 2011 in Barcelona geschehen ist: „In Zeiten schwacher gesellschaftlicher Kämpfe ist es für auf unmittelbare Belange konzentrierte Anarchisten das einfachste, reformistische Sprache und Praktiken zu übernehmen und für Anarchisten, die sich revolutionären Praktiken verschrieben haben, ihre Aktionen in den Begriffen langfristiger Ideale auszuformulieren. Sobald eine größere Bandbreite von Menschen anfängt, wütender und entschiedener über ihre unmittelbaren Probleme zu reden, werden einige revolutionäre Anarchisten zum gegensätzlichen Pol springen und plötzlich über unmittelbare Probleme reden – und über kraftvolle, vielleicht sogar revolutionäre Lösungen – ohne ihre langfristigen Sehnsüchte und radikalen Analysen auszudrücken. Die anderen werden währenddessen die volkstümlichen Kämpfe verachten und sich weiter in Richtung rein anarchistische Projekte zurückziehen. Kompromisslose anarchistische Ideale mit der Komplexität unmittelbarer Probleme zusammenzuführen, ist die schwierigste Option und folglich die seltenste.“3

So weit entfernt die Situation in Katalonien, nicht nur geografisch, von der in Thüringen auch sein mag, so sehr erinnert die hier geschilderte Trennung innerhalb der spanischen anarchistischen Bewegung an die Trennungslinien innerhalb der Thüringer AktivistInnen: Während die einen im zivilgesellschaftlich-reformistischen Eventmanagement ihren möglicherweise radikalen Anspruch für sich behalten, werden die radikalen Imperative der anderen den Problemen des Alltags – zu denen die Konfrontation mit Nazigewalt auch gehört – nicht gerecht. Entgegen einer Aufspreizung radikaler Kritik in ihre theoretische Ausformulierung einerseits und ihrem Drängen zu revolutionärer Realpolitik andererseits, während erstere darin leer zu bleiben droht, wenn sie letzteres permanent von sich abspaltet, müssten sich revolutionärer Wille und der elende Vollzug des Alltagslebens aneinander entzünden. Wenn wir nun Praxisversuche der Linken vorfinden, die zurecht heftig kritisiert gehören, dann muss es zumindest einen Bezug auf eine bessere, radikalere Praxis geben. Wie diese Praxis aussehen kann, das ist kollektiv herauszufinden – dies erfordert aber, dass der kritische Kritiker seine Spekula-Warte verlässt und dahingeht, die verkehrte Trennung von „TheoretikerInnen“ auf der einen Seite und „PraktikerInnen“ auf der anderen aufzuheben4. In diesem Sinne schließe ich mit einem Zitat von Martin Dornis aus seinem etwas älteren, sehr lesenswerten Thesenpapier mit dem Titel „Antipolitik ist eine Möglichkeit“: Antipolitik „wendet sich entschieden dagegen, vor dem Hintergrund des ›Veränderns des kleinen eigenen Lebens‹ das ›große Ganze‹ zu vernachlässigen. Aber sie lehnt auch das Gegenteil davon ab: nur über die Gesellschaft und deren Zwänge zu reden, ohne sich selbst ändern zu wollen.“5

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1     Während ich an diesem Text geschrieben habe, ist mir zu Ohren gekommen, dass auf dem letzten Demo-Event, der Nachttanzdemo am 30.04 in Erfurt, der Redebeitrag von der AAI ausgebuht wurde. Das mag möglicherweise der oben beschriebenen Langeweile verschuldet sein, andererseits liegt es sicher nicht fern, anzunehmen, dass man sich einfach in seinen üblichen Abläufen nicht stören lassen wollte und den Redebeitrag der AAI eben als Störung empfunden hat. Deshalb ist es mir wichtig an dieser Stelle zu betonen, dass ich nicht in die Buh-Rufe einstimmen will, sondern mit diesem Text die Auseinandersetzung auf eine andere, inhaltliche Ebene tragen möchte.
2     „Die Feuerrose ist zurückgekehrt!“ Der Kampf um die Straßen von Barcelona, http://magazinredaktion.tk/barcelona.php
3     Dass die von mir skizzierte Trennung zwischen „TheoretikerInnen“ und „PraktikerInnen“ für die Auseinandersetzungen in Thüringen nicht aufgehen, zeigt sich daran, dass die Antifa Arnstadt-Ilmenau und die Antifaschistischen Gruppen Südthüringen (AGST) sich ja permanent in praktischen Auseinandersetzungen befinden und auf verdienstvolle Weise unermüdlich gegen den braunen Sumpf in Thüringen angehen. Hier zeigt sich meines Erachtens jedoch eine seltsame Diskrepanz zwischen ihrer Praxis einerseits und ihren Texten und Redebeiträgen andererseits – denn die Kritik, die hier vorgetragen wird, erscheint kaum als Kritik der eigenen Praxis, ergo als Selbstkritik. Aus Gesprächen mit einzelnen an der Vorbereitung der besprochenen Demo Beteiligten, kann ich sagen, dass diese Trennung hier zudem sehr stark wahrgenommen wird – was nicht zuletzt dafür spricht, dass die „PraktikerInnen“ beginnen sollten, auch von ihrer Warte her sich mit einer verkehrten Rollenteilung innerhalb der radikalen Linken auseinanderzusetzen.
4     http://www.streifzuege.org/2002/anti-politik-ist-eine-moeglichkeit

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