Die Kampagne„Alkohol? Kenn‘ dein Limit“ ist mit einem Budget von acht Millionen Euro jährlich die größte deutsche Kampagne zur Alkoholprävention. Finanziert wird sie vom Verband der Privaten Krankenkassen, umgesetzt von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Seit 2009 sollen Plakate, Postkarten, Kurzfilme und eine interaktive Webseite Jugendliche überzeugen, sich beim Alkoholkonsum zu mäßigen. Und nicht nur da. Das Bildungskollektiv Biko hat die geschlechts- und klassenspezifischen Anrufungen der Kampagne analysiert.
„Kenn‘ dein Limit“ oder es passiert was…
Wir haben vier Plakatmotive der Kampagne in einem Workshop gemeinsam analysiert. Die gezeigten Menschen sind Mitte 20 oder auch jünger und deutlich als Frauen und Männer identifizierbar. Die älteren könnten Student_innen oder Jugendliche in der Ausbildung sein, die jüngeren Schüler_innen. Alle sind weiß und entsprechen gängigen Mittelschichts-Schönheitsnormen.
Wir wollen unsere Analyse an einem exemplarischen Plakat beginnen, an dem sich die Verschränkung von klassen- und geschlechterspezifischen Anrufungen gut zeigen lässt. Es zeigt eine Szene in einer Bar. Anhand des Bildes und der ergänzenden Texte lässt sich leicht eine Erzählung entwickeln. Drei Freunde, ein heterosexuelles Paar und ihre Freundin, gehen etwas trinken. Der Mann trinkt viel und schnell. Die Freundin des Paars wirkt von ihrer Körperhaltung und ihrem Gesichtsausdruck her unsicher. Sie scheint sich an ihrem Glas festzuhalten und blickt hilfesuchend nach oben. Es wirkt, als suche sie Sicherheit im Alkohol. Die Konsequenzen nehmen die begleitenden Texte voraus: Die Unsichere wird im weiteren Verlauf des Abends so viel trinken, dass all ihre Hemmungen fallen. Der Mann im Vordergrund wird nach exzessivem Alkoholgenuss in der Intensivstation landen. Was mit seiner Freundin geschieht, bleibt unausgeschmückt. Ein junger Mann im Hintergrund gehört offenbar nicht zur Gruppe und fotografiert die unsichere Frau heimlich hinter ihrem Rücken. Er hat längere Haare und ist (auch im Vergleich zu den Männern auf den anderen Plakaten) besonders lässig gekleidet. Für den einen Abend scheint er eine Lücke im Leben der jungen Frau zu füllen. Er wird später Nacktfotos der Unsicheren ins Internet stellen. Auch er trinkt, die fast völlig versteckte Flasche verdeutlicht jedoch die untergeordnete Rolle, die hier dem Alkohol zukommt.
When boys and girls get drunk at a party…
Was passiert also wenn eine alleinstehende Frau die ihr gebotenen Hemmungen fallen lässt und sich ganz ungehemmt und spontan gehen lässt? Sie wird von einem Unterklasse-Mann ausgenutzt und gedemütigt. Der Mann im Vordergrund bringt sich hingegen selbst in Gefahr und zwar in gesundheitliche. Wenn wir dies in den Kontext der anderen Plakate stellen, sehen wir, dass im Rahmen der Kampagne durchgängig geschlechtsspezifische Gefahren drohen. Männer riskieren ihre Gesundheit, ihren Führerschein oder das Bestehen einer Prüfung. Ihnen droht somit, neben gesundheitlichen Schäden, vor allem der gesellschaftliche Abstieg. Frauen hingegen riskieren ihre Tugendhaftigkeit und zwar durch ihre eigene Nachlässigkeit, die Übergriffe durch Männer erst möglich macht.
Auf Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen basierende Studien zeigen, dass für Frauen der Kontrollverlust durch Alkoholkonsum stärker schambesetzt ist, als für Männer. Sie entschuldigen sich für einen Absturz, während dieser bei Männern häufig als Ausweis einer gelungenen Party gilt. Während für letztere der Alkoholkonsum beim Feiern im Fokus steht, wollen erstere den Rahmen der Feier gestalten, z.B. in der Rolle einer „guten Gastgeberin“. (vgl. Østergaard 2007; Landolt 2009)
Die Plakatserie scheint also gängige Rollenbilder anzusprechen, wenn sie Männer in erster Linie unter Aspekten der Gesundheit und des gesellschaftlichen Abstiegs anspricht und bei Frauen die Gefahr einer Demütigung durch Kontrollverlust konstruiert, der sie aus ihrer Rolle fallen lässt.
Für Männer wie für Frauen heißt die Lösung: trink‘ nicht so viel, behalt‘ die Kontrolle, mäßige dich. Dies bedeutet aber auch, dass Männer eben nicht dahingehend angesprochen werden, dass sie gefälligst nicht Nacktfotos von Frauen ins Netz stellen sollen, die das nicht wollen. Das Verhalten der Frau wird problematisiert, während der übergriffige Mann in dem Bild gar nicht erst adressiert wird. Diese Darstellung reproduziert die Vorstellung, dass Frauen dafür verantwortlich sind, sich gefälligst nicht so zu verhalten, dass sie die triebgesteuerten Männer herausfordern und damit zu übergriffigem Verhalten anstacheln. Frauen müssen sich mäßigen, weil Männer sich nicht mäßigen könnten. Interessant ist in diesem Kontext auch die Rolle der Freundin, der Frau im Vordergrund. Für sie wird keine Konsequenz ausgemalt, weil die Konsequenzen klar sind: Ihr Freund im Krankenhaus, ihre Freundin gedemütigt und das alles, weil sie gute Miene zum bösen Spiel gemacht und sich nicht zur schon abzusehenden Gefahr verhalten hat. Die Botschaft für die vernünftige Freundin ist damit: Du sollst auf die ungefestigte Freundin und den trinkfreudigen Partner einwirken, damit die lernen, ihr Limit zu kennen. Die Zielrichtung dieser Handlungsoption ist individuelle Mäßigung. Eine Perspektive gegenseitiger Verantwortung und kollektiven Handelns kommt nicht vor. Das Ziel, gemeinsam ein Miteinander zu organisieren, in dem es für Frauen möglich ist, Hemmungen fallen zu lassen, ohne Übergriffen ausgesetzt zu sein, ist in der Argumentation der Kampagne undenkbar.
Wir haben für die dargestellten Frauen und Männer der weißen deutschen Mittelklasse drei Gefahren ausgemacht, die bei unkontrolliertem Alkoholkonsum drohen: gesundheitliche Schäden, sozialer Abstieg und Demütigung durch übergriffige Männer. Besonders die Abstiegsdrohung lohnt besonderer Beachtung.
Saufen vor dem Kaufhaus
Was die Plakate der Bundeszentrale als Abstiegsperspektive zeichnen, ist anschlussfähig an die medialen Bilder über ALG II-Empfänger_innen: Verwahrloste Menschen, die sich nicht unter Kontrolle haben und übermäßig viel Junk-Food, Trash-TV und Dosenbier konsumieren. Auch diese Bilder sind selbstverständlich geschlechtsspezifisch gezeichnet: Schlampige Frauen und gewalttätige, erfolglose Männer. In der Bilderwelt der Kampagne ist dies die Zukunft der Individuen, die es nicht schaffen, sich zu mäßigen. Diese Menschen haben durch ihre Unfähigkeit oder ihren Unwillen, sich zu mäßigen ihren Abstieg selbst verschuldet. Sie können sich nur selbst wieder ins Spiel bringen, indem sie den Anrufungen zu Selbstkontrolle und -optimierung folgen.
Die einzige Person auf den Plakaten, die keinen Schaden durch unkontrollierten Alkoholkonsum davonträgt und trotzdem eine Geschichte hat, ist der Mann im Hintergrund in der Bar. Wir denken: Es ist kein Zufall, dass dieser lässiger gekleidet ist, als die anderen Männer und Frauen. Die Gefahr für Frauen geht in diesem Bild von einem fremden Mann aus einer niedrigeren Schicht aus und nicht vom eigenen Partner oder von Männern in einer sozialen Machtposition, wie Dominique Strauß-Kahn oder Rainer Brüderle. In beiden Aspekten reproduziert die Kampagne einen alten Diskurs, in dem die unteren Klassen als moralisch verdorben und undiszipliniert ausgemalt werden und damit als Gefahr für die bürgerliche Ordnung, deren Stabilität und deren moralische Integrität.1 Dieses „Lumpenproletariat“ kann, dieser Vorstellung entsprechend, auch nicht mit Appellen an die individuelle Verantwortung erreicht werden, weswegen es für den jungen Mann im Hintergrund auch keine Handlungsoption gibt.
Die Gefahr für die hart um Markterfolge kämpfende Mittelschicht lauert überall – und die Einzelnen können leicht selbst in die bedrohliche Masse der Abgehängten abrutschen, wenn sie sich nicht im Griff haben. Die neoliberale Ideologie knüpft an diese Erfahrung der beständigen Bedrohung des eigenen Lebensstandards, sowie an konservative Werte der arbeitenden Klassen an. Dies ermöglicht die Verallgemeinerung einer Haltung, in der Klassenverhältnisse ausgeblendet werden. In dieser steht die Mehrheit der selbstverantwortlichen „Leistungsträger“ (von der fleißigen Arbeiter_in zur Spitzenmanager_in) der Minderheit der Leistungsunfähigen und (noch schlimmer) -unwilligen gegenüber. Diese können dann für alle Missstände, von Verbrechen, überlasteten Krankenkassen und hohen Sozialausgaben bis zum Werteverfall, verantwortlich gemacht werden. Stuart Hall (2014) prägte für diese Strategie, die er am aufstrebenden Thatcherismus im Großbritannien der 1970er und -80er Jahre analysierte, den Begriff des „autoritären Populismus“, da sie an den „gesunden Menschenverstand“ der Massen appelliert, um sie für eine rechte Politik zu mobilisieren.
Selbstkontrolle für die Mittelschicht – Platzverweis für die Armen und Anormalen
Die untersuchte Kampagne richtet sich an junge Menschen der weißen Mittelschicht. Diese sollen lernen sich zu beherrschen, sich selbst zu führen und zu mäßigen, um weiterhin erfolgreich am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. In dieser neoliberalen Ideologie geht es um Anpassung an die undurchschaubaren Mechanismen des Marktes. Wo diese neoliberale Anrufung scheitert, ist der Ruf nach repressiven Maßnahmen nicht fern, wie man an der Aufregung über Punker auf dem Erfurter Anger sieht:
„Bürger und Händler in der Innenstadt machen sich Sorgen um Erfurts gute Stube. Der Angerbrunnen sollte eigentlich ein Aushängeschild sein, doch bei der Stadt mehren sich die Beschwerden über herumlungernde Punks, aggressive Bettler und Pöbeleien unter dem Einfluss von Alkohol. […] ‚Die Stadt tut sich keinen Gefallen, das zu dulden‘, meint der Centermanager [des ‚Anger 1‘] und fordert eine ‚gesetzliche Grundlage, um die unhaltbaren Zustände zu bekämpfen‘.“ (Thüringer Allgemeine vom 07.07.2015)
Wie die Beschwerden „besorgter Bürger“ und der Vorstoß der Erfurter Innenstadtwirtschaft zeigen, kommt eine Anrufung zu Mäßigung und Selbstkontrolle bei Punks nicht in Betracht. Als anormal angesehene und Arme sollen vertrieben werden, um sie aus dem Blickfeld der Mittelschicht zu schaffen. Die abendlichen besoffenen Horden in den Innenstadtkneipen werden von solchen Maßnahmen, sollten sie durchkommen, nicht betroffen sein. Schließlich haben sie ja das Geld, in solche Kneipen zu gehen und sind somit Teil des gesellschaftlichen Lebens. Für die Mittelschicht gilt die Ermahnung zur Mäßigung, während ein paar Meter weiter die Unterklasse von der Polizei gejagt und vertrieben wird. Genau das ist der Mechanismus von Hegemonie gepanzert mit Zwang, für den die Kampagne die ideologische Begleitmusik liefert.
Gegen die Pläne eines Alkoholverbots in der Erfurter Innenstadt sammelt die AG Wohnen und Stadtentwicklung der Partei „Die Linke“ Unterschriften unter
https://www.openpetition.de/petition/online/verhinderung-eines-alkoholverbots-in-der-erfurter-innenstadt
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Weil es sich in der Lirabelle offenbar gehört Fußnoten zu benutzen und es nur ein kleiner Nebenstrang ist, sei hier darauf hingewiesen, dass es in der Radikalen Linken auch eine Tendenz gibt, den prolligen Unterklasse-Mann als besonders sexistisch anzuprangern und gleichzeitig die intellektuell hergestellte Dominanz der werten Genossen als Problem auszublenden.
Verwendete und weiterführende Literatur:
Ulrich Bröckling, Thomas Lemke, Susanne Krasmann (2000): Gouvernementalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: dies.: Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/Main, S.7-40.
Stuart Hall (2014): Popular-demokratischer oder autoritärer Populismus. In: Ders.: Populismus. Hegemonie. Globalisierung. Ausgewählte Schriften 5. Hamburg, S.101-120.
Sara Landolt (2009): „Männer besaufen sich, Frauen nicht“. Geschlechterkonstruktionen in Erzählungen Jugendlicher über Alkoholkonsum. In: Binswanger, Ch., Bridges, M. et al. (Hg): Gender Scripts – Widerspenstige Aneignungen von Geschlechternormen., S. 243-264.
http://www.geo.unizh.ch/~slandolt/Landolt.Artikel2_2009.pdf
Jeanette Østergaard (2007): Mind the gender gap! When boys and girls get drunk at a party. In: Nordic Studies on Alcohol and Drugs 24. S.127-148.
http://www.nordicwelfare.org/PageFiles/4207/Ostergaard.pdf
Holger Wetzel: Alkoholmissbrauch am Erfurter Anger soll schärfer geahndet werden. Thüringer Allgemeine vom 07.07.2015
http://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/leben/detail/-/specific/Alkoholmissbrauch-am-Erfurter-Anger-soll-schaerfer-geahndet-werden-301596904
Gruppe Perspektiven (2014): Herrschaft durch Konsens – Macht und Politik bei Antonio Gramsci, http://www.perspektiven-online.at/2007/09/01/herrschaft-durch-konsens-macht-und-politik-bei-antonio-gramsci/
Joachim Schroeder (1996): Ungleiche Brüder. Männerforschung im Kontext sozialer Benachteiligung. In: BauSteineMänner (Hrsg.). Kritische Männerforschung. Hamburg.