Der rote Pullover

Karl Meyerbeer über Solidarität zwischen Arbeiter*innen

Mit 16 wollte ich eine Stereoanlage und habe dafür in den Ferien im kommunalen Energie- und Busunternehmen meiner Heimatstadt gearbeitet. Es war gegen Ende der alten BRD; die „Kraftversorgung“ war ein Relikt des Schaufensterkapitalismus: Energie, ÖPNV, Schwimmbäder, eben alles, was vor die Hunde geht oder unbezahlbar wird, wenn man es dem Markt überlässt.

Im Frühjahr habe ich im besagten Unternehmen Busse gereinigt: Die Decke von festgebackenen Diesel-Abgasen befreien, Sitze mit dem Nassstaubsauger reinigen und den Boden wischen. Das dauert, mit reichlich Pausen, wenn man sich nicht allzusehr anstrengt, vier Stunden pro Bus. Man musste den Schwamm vorsichtig in den Eimer mit der Seifenlauge tauchen. War der Schwamm zu nass, rann ein Strom heißes Dreckwasser am Arm herunter und nässte nach und nach den ganzen Körper, denn man arbeitete natürlich über dem Kopf. War der Schwamm zu trocken, bekam man die Decke nicht sauber, außerdem bedeutete weniger Wasser im Schwamm, dass man öfter den Arm vom Eimer zur Decke bewegen musste. Jeweils zwei Minuten schrubben bei acht Stunden Arbeit bedeutet mit Pausen, 180 mal die Hand vom Boden zur Decke zu bewegen – mit einem vollgesogenen Schwamm – was zu quälenden Schmerzen in der rechten Schulter führt. Die Idee, mehr Deckenplatten in kürzerer Zeit zu schrubben, wäre mir nicht gekommen. Die Anweisungen darüber, wie lange ein Reinigungsgang zu dauern hatte, waren sowieso unmissverständlich. Mein direkter Vorgesetzter war Ralf, ein ungelernter Hilfsarbeiter mit Vokuhila, viel Begeisterung für Autos und einer Vorliebe für rote Pullover. Wenn keine Ferienjobber da waren, gehörten die Deckenplatten in seinen Aufgabenbereich und er wäre blöd gewesen, sich von mir die Norm kaputt machen zu lassen. Statt meine Kreativität in die Arbeit zu stecken, habe ich Strategien entwickelt, ihr zu fliehen. Z.B. gab es in der Stunde vor der Mittagspause und auch am Nachmittag Zeiten, bei denen sich kein Mensch in der Bushalle blicken ließ – Zeit für ein Schläfchen auf der Rückbank. Einmal hat Ralf mich erwischt. Ich wachte auf, weil jemand laut mit mir redete: „Wenn das hier einer mitkriegt, gibt’s den größten Ärger!“ „Au weia“, dachte ich. Es hatte ja schon jemand mitgekriegt. Aber der angedrohte Ärger blieb aus.

Beim Essen habe ich gelernt, wie Klassengesellschaft funktioniert. Die Kantine war ein rechteckiger Raum mit 20 langen Tischen in Reih und Glied wie die Busse auf dem Parkplatz oder die Arbeiter_innen in ihren Schließfächern. Rechts saßen die gelernten und ungelernten Arbeiter. Sie trugen blaue Overalls, darunter Synthetik-Pullover in schreienden Farben. Sie kamen mit dem Golf oder mit dem Manta, die Lehrlinge mit dem Bus. Sie aßen Erbsensuppe oder Schnitzel mit Kartoffelsalat. Links saßen die PlanerInnen: Verwaltungsangestellte und Ingenieure. Sie trugen Jeans und Hemden, manche auch sportliche Jacketts, die Frauen Blusen und Strickjacken. Die Männer kamen mit Audis zur Arbeit, die Frauen wurden gebracht. Sie aßen Cordon Bleu oder Salat mit Putenstreifen. Dazwischen saßen die Busfahrer. Die trugen eine Art Uniform aus unglaublich hässlichen hellblauen Hemden, dunkelblauen Strickjacken und grauen Stoffhosen. Was die gegessen haben, weiß ich nicht. Der Direktor – ein dicker, durch langjährige SPD-Mitgliedschaft qualifizierter Mann – fuhr einen schwarzen Mercedes und aß nicht in der Kantine. Die Sitzordnung war nirgends festgelegt, aber es wäre undenkbar gewesen, sich mit rußverschmiertem Blaumann zu den Blusen und Hemden zu setzen. Und so aß ich bei denBlaumännern und hörte mir ihre Gespräche über Fußball, Frauen, Autos, Urlaub und Bier an. Mein erster sozialer Aufstieg bestand darin, dass ich in den Sommerferien durch Vermittlung meiner Eltern in der EDV-Abteilung arbeiten durfte. Ich machte mich zwar nicht mehr schmutzig, dafür war die Arbeit unglaublich langweilig. Im Grunde bestand die Tätigkeit in Suchen und Ersetzen, wie es heute jede Textverarbeitung kann. Der Texteditor der altehrwürdigen Großrechenanlage (schwarze Schrift auf bernsteinfarbenem Grund) hieß »ed« und konnte das nicht. Nach zwei Tagen war ich ob der Sinnlosigkeit meiner Arbeit so frustriert, dass ich in den Kaffeepausen nicht mehr in die Kantine ging, sondern jede freie Minute damit zubrachte, die Maschine zu verstehen. Nach ein paar Tagen hatte ich ein kleines Programm geschrieben, das meine Aufgabe automatisch innerhalb von wenigen Minuten erledigte. Von »neuen Steuerungsmodellen« hatte ich natürlich noch nichts gehört und es war auch weniger, dass man mich gezielt bei der Kreativität gepackt hätte, als dass die Zeit im Büro einfach so geisttötend langweilig gewesen war, dass mir die Steigerung meiner eigenen Produktivität als einziger Ausweg schien, um nicht verrückt zu werden. Niemand war sauer, dass ich die Norm überboten hatte. Der Chef der EDV gab mir ein neues Ziel: ich sollte eine einfache Abrechnungs-Software schreiben, eine Aufgabe, die eigentlich ein externer Dienstleister hätte übernehmen sollen. Dass ich als Ungelernter benutzt wurde, um den Preis des Freelancers zu drücken, ist mir nicht in den Sinn gekommen. Dabei hatte ich im Vorjahr doch mitbekommen, wie Ralf seine Norm verteidigt hatte. Aber dass das Schläfchen auf der Rückbank mein erster Arbeitskampf gewesen war, hatte ich nicht verstanden.

Ebenso war mir immer noch unklar, wieso ich ohne Probleme wieder eingestellt worden war. Hatte Ralf niemanden von meinem Schläfchen erzählt? Ich habe nicht verstanden, wieso. Bis zu der Sache mit dem roten Pullover.

Weil die Stereoanlage immer noch nicht voll bezahlt war, arbeitete ich in den Herbstferien im Bäderbetrieb, wo ich wieder Ralf unterstellt war. Zu meinem Erstaunen sagte er kein Wort über meine Verfehlung, als wir an meinem ersten Arbeitstag das Betriebsgelände verließen, um im Schwimmbad Müll aufzusammeln. Sichtlich gut gelaunt wies er mich in einen der blauen Kastenwagen und nahm selbst auf dem Fahrersitz Platz. Dann brachte er das altertümliche Gefährt schwungvoll in Gang, und zirkelte es mit quietschenden Reifen knapp durch den Schlagbaum am Werkstor. Was er nicht bemerkt hatte, war der dicke schwarze Mercedes, der gleichzeitig von draußen hinein fuhr. Natürlich kannte der Direktor nicht alle 60 Arbeiter persönlich. Aber er hatte sich gemerkt, dass im Fahrerhäuschen des blauen LKW, der ihn geschnitten hatte, ein roter Pullover gesessen hatte. Morgens um 9 fand der Vorfall statt, um 10 erhielt der Polier die Anweisung, den Verkehrsrowdy ausfindig zu machen, um 11 wussten die Kollegen, dass ein Kollege mit rotem Pullover gesucht wurde. Und um 12, kurz vor der Mittagspause, wechselte Ralf diskret seinen Pullover, weil ihn ein Kollege, kaum dass er vom Außendienst zurückgekommen war, darauf hingewiesen hatte, dass er gesucht wurde. So kam es, dass der Direktor beim Stolzieren durch die Kantine zwar trotzige Gesichter sah, aber keinen roten Pullover.

 

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