fragt die Projektgruppe Erfurt im Nationalsozialismus beim DGB-Bildungswerk Thüringen e.V.
Am Abend des 19. Februars 1933 wurde der Erfurter Arbeitersportler Werner Uhlworm in der heutigen Breitscheidstraße von einem SA-Mann erschossen. Einen Tag später, am 20. Februar 1933, berichtete die sozialdemokratische Tageszeitung „Die Tribüne“ über die Ermordung. Der Artikel trug die Überschrift „Wie lange noch Nazi-Terror?“. Aus heutiger Perspektive ist die Ermordung Werner Uhlworms nicht das Ende, sondern der Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die in der Geschichte ohne Beispiel ist. Heute wissen wir um die mörderische Dynamik des Nationalsozialismus, um die systematische Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden in der Shoa, um den Vernichtungskrieg gegen die Menschen Osteuropas.
In der Wahrnehmung vieler kritischer Zeitgenossinnen und -genossen hatte die Brutalität der nationalsozialistischen Gewalt sowie deren gesellschaftliche und juristische Folgenlosigkeit jedoch bereits im Februar 1933 ein Maß erreicht, das viele Antifaschistinnen und Antifaschisten rat- und hilflos machte. Und in der Tat berichtet die Titelseite der gleichen Ausgabe der Erfurter Tribüne gleich von mehreren Toten und Schwerverletzten: In Chemnitz wurde ein Angehöriger des Reichsbanners – eine 1924 gegründete, sozialdemokratisch dominierte Selbstschutzorganisation gegen die Gewalt von Rechts – von einem Nationalsozialisten erstochen. In Bad Doberan fielen 30 Schüsse, als SA-Leute und Sozialdemokraten aufeinander trafen – zwei Reichsbannerleute starben. In Hamborn bei Duisburg wurden fünf kommunistische Arbeitersportler in einem Bootshaus überfallen, drei konnten schwerverletzt in ein Krankenhaus eingeliefert werden, einer erlag jedoch noch am Tatort den Schüssen seiner Mörder.
Erinnern – Vergessen
Unmittelbar nach der Befreiung vom Nationalsozialismus war die Erinnerung an die ersten Ermordeten noch präsent. Bereits im September 1945 wurden unter Leitung des damaligen Oberbürgermeisters Hermann Jahn mehrere Straßen in Erfurt umbenannt, darunter auch je eine nach Kurt Beate und Werner Uhlworm. Ein Jahr später wurde auf dem Erfurter Hauptfriedhof ein vom Architekt Max Brockert entworfener Ehrenhain für die Opfer des Faschismus, kurz ODF, eingeweiht. Auch hier wurde an Werner Uhlworm und Kurt Beate, der in der gleichen Nacht wie Werner Uhlworm ebenfalls angeschossen wurde und wenige Tage später an den Verletzungen starb, gedacht: zwei der stilisierten Urnen tragen ihre Namen. Im Unterschied zur BRD, wo die Würdigung des Widerstands von Arbeiterinnen und Arbeitern jahrzehntelang marginalisiert wurde, war die Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand insbesondere kommunistischer Arbeiter in der DDR wesentlicher Bestandteil staatlicher Erinnerungspolitik und -praxis.
Mit dem Ende der DDR hat sich auch die Erinnerungskultur in Erfurt stark verändert. Auf der einen Seite gab es zivilgesellschaftliche Bündnisse, die die Erinnerung an Opfer- und Akteursgruppen, die in der DDR eine geringere Rolle spielten, ins Zentrum stellten. Das am 1. September 1995 gegen viele Widerstände durchgesetzte Denkmal für den unbekannten Wehrmachtsdeserteur auf dem Petersberg bezeugt dies genauso wie das bürgerschaftliche Projekt „Erfurter GeDenken“, das seit 2009 das Schicksal einzelner deportierter Jüdinnen und Juden mit sog. Denknadeln an konkreten Orten im Stadtraum markiert.1 Und auch die Auseinandersetzung mit der lokalen Tätergeschichte im Zusammenhang der Diskussion um einen angemessenen Umgang mit dem Gelände der ehemaligen Firma Topf & Söhne war Teil dieser Veränderung der Erinnerungskultur vor Ort.
Auf der anderen Seite fanden auch in Erfurt die Debatten um „deutsche Opfer“ – sei es im „Bombenkrieg“ oder als „Heimatvertriebene“ – ihren Niederschlag. So erfolgte in den 1990er Jahren eine Umwidmung des erwähnten Ehrenhaines, der dessen ursprüngliche Intention auf den Kopf stellte: Die Inschrift „Opfer des Faschismus“ wurde ersetzt durch „Auch diese Opfer des I. und II. Weltkriegs fanden hier ihre Ruhe“, darunter setzte man kurzerhand auf drei neuen Schrifttafeln die Namen von 116 gefallenen Wehrmachtssoldaten. Die gebotene Differenzierung zwischen Opfern und Tätern wurde damit verwischt und so verwunder es nicht, dass das Spektrum der Organisationen, die hier ährlich zum Volkstrauertag Kränze niederlegen, vom Erfurter Oberbürgermeister über den Verteidigungsminister und der Russischen Botschaft bis hin zur rechtsextremen Splittergruppe Pro Erfurt reicht.
Vergessen – Erinnern
Beide Entwicklungen führten dazu, dass die Erinnerung in Erfurt an die Durchsetzungsphase nationalsozialistischer Herrschaft vor Ort, aber auch an den antifaschistischen Widerstand dagegen verblasste. Namen wie Werner Uhlworm oder Kurt Beate sagen nur noch wenigen etwas. Um dem etwas entgegen zu setzen, organisierte die Projektgruppe Erfurt im Nationalsozialismus beim DGB-Bildungswerk Thüringen für den 19. Februar 2013 einen Stadtrundgang unter dem Titel: „Vor 80 Jahren: die ersten Toten des NS-Terrors“. Der Rundgang verfolgte dabei grundsätzlich drei Ziele: Erstens sollte an die konkreten Ereignisse und handelnden Personen in Erfurt im Jahr 1933 erinnert werden und diese damit ins lokale Gedächtnis zurückgeholt werden. Zweitens sollte die Machterlangung der Nationalsozialisten sowie der Widerstand dagegen im Viertel zwischen heutiger Magdeburger Allee und Friedrich-Engels-Straße konkret verortet und somit räumlich erfahrbar gemacht werden. Der Blick sollte damit ganz bewußt auf einen Teil der Stadt gelegt, der bei konventionellen Stadtrundgängen keine Beachtung findet.2 Und Drittens ging es darum, Menschen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch-solidarisch auf die Ermordeten beziehen, eine Auseinandersetzung mit einem Teil der eigenen Bewegungsgeschichte zu ermöglichen.
Der Einladung zur Spurensuche waren trotz des kalten Wetters rund 30 Menschen gefolgt, darunter Menschen mit gewerkschaftlichem Hintergrund, Antifas und Bewohner_innen des Viertels.
Zurück ins Blechbüchsenviertel
Der Stadtrundgang startete vor dem ehemaligen Arbeiterkulturhaus Tivoli in der Bebelstraße. Die Bebelstraße hieß in den Dreißiger Jahren Udestedter Straße, das Karree zwischen Magdeburger Allee, Breitscheidstraße und Friedrich-Engels-Straße war Teil des sogenannten Blechbüchsenviertels. Die heutige Johannesvorstadt war mit der zunehmenden Industrialisierung seit den 1880er Jahren entstanden, Ilversgehofen wurde erst 1911 nach Erfurt eingemeindet. In den zwanziger Jahren lebten hier vor allem ArbeiterInnenfamilien und kleine Angestellte, Selbständige und zunehmend auch Arbeitslose. Hier prägte sich das typische Milieu der ArbeiterInnenbewegung in all seinen Schattierungen heraus. Sozialdemokraten wohnten mit Kommunistinnen in einem Haus, gemeinsam arbeitete man im gleichen Betrieb oder wanderte ins Grüne, Kinder aus sozialdemokratischen Familien gingen hier im Kultur- und Gewerkschaftshaus Tivoli zur Vorführung sowjetischer Filme. Bei allen parteipolitischen Auseinandersetzungen zwischen SPD, KPD und den vielen kleineren Gruppen blieb ein gemeinsamer Alltag im Viertel.
Der zweite Halt des Rundgangs erfolgte gegenüber dem Gelände der ehemaligen Schuhfabrik Heinz Cerf & Fritz Bielschowsky in der Magdeburger Allee. Beispielhaft für jenen oppositionellen Teil der ArbeiterInnenbewegung jenseits von KPD und SPD wurde hier an Ernst Hosenfeldt erinnert, der in der Erfurter Ortsgruppe des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds, kurz ISK, aktiv war. Der ISK war 1925 als eine Art Plattform gegründet worden, seine Mitglieder engagierten sich in allen Teilen der ArbeiterInnenbewegung. Dabei griff der ISK auch in die Lebensweise seiner Mitglieder ein. Überzeugt davon, dass Suchtmittel den Vernunftgebrauch einschränken, waren die Mitglieder aufgefordert, auf Alkohol und Zigaretten zu verzichtet. In Achtung vor dem Lebensrecht der Tiere aßen ISK-Aktiven kein Fleisch, sondern betrieben in Berlin und Köln mehrere vegetarische Restaurants. Ernst Hosenfeld war nicht nur im ISK aktiv und schrieb für dessen Tageszeitung „Der Funke“ Artikel, er war auch Vorsitzender des Angestellten-Betriebsrates der Schuhfabrik Hoffmann und Stenger. 1933 stuften Ihn die Nazis als „linksradikal“ ein und setzten ihn als Betriebsrat ab, am 18. April 1935 wurde Ernst Hosenfeldt von der Gestapo verhaftet, da er seine Aufgabe als Ortsgruppenleiter des ISK auch nach 1933 illegal weitergeführt hatte. Angeklagt wegen Vorbereitung zum Hochverrat wurde Hosenfeldt am 23. August 1935 zu 4 Jahren Zuchthaus und 5 Jahren Ehrverlust3 verurteilt.
Eine weitere Station des Rundgangs war der Johannesplatz, wo der Rot-Sport-Verein „Vorwärts“ seinen Sportplatz hatte. Insbesondere in der Weimarer Republik nahm der ArbeiterInnensport, der sich bewußt von den deutschnationalen bürgerlichen Turnvereinen absetzte, eine wichtige Funktion innerhalb der ArbeiterInnenbewegung ein. Von der Polizei misstrauisch beäugt, waren die ArbeiterInnensportvereine trotz eines klar politischen Selbstverständnisses Orte der Geselligkeit und des Austauschs, insbesondere auch für die zunehmende Zahl der Arbeitslosen. Dass hier nicht nur Parteimitglieder aktiv waren, zeigt Werner Uhlworm, der selbst kein Mitglied einer Partei war, aber zum Umfeld der KPD gehörte.
Nächster Haltepunkt war die Straßenkreuzung Breitscheidstraße – Josef-Ries-Straße, an der Werner Uhlworm am 19. Februar 1933 erschossen und Kurt Beate tödlich verletzt wurde. Obwohl die Polizei noch ermittelte, war bereits am 21. Februar in der nationalkonservativen Mitteldeutschen Zeitung zu lesen: „Wie wir noch erfahren, ist der Kommunist Uhlworm ein Provokateur. Der Streit wurde von den Kommunisten begonnen, so dass die Angegriffenen ohne Zweifel in Notwehr gehandelt haben.“ Der Versuch, Opfer zu Tätern zu machen, fruchtete zumindest bei den Menschen im Viertel augenscheinlich nicht. Trotz des Verbots aller Kundgebungen gingen zur Beerdigung von Werner Uhlworm am 24. Februar 1933 tausende Menschen auf die Straße. Über die letzte antifaschistische Massenartikulation in Erfurt schrieb die sozialdemokratische Tageszeitung „Tribüne“: „Zahlreich waren die Kränze, die die Organisationen der Arbeiterschaft und die Belegschaften der Betriebe am Grabe des Toten niederlegten. Die Kranzdelegationen der Eisernen Front, der proletarischen Parteien, der Gewerkschaften und Belegschaften wurden von den an der Straße stehenden Werktätigen mit Freiheitsrufen und dem kommunistischen Parteigruß begrüßt.“
Die vorletzte Station des Rundgangs war in der heutigen Lassallestraße 16, wo Werner Uhlworm ein kleines Frisörgeschäft betrieb. Um die Erinnerung an die Ereignisse vor 80 Jahren auch nach außen sichtbar zu machen, wurden am Haus die Portraits der beiden Ermordeten zusammen mit einer temporären Erinnerungstafel angebracht.
Letzter Haltepunkt war wiederum die Bebelstraße (damals Udestedter Straße), wo daran erinnert wurde, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus im Viertel trotz Terror und Indoktrination nicht 1933 endete. Zum Teil aus ehemaligen Hitlerjungen rekrutierte sich der Fahrradclique der „wilden Udestedter“, die den NS-Staat und seine Jugendorganisationen im September 1938 sichtbar herausforderten. Sie trafen sich hinter der Krämerbrücke oder in der Udestedter Straße, hatten blau angestrichene Fahrräder, an denen ein Wimpel mit weißem Totenkopf angebracht war, und prügelten sich mit HJlern. Dem Anspruch des NS-Staats auf totalitären Zugriff auf die Jugend widersetzten sie sichwahrnehmbar.
Was folgt?
Das spezifische Milieu, aus dem sich der Widerstand gegen die Machterlangung der Nationalsozialisten 1933 wesentlich formte, existiert heute nicht mehr, die Johannesvorstadt ist keine antifaschistische Hochburg mehr. Dass das Thema des Rundgangs dennoch keine bloße Vergangenheit ist, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass die während des Rundgangs für Werner Uhlworm und Kurt Beate aufgehängten provisorischen Erinnerungstafeln bereits am Folgetag verschwunden waren, ein in die Fassade des gleichen Hauses eingeritztes Hakenkreuz hingegen weniger zu stören scheint. Dies macht sinnbildlich deutlich, wie dringend es geraten ist, dass sich auch Linke an der „Produktion“ von Vergangenheit beteiligen, die die Verbindungen zur Gegenwart herstellt. Die lokale Geschichte zum Nationalsozialismus bietet dafür unseres Erachtens nach einen guten Rahmen. Sie ermöglicht es, konkret handelnde Menschen ins Zentrum zu stellen und allgemeine und abstrakte gesellschaftliche Entwicklungen räumlich verortbar und dadurch nachvollziehbarer zu machen. Eindimensionale Erzählungen, die ausschließlich auf Identitätsstiftung abzielen, sollten dabei genauso vermieden werden wie einfache Parallelisierungen mit dem Hier und jetzt. Irritationen, wie etwa der auch in der antifaschistischen Arbeiterbewegung der Weimarer Republik weit verbreitete Antisemitismus, oder eigene Ratlosigkeit, wie etwa angesichts der Beteiligung widerständiger Arbeiter der Firma Topf&Söhne an der Installation der Krematoriumsöfen in Auschwitz, sollten nicht verschwiegen, sondern als Reflexionpotenzial wahrgenommen werden. Der Versuch, die Geschichte der Besiegten zu schreiben, muss zwangsläufig bruchstückhaft und unvollständig bleiben. Dennoch halten wir die Beschäftigung mit der eingangs gestellten Frage, wer Werner Uhlworm und all die anderen eigentlich war, für sinnvoll.
———————————
1 Andere Opfer- und Akteursgruppen wie Sinti und Roma, Homosexuelle oder Zeugen Jehovas haben weiterhin kaum einen Platz im lokalen Gedächtnis der Stadt Erfurt.
2 In den letzten Jahren lässt sich eine zunehmende touristische Vermarktung von Geschichte in Erfurt beobachten, die ihren Fokus auf die Inszenierung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Geschichte als wichtigem Bestandteil einer touristischen Marketingstrategie legt. Wer in den Sommermonaten durch die Innenstadt geht, kann beobachten, wie in unzähligen Stadtführungen die Stadt zur Kulisse und StadtführerInnen zu kostümierten SchauspielerInnen werden. Geschichte außerhalb dieses innerstädtischen „Freilichtmuseums“ findet hingegen kaum statt.
3 Die bürgerlichen Ehrenrechte umfassen das aktive und passive Wahlrecht sowie das Bekleiden öffentlicher Ämter.