Zwischen Aufbruch und Lethargie – Antifaschismus in Erfurt

Eine politische Auswertung von Protest und Widerstand gegen die Nazi-Aufmärsche am 1. Mai in Erfurt und dazwischen (2007 – 2013). Von AKE.

Seit einigen Jahren hat die Nazi-Szene in der BRD den 1. Mai wieder als Aufmarsch-Termin für sich entdeckt. In Thüringen waren die NPD und andere Neonazi-Strukturen schon früh mit dabei, einen „Antikapitalismus“ von rechts und den „nationalen Sozialismus“ zu propagieren oder die „soziale Frage“ von rechts zu beantworten. Ihre Agitation gegen Hartz-IV oder Parolen, wie „Arbeitsplätze zuerst für Deutsche“, stießen in der Gesellschaft teils auf offene Ohren und Zustimmung – auch weil Rassismus, Chauvinismus sowie Nationalismus in der Mitte der Gesellschaft verankert sind und die Fixierung auf Lohnarbeit diese Parolen anschlussfähig machten.

Doch letztlich zeigt ein genauer Blick auf diesen rechten „Antikapitalismus“ oder „nationalen Sozialismus“, dass er weder antikapitalistisch noch sozialistisch ist. Er ist die gewaltförmigste und mörderischste Durchsetzung kapitalistischer Ausbeutung – das Vorbild ist der Nationalsozialismus: Shoa, Porajmos, Krieg, Entrechtung und Ermordung von DemokratInnen, Linken, „Asozialen“ und Homosexuellen, Abschaffung von Demokratie, … Konsequenter Antifaschismus, das muss in der BRD für Linke jedweder Strömungen – und das lehrt die Geschichte – daher die Geschäftsgrundlage ihrer Politik – oder bitteschön: Anti-Politik – sein.

Aus den Erfahrungen der letzten Jahre in Erfurt haben wir uns als [ake] entschieden, für den 1. Mai 2013 einen anderen Weg als bisher zu gehen. Rückblickend sind auch wir nicht mit allen Entscheidungen, allen Diskussionsverläufen und Umsetzungen zufrieden und würden bei einem nächsten Mal – für 2014 hat die NPD bereits erneut einen Aufmarsch am 1. Mai in Erfurt angemeldet – an manchen Punkten anders handeln. Aber der Versuch war richtig und das Ergebnis hat gestimmt. Doch beginnen wir von vorn und werfen einen Blick zurück, um unseren Weg zu erklären:

2007: Erfolg, aber kein Weiter

2007 hatte die NPD einen Aufmarsch für den 1. Mai in Erfurt angekündigt. Um ein antifaschistisches, linkes Bündnis dagegen zu organisieren gründete sich Ende 2006 die „antifaschistische koordination erfurt“ [ake]. Das Bündnis reichte von autonomen Antifas über GewerkschafterInnen, ChristInnen bis zu Aktiven aus linken Parteien. Gemeinsam verständigte man sich damals darauf, eine gemeinsame große Demo zu organisieren. Die Mobilisierung lief gut, es gab Veranstaltungen, gute Plakate und Flyer – die Resonanz reichte bis weit in ein links-alternatives, (jugend-)kulturelles Milieu. Selbst eines der beiden großen Stadtmagazine druckte auf einer ganzen Seite einen Text der [ake] um den Protest zu unterstützen. Am Ende waren ungefähr 3.000 Menschen auf der Straße, die vom Leipziger Platz aus durch die Stadt zogen: Die Demo war deutlich schwarz-bunt, inhaltlich klar antifaschistisch, links in all seinen Spektren und vermittelte ein entschlossenes Bild, sowohl hinsichtlich der Aktionsorientierung als auch hinsichtlich der Akzeptanz aller Seiten, diese Breite des Bündnisses gemeinsam auf der Straße zu wollen. Überregional gelang es, Menschen nach Erfurt zu mobilisieren – die Demo war ein wichtiger Baustein, um letztlich den Aufmarsch zu unterbinden. Direkte Aktionen gegen Nazis im Umfeld des NPD-Treffpunktes im Park hinter dem Bahnhof sowie eine große Sitzblockade am ver.di-Haus waren weitere Bausteine, die am Ende zu einer Verhinderung führten. Eine große (Bündnis-)Demo, Blockaden und direkte Aktionen waren die Mischung, die dafür sorgte, dass die Polizei zu der Einschätzung kam, dass sie nicht in der Lage sei, den Aufmarsch der 1.000 NPD-Nazis mit vertretbaren Mitteln durchzusetzen. Somit war auch Erfurt 2007 – und das wollen wir nur der Vollständigkeit hier erwähnen, weil manchmal anderes behauptet wird – keine militante Verhinderung eines Aufmarsches, sondern das Zusammenspiel aus eigenem antifaschistischen Widerstand und politischer Konstellationen. Das letzte Mal, dass in der BRD ein Nazi-Aufmarsch tatsächlich aus eigener Kraft und gegen staatlichen Willen verhindert wurde, dürfte der 29. Oktober 2005 in Göttingen gewesen sein. Davon war und ist die Situation in Erfurt weit entfernt.

Nach dem erfolgreichen 1. Mai 2007 begab sich die [ake] auf den Weg in den antifaschistischen Alltag – mal mehr, oft weniger erfolgreich. Eine Kampagne gegen einen Nazi-Laden am Anger hatte schnell Erfolg, die breitere Kampagne gegen all die anderen (damals) existierenden Läden floppte. Die antifaschistische Intervention gegen die Präsenz von Nazis um den später als Geheimdienst Spitzel aufgeflogenen Kai-Uwe Trinkaus, der NPD und rechten Hools bei den Protesten des „Bündnisses für soziale Gerechtigkeit“ auf dem Anger waren anstrengend und ermüdend – am Ende aber erfolgreich. Irgendwann war klar: Nazis bekommen dort keinen Fuß auf den Boden und sahen sich – fast jedes Mal – mit irgendeiner Form von Protest und Widerstand konfrontiert, teils symbolisch, teils sehr handfest. Auch hier sorgte letztlich das Bündnis verschiedener AkteurInnen und verschiedener Aktionsformen für Erfolg.

2010: Politische Pleite

2010 sah dann vieles ganz anders aus. Erneut hatte die NPD einen Aufmarsch am 1. Mai angemeldet. In den Jahren zuvor war es in verschiedenen Städten durch massenhafte (Sitz-)Blockaden gelungen, nicht nur Nazi-Events zu be- und verhindern. Im Sommer 2007 blockierten Tausende an der Ostsee den G8-Gipfel, in Jena setzten sich tausende Menschen dem „Fest der Völker“ in den Weg und auch in anderen Städten gelang es, Nazis so zu stoppen. In Erfurt hatte es in den Jahren zuvor immer wieder Infostände, Kundgebungen und Gewalt durch Nazis gegeben, nach dem „Superwahljahr“ 2009 hatte aber die Präsenz der NPD wieder abgenommen und der Streit zwischen dem kriminellen Nazi-Spitzel Trinkaus und der NPD hatte zu einer Spaltung und nachhaltigen Schwächung der Szene geführt. Proteste gegen Infotische oder Kleinkundgebungen waren meist trist: Nur wenige Menschen vollführten – durchaus mit großem Engagement – die immer gleichen Rituale und sorgten nicht dafür, dass Nazis an irgendeinem Punkt in die Defensive gerieten. Von einer antifaschistischen Offensive, um Nazis aktiv zurück zu drängen, war erst Recht nichts zu spüren. Antifaschistische Lethargie überall. Als nun der Aufmarsch der NPD für den 1. Mai 2010 anstand, war es für viele naheliegend, einen Blick auf die „neuen“ Blockadekonzepte zu werfen. Viele dachten, es sei ein Musterkonzept, das ohne Rücksicht auf lokale Gegebenheiten und Kräftekonstellationen in die Städte exportiert werden könnte. Das Erfurter Bündnis, in dem auch die [ake] maßgeblich aktiv war und das sich 2010 dem Nazi-Aufmarsch entgegenstellen wollte, führte ebenfalls diese Diskussionen. In Erfurt waren sich eigentlich alle – mit unterschiedlichen Gewichtungen und Begründungen einig – dass eine 1:1-Kopie der Aktions- und Organisationsformen in anderen Städten hier nicht funktionieren würde: In Erfurt fehlt es – qualitativ und quantitativ – an vergleichbaren, selbstständig aktiven und selbstbewussten Strukturen von „Zivilgesellschaft“; in Erfurt fehlt es an einer liberalen Öffentlichkeit, deren passive „Unterstützung“ darin bestehen würde, solche Aktionsformen nicht aktiv zu bekämpfen, sprich: die Regelüberschreitung einer Blockade zwar nicht zu befürworten, ihr aber wenigstens nicht öffentlich in den Rücken zu fallen; in Erfurt gab es auf niedrigem Level dagegen „eingespielte“ Kooperationsformen zwischen den Flügeln der Linken und der „Zivilgesellschaft“ – und, nicht zuletzt: Alle Beteiligten aus Erfurt waren sich, mit unterschiedlicher Gewichtung, einig, dass das Modell einer durchchoreographierten Sitzblockade nicht unserem Anspruch von selbstbestimmter Beteiligung gleichkam. Die Kritik am „Modell Jena“, das dort teils funktionierte – aber auch dort nur gelang, weil es auf die Blockade Vorarbeiten der JAPS in den Jahren zuvor aufbauen konnte – war deutlich, der Widerstand gegen die Dominanzbestrebungen jedoch zu gering. Und so zerbrach trotz aller Mühen das Erfurter Bündnis letztlich an der Debatte um die Aktionsform „Sitzblockade“ kurz vor dem 1. Mai 2010 – die Ergebnisse und Entscheidungsstrukturen auf den letzten Metern waren desaströs, die Absage einer Blockade durch eine nicht-legitimierte Struktur war ein Fehler. Nur etwa 60 Menschen saßen am Ende dort, wo Massenblockaden hätten sitzen sollen. Dennoch waren Hunderte bis Tausende auf den Beinen – quer durch die Stadt. Doch statt Widerstand gab es Protest: Die Einen wanderten im Polizeikessel und mit radikalem Gestus durch die Stadt und scheiterten voraussehbar in der halbherzig gesuchten Konfrontation und ließen sich von politischer Prominenz aus dem Kessel „befreien“, die anderen besuchten zu Hunderten die polizeilich erwünschten Orte, um einer Verkürzung der Route die notwendigen Argumente zu verschaffen. Blockadeversuche und Protest waren – hart formuliert – nur der Popanz, um administrativ-politisch-polizeilich getroffenen Entscheidungen die Basis zu liefern. Selbst der Erfurter Oberbürgermeister – letztlich Chef der eigentlich federführenden Ordnungsbehörde – wurde öffentlich sichtbar zum Statisten degradiert – und ließ sich selbst widerstandslos degradieren.

2013 und: Vom Protest zum Widerstand…

Nach diesen Erfahrungen, den Konflikten in den Bündnissen und zwischen den antifaschistischen Strukturen herrschte politische Dürre. Dem seichten Auftrieb von „Pro Erfurt e.V.“ mit seinen Kundgebungen und versuchten Wahlantritten konnte de facto Nichts bis Wenig entgegen gesetzt werden. Die Erfolge von Massenblockaden in Dresden zeigten aber: Protest und Widerstand ist selbst in feindlich gesinnter Umgebung möglich. Aber auch hier galt: Nicht das sklavisch dogmatische Festhalten an Vorstellungen, wie Blockaden auszusehen haben, macht das Ergebnis, sondern die Breite von Bündnissen, die Akzeptanz unterschiedlicher Formen von Protest und Widerstand, der Respekt vor anderen Sprach- und Politikstilen und vor den „Organisationslogiken“ der AkteurInnen, der Umgang miteinander im Vorfeld, am Tag der „Ereignisse“ selbst und im Nachhinein, wenn Konservative, Polizei und Justiz mit Schaum vor dem Maul gegen den Protest und Widerstand vorgehen. Doch von diesen Entwicklungen war in Erfurt wenig zu spüren. Hier herrschte weiterhin, die in ihrer Form nahezu identische, Lethargie von radikaler Linken und Zivilgesellschaft im Kampf gegen Nazis, hier fehlte und fehlt bis heute eine Praxis kollektiven Widerstands – und hier in Erfurt dominierte eine Verharmlosung der Gefahr von rechts nicht nur durch Stadt, Polizei und Öffentlichkeit. Die Nazi-Gewalt im Sommer 2012 mit dem Angriff auf das Kunsthaus, auf eine Veranstaltung des BiKo, auf internationale Studierende am Uni-Campus und in der Stadt sowie die „spontanen“ Aufmärsche am 1. Mai 2012 und am 1. September 2012 von Nazis aus dem Spektrum von „Autonomen Nationalisten“, Pro Erfurt e.V. und mit Unterstützung rechter Hooligans, der mangelnde Protest und das Verhaltender Stadt waren eine Zuspitzung der Erfurter Zustände. Dagegen gelang es im August 2012 gegen eine Kundgebungen der NPD auf dem Domplatz Hunderte zu mobilisieren, die mit einer spontanen Sitzblockade und allerlei anderen Formen von Protest und Widerstand den Tag in Erfurt für die NPD zu einem Desaster machten. Hier wurde klar, antifaschistischer Protest und Widerstand ist möglich.

Für die [ake] war Anfang 2013 klar, was wir mit Blick auf den Nazi-Aufmarsch am 1. Mai nicht wollen: Wir wollen den Aufmarsch von Nazis am 1. Mai nicht mit Symbolpolitik begleiten, wir wollen keine selbstreferentielle Szene-Veranstaltung organisieren und wir wollen nicht wieder die Verschiebemasse für Polizeistrategien sein. Klar war aber auch: Wir wollen, dass die Nazis möglichst keinen Meter laufen können und wir wollen sie dazu effektiv und mit eigenen Mitteln blockieren. Wichtig war, gerade auch aus den Erfahrungen der letzten Jahre – ohne es explizit auszusprechen -, dass wir den Weg vom kommentierenden und letztlich appellierenden Protest (ob verbal-radikal oder staatstragend) verlassen und gemeinsam mit möglichst vielen Menschen Schritte hin zu kollektivem Widerstand gehen wollen. Dafür mag es – auch innerhalb der [ake] – unterschiedliche Gründe gegeben haben und geben.

Protest gegen Nazi-Aufmärsche, gegen Nazi-Präsenz im Alltag oder rassistische und rechte Gewalt, ist notwendig und richtig. Immer wieder gab es – völlig zu Recht – Debatten um Form und Inhalt. Als Anfang der 1990er Jahre als Reaktion gegen die Welle rassistischer Morde und Anschläge Hunderttausende mit Lichterketten protestieren, kritisierten vor allem autonome Antifas und antirassistische Initiativen diese Aktionsformen. Zu viel Symbolpolitik, zu wenig praktischer Widerstand sei dies. Zudem würden der Rassismus der Mitte und die rassistische Politik der Bundesregierung nicht kritisiert, sondern nur Bilder für ein besseres Deutschland produziert. Folglich gaben sich Antifa-Gruppen Namen wie „Keine Lichterketten!“, manche machten sich auf Strafexpeditionen in Hochburgen von Alltagsrassismus und Neofaschismus und bemühten sich um möglichst effektive Beschimpfung der Biodeutschen. Andere begaben sich auf den Weg in verbindliche Organisations-Strukturen und schlossen sich in der „Antifaschistischen Aktion – Bundesweite Organisation“ (AA/BO) auf der einen und dem „Bundesweiten Antifatreffen“ (BAT) auf der anderen Seite zusammen. Auch die Frage von Krieg und Frieden (Irak, Somalia, Jugoslawien, …) sorgte für nachhaltige Spaltungen antifaschistischer Bewegung. Vielerorts gelang es zwar, Neonazis zurückzudrängen und in tristen Zeiten und an verschiedenen Orten eine antifaschistische, linke Jugendbewegung aufzubauen und zu stärken. Doch am Alltagsrassismus, am Nationalismus und am Weg in Kriegseinsätze der Bundeswehr hat das nichts verändert – der Aufbau einer politischen Gegenmacht gegen Antisemitismus, gegen Rassismus, rechte Gewalt oder Nationalismus und Zustimmung zu Kriegen gelang nicht. Heute jedoch könnte man glücklich sein, wenn – wie Anfang der 1990er Jahre – 100.000 Menschen im Gedenken an die Opfer des Nazi-Terrors des NSU wenigstens eine hilflose Lichterkette organisieren würden. Heute fasste der Inlandsgeheimdienst schnell wieder Fuß, nachdem er nach der Selbstenttarnung des NSU im November 2011 kurzfristig durch seine offenbar gewordene Aufbauleistungen der Neonazi-Szene und das Wegschauen im Fall von Nazi-Terror völlig delegitimiert schien. Zum Protest gegen den Thüringer Spitzel-Club kam jedoch nur eine handvoll Menschen, das kurze zeitliche Fenster und die Chance, dem Geheimdienst-Wesen politisch den Garaus zu machen oder wenigstens einen nachhaltigen Schlag zu versetzen, wurde durch eigene Untauglichkeit vergeben. Im Fall des NSU kulminiert eigentlich, was eine antifaschistische Linke an einem Staat, an der Gesellschaft eigentlich zu kritisieren hätte: Alltagsrassismus, Nazi-Terror und ein Staat, der einen Kampf gegen Antifas und Linke führt, während zugleich über Spitzel-Löhne und Schutz vor Repression Nazi-Strukturen mit aufgebaut wurden – am Fall des Thüringer Geheimdienstes Bestens zu sehen. Für die biodeutsche Antifa – nicht nur in Thüringen – war das kaum ein Thema. Sie hat es bis heute nicht geschafft, auf die Geschehnisse rund um die Selbstenttarnung des NSU zu reagieren. Selbst ernsthafte Debatten, welchen Charakter der NSU hatte, welche Rolle der Staat dabei spielte oder um antifaschistischen Selbstschutz, der angesichts des offenkundigen tödlichen Bedrohung so nahe liegend wie lange nicht wäre, werden scheinbar für irrelevant erklärt. Aber auch praktische Solidarität mit Menschen, die von der Gesellschaft stigmatisiert, ausgegrenzt, illegalisiert oder denen auf Grund äußerer Merkmale ein Migrationshintergrund unterstellt wird, blieb vielfach aus. Als 2012 eine Flüchtlingsdemo vor den Erfurter Landtag kam und von Neonazis unter den Augen der Polizei angegriffen wurde, war von vielen nichts zu sehen. Auch bei den jüngsten Protesten von kurdischen und türkischen Linken und AntifaschistInnen gab es nur wenig Biodeutsche. Es entstand in Thüringen ein Bild einer radikalen Linken, das möglicherweise so zwar nicht stimmt, aber im Ergebnis genau jenes bedeutet: Es ging bei der Flüchtingsdemo, beim Protest gegen die Angriffe auf die Proteste in der Türkei ja „nur“ um rassistischen Alltag in der BRD, um rassistische und rechte Gewalt und Angriffe auf Linke in anderen Ländern – und nicht um die kritische Kritik, die in ihrer arroganten, männlich-weißen Selbstbezogenheit widerlich ist.

Vor diesem Hintergrund ist das unsägliche Agitieren gegen eine Mobilisierung gegen das massive Auftreten von Neonazis am 1. Mai in Erfurt genau so konsequent, wie falsch. Dass allerdings solche Positionen nicht nur von Einzelnen vorgebracht, sondern auch in einigen Kreisen diskutabel erscheinen, ist erschreckend. Zumal die Konsequenz daraus in einer Entsolidarisierung mündete, die bis hin zu einem Aufruf zur Demobilisierung reichte. Eine Entsolidarisierung, mit der vermeintliche „Politstrategen“ getroffen werden sollten – aber in ihrer Konsequenz vor allem jene trifft, die in der Vergangenheit oder potentiell Opfer von Neonazis wurden oder werden können. Wenn ohne weitere Erklärung proklamiert wird, „[d]as derzeit vorhandene Potenzial politisch aktiver Nazis, [habe] gesellschaftlich wenig bis keine eigene Relevanz“, zeugt dies von Arroganz, die sich nur jene zu Eigen machen können, die durch das Ablegen des „Antifa-Buttons“ nicht mehr ins Visier von Nazis geraten. Andere Menschen können das nicht so einfach. Mit Blick auf mehr als 180 Tote durch rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Deutschland seit 1990, täglichen Übergriffen durch Neonazis und schlicht der alltäglichen Präsenz von extrem rechter Symbolik im Stadtbild von Erfurt, ist eine solche Aussage zynisch. Dass sich so viele schon so sehr an diese deutschen Zustände gewöhnt haben, macht noch einmal ihre Bedeutung klar. Die gesellschaftliche Bedeutung von Neonazis misst sich nicht (nur) an Wahlerfolgen der NPD – die in Thüringen nicht einmal gering sind! – oder an der Relevanz von NPD & Co. für die Mehrwertproduktion, sondern unter anderem in der Existenz von Angsträumen, von rassistischer Bedrohung und Gewalt, von Einschüchterung alternativer, nicht-rechter Jugendlicher, von Angriffen auf Linke und demokratische Organisationen etc. Neonazis im Jahr 2013 in Ostdeutschland jede Relevanz abzusprechen, scheint hier vor allem das eigene Nichtstun, die eigene Lethargie und Ignoranz gesellschaftlicher Zustände zu legitimieren.

Eine ähnliche „weiße“ Perspektive wurde auch dem Redebeitrag der Antifa Arnstadt am Vorabend des 1. Mai vorangestellt. Und es ging im Redebeitrag sogar noch weiter: Neonazis, die regelmäßig rassistische, antisemitische Gewalt ausüben und Propaganda treiben, wurden als „Karnevalsverein“ verharmlost. Gerade in der radikalen Linken, die sich in Erfurt in Teilen nahezu komplett aus der Mobilisierung für den 1. Mai herausgehalten hat, wäre ein, dem eigenen emanzipatorischen, antirassistischen Anspruch entsprechendes und radikales Umdenken, notwendig.

Notwendig wären aus unserer Sicht die folgenden Schritte: Raus aus der selbstgewählten Apathie, Isolierung und Schmoll-Ecke, eine ehrliche Auseinandersetzung mit antifaschistischer und linker Geschichte und Politik, auch durch die Befassung mit Debatten aus den 1990er und 2000er Jahren (AA/BO vs. BAT; Heinz-Schenk-Debatte; AAB: Konzept Antifa; Heißt Antifa Busfahren?; Begriff der „Zivilgesellschaft“, …) und der Beginn einer munteren, antifaschistischen Offensiv-Politik.

Praktisch bedeutet das:

1.) Erste Ansatzpunkte wären das Zurückdrängen rechter und neonazistischer Präsenz – in Erfurt zum Beispiel die Kammweg-Klause, der Thor-Steinar-Laden, der Nazi-Zeitungsverkauf, die Präsenz von Nazis und Klamotten-Nazis im Alltag, fragwürdige Securitys beim RWE und städtischen Veranstaltungen, Kundgebungen von NPD, Pro Deutschland, AfD, die NPD im Stadtrat, Pro-Erfurt e.V. und seine Geschäftsstelle …

2.) Darüber hinaus die Stärkung antifaschistischer Kultur und der offensive Gang in bestehende „Sozialstrukturen“, also alternativer, antifaschistischer und antirassistischer – kurz: emanzipatorischer – Strukturen, „Freiräume“ oder Veranstaltungen, die Nazis und Rechten langfristig das Wasser abgraben – ob in Stadtteilen, in Jugendzentren, Schulen, Hochschule, Kneipen, auf der Straße …

3.) Aneignung kollektiver Praxis gegen rechts – von der gemeinsamen Demo-Praxis über das gemeinsame Beenden eines Infotisches oder das Blockade-Trainings bis hin zum antifaschistischen Selbstschutz …

4.) eine selbstbewusste antifaschistische Position und Politik im Alltag und in politischen Bündnissen, die kritische Auseinandersetzung mit Geschichte, Bildungsarbeit, das Zurückdrängen „extremismus-theoretischer“ Ansätze in Bildungs- und Sozialarbeit, politischer Debatte, staatlichem Handeln …

Als [ake] können wir nur einen kleinen, bescheidenen Teil dazu beitragen. Unsere Versuche, gegen Nazis in Erfurt präsent zu sein und ihnen aktiven Widerstand und nicht nur kommentierenden Protest entgegenzusetzen, sind beschränkt – aber notwendig.   Wer mit uns die Auffassung teilt, dass Neonazis, Rassismus und Antisemitismus eine Bedrohung darstellen und Antifaschismus nicht allein der Appell an den Staat ist, sondern auch in die eigenen Hände genommen werden muss, wird auf eine Zusammenarbeit mit uns bauen können. Wer dagegen die selbstreferentielle Beschäftigung mit sich selbst bevorzugt oder als privilegierte/r Biodeutsche die Bedrohung durch Neonazis leugnet, wird sich in Zukunft besser allein mit sich selbst befassen müssen.

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