Im Kaninchenbau der Ware

Kapitalismus ist das System der abstrakten Arbeit. Warum die Kritik der Arbeit möglich und notwendig ist. Von Christian Höner.

Warum eine Kapitalismuskritik nur als eine Kritik der Arbeit zu haben ist, soll im folgenden Text skizziert werden. Dafür ist es notwendig, einige grundlegende Gedanken von Marx zu rekapitulieren. Dessen Kapitalismusanalyse beginnt bekanntlich mit der Analyse der Ware, die als etwas in sich Widersprüchliches vorgestellt wird: Sie ist einerseits ein konkretes Gebrauchsding und andererseits ein abstraktes Wertding. Die Gebrauchsseite der Ware ist diejenige Seite an der Ware, auf die sich unsere Bedürfnisse richten; wir fragen, wofür kann ich die Ware gebrauchen, wofür ist sie nützlich. Ist die Gebrauchsseite der Ware sinnenklar, so erschließt sich die Wertseite der Ware nicht so einfach. Diese zu untersuchen und zu verfolgen, was aus der Bestimmung des Werts für Konsequenzen erwachsen, ist die Hauptaufgabe der marxschen Analyse im Kapital.

Dem Wert auf die Spur zu kommen, erschließt sich nicht bei der bloßen Betrachtung einer einzelnen Ware. Wir sehen nur deren Gebrauchsgegenständlichkeit, die Werteigenschaft erscheint nicht. Erst wenn wir eine andere Ware hinzunehmen, können wir den Ariadnefaden im Labyrinth des Werts aufnehmen. Wir können nämlich jetzt die Werteigenschaft als eine Beziehung erahnen, die zwischen den Waren zu bestehen scheint: Eine bestimmte Menge der Ware A ist gleich einer bestimmten Menge der Ware B (X Ware A = Y Ware B). Marx gibt sich mit dieser Bestimmung jedoch nicht zufrieden; er fragt, was diesem Verhältnis eigentlich zugrunde liegt. Was ist gleich an 4 Flaschen Bier und einer Schachtel Zigaretten? Worauf bezieht sich der Ausdruck „ist gleich“? Worin sind Waren mit unterschiedlicher Gebrauchsgegenständlichkeit und unterschiedlicher Mengenrelation identisch? Wenn es eine solche Identität gibt, dann kann diese Identität nur in Absehung (Abstraktion) von der konkreten Gebrauchsgegenständlichkeit der Waren gefunden werden. Wenn wir nun von dieser abstrahieren, so bleibt an den Waren nichts weiter übrig, als dass sie Produkte menschlicher Arbeit sind. Der Wert einer Ware drückt also aus, dass in ihr eine bestimmte Menge von Arbeit vergegenständlicht ist. Da das, was offenbar den Wert der Waren bildet, mit Arbeit zu tun hat, müssen wir im Kaninchenbau des Kapitalismus noch eine Etage tiefer gehen und uns der Arbeit selbst zuwenden.

Im Herzen des Kapitalismus sitzt kein Kapitalist, sondern eine Abstraktion

So wie bei der Gebrauchsseite der Ware gibt es auch am Arbeitsprozess eine konkret-sinnliche Seite, die wir beobachten können. Da werden Tische gebaut oder Autos montiert etc. Marx nennt diese Seite der Arbeit: konkrete Arbeit. Wenn aber im Tausch die Arbeiten gleichgesetzt werden, so kann diese Gleichsetzung nicht auf Basis der konkreten Arbeiten erfolgen. Gleichheit der Arbeiten kann ja nur entstehen, wenn von der konkreten Gestalt der Arbeiten abgesehen wird. Sehen wir von allem Konkreten z.b. der Tischlerarbeit ab, so gelangen wir zu einem Arbeitsbegriff, der nur noch die Verausgabung menschlicher Energie ausdrückt, von Marx bestimmt als abstrakte Arbeit. Die abstrakte Arbeit bildet für Marx die Substanz des Werts.

Nach dieser Wertbestimmung könnte mensch natürlich fragen: Das ist ja alles ganz interessant und theoretisch ungeheuer spannend, aber wo liegt das Problem? Zugegebenmaßen ist auf dieser abstrakten Ebene der Darstellung noch nicht unmittelbar einsichtig a) was das mit Kapitalismus zu tun hat und b) was daran zu kritisieren ist.

Marx erblickte jedoch in der Analyse der Warenform, die vom Doppelcharakter der Ware zum Doppelcharakter der Arbeit führt, den grundlegenden Schlüssel zum Verständnis des kapitalistischen Gesamtzusammenhangs. In Ware und Arbeit sah er nämlich nicht nur die Elementarformen dieses Zusammenhangs, sondern auch die Mutter aller systemischen Widersprüche. Das grundlegende Widerspruchsmoment besteht in der Spannung zwischen konkreter und abstrakter Arbeit, zwischen stofflichem und abstraktem Reichtum, zwischen stofflichem Inhalt und abstrakter Form. Diese Spannung durchzieht die gesamte Architektur der kapitalistischen Vergesellschaftung und sie besteht, weil das Abstrakte von Wert und Arbeit nicht nur eine gedankliche Abstraktion (in Marxens Hirn) darstellt, sondern sich als abstraktes Geltungsverhältnis die konkrete Wirklichkeit unterwirft. Wie diese Unterwerfung unter die Abstraktion von abstrakter Arbeit und Wert sich vollzieht, wird im Weiteren zu klären sein.

Abstrakte Arbeit unvermeidlich?

Doch zunächst müssen wir die abstrakte Arbeit als Verausgabung menschlicher Energie noch einmal genauer betrachten. Denn die Bestimmung von Arbeit als wertbildende Substanz ist alles andere als unproblematisch. Wenn Arbeit per se Wert bilden würde, wie wollte man da das Unterwerfungsverhältnis kritisieren, das von der abstrakten Arbeit angeblich ausgehen soll. Mehr noch: Wie soll auf der Basis einer solchen Analyse eine Kritik der Arbeit auch nur denkmöglich sein? Ist es nicht vielmehr so, dass wir mit Wert und Arbeit zwei Grundbestimmungen des menschlichen Daseins vor uns haben, die zwar nicht aus der ersten Natur, aber doch aus der Natur der menschlichen Gesellschaft entspringen? Und wenn dies so sein sollte, ist dann nicht eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder über Wert und Arbeit integriert, nicht eine der menschlichen Natur gemäße Form der Vergesellschaftung (so sehen es zumindest die bürgerlichen Ökonomen und leider auch die meisten Marxisten)? Sollten wir Wert und Arbeit nicht vielmehr als positive Bestimmungen auffassen, weil sie einen transparenten Maßstab liefern, inwieweit sich die Individuen an der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion beteiligen? Gibt der Wert nicht wieder, was das Arbeitssubjekt geleistet hat? Ist die Arbeit nicht der große Demokratisierer, der die Nutznießer fremder Arbeit (Sklavenhalter, Feudaladel, Kapitalist) von der historischen Bühne gefegt hat bzw. noch fegen soll?

Abstrakte Arbeit als ein historisch-spezifisches Gesellschaftsverhältnis

Wie diese Fragen zu beantworten sind, steht und fällt mit der Bestimmung der abstrakten Arbeit. Wäre Marx einfach dabei stehen geblieben, den Umstand, dass Arbeit Wert bildet, als positive Tatsache zu betrachten, dann wäre freilich eine Kritik der Arbeit im Rahmen seiner Theorie nicht möglich geworden. Doch Marx geht einen entscheidenden Schritt weiter. Er macht nämlich den bürgerlichen Ökonomen zum Vorwurf, „nie danach gefragt zu haben, warum Arbeit Wert bildet“. Offensichtlich war es für Marx keineswegs eine unhintergehbare Tatsache, dass Arbeit Wert bildet, so wie ein Apfelbaum Äpfel trägt. Marx lästert deshalb auch gegen Ökonomen, die den Wert aus der Natur der Dinge ableiten, dass noch kein Chemiker auch nur ein Atom Wert gefunden habe. Wertvoll zu sein kommt weder dem Öl, noch Diamanten oder Gold von Natur aus zu. Die Frage ist also, unter welchen Bedingungen die physiologische Tatsache, dass Menschen Energie verausgaben, für die gesellschaftliche Praxis zur bestimmenden Größe wird. Marx Antwort hierauf lautet: Nur wenn sich die gesellschaftliche Vermittlung in einer bestimmten Form realisiert, wird aus der harmlosen physiologischen Tatsache, eine folgenschwere gesellschaftliche Bestimmung. Erst in einer Gesellschaft, die sich über den Tausch vermittelt, verwandeln sich Produkte in Waren, erst hier wird die Verausgabung menschlicher Energie zu einem die Gesellschaft synthetisierenden Vermittlungsmedium. Dies ist wohlgemerkt nicht zu verwechseln mit dem Umstand, dass durch konkrete Arbeit ein Beitrag zur stofflichen Reproduktion der Gesamtgesellschaft geleistet wird. Dies ist nur ein Nebeneffekt. Relevant für die gesellschaftliche Synthese ist Arbeit nur als abstrakte Arbeit, insofern die konkreten Arbeiten im Tausch aufeinander bezogen werden und sie nur noch als unterschiedslose Arbeitsquanten gelten. Deshalb ist allein die abstrakte Arbeit das zentrale Medium der gesellschaftlichen Vermittlung – sie ist diese Vermittlung.

Indem Marx nun aufgezeigt hat, dass der Zusammenhang von Arbeit und Wert nicht aus der menschlichen Natur erwächst, sondern an eine historisch-spezifische Form der gesellschaftlichen Vermittlung gebunden ist, hat er gleichermaßen die Tür aufgestoßen, die abstrakte Arbeit als eine historische Kategorie begreifen zu können, wodurch zumindest die prinzipielle Möglichkeit ihrer Abschaffung und Überwindung denkbar wird.

Die Notwendigkeit der Kritik

Aber nur weil die Abschaffung der abstrakten Arbeit möglich ist, so könnte gefragt werden, ist doch noch lange nicht die Notwendigkeit einer Kritik der Arbeit angezeigt. Vielleicht ist das System der abstrakten Arbeit zumindest die beste aller möglichen Welten. Was soll an dieser gesellschaftlichen Vermittlungsform schlecht sein?

Es wurde bereits angedeutet, dass das Verhältnis der Warenform nicht nur ein in sich widersprüchliches ist, sondern dass die abstrakte Seite sich gegenüber der konkreten Sphäre zur beherrschenden Macht aufschwingt. Die Art und Weise, wie abstrakte Arbeit und Wert zu allgemeinen, gesellschaftsbeherrschenden Formen werden, ist das Kapital. Um diese Behauptung verständlich zu machen, muss 1.) gezeigt werden, dass das Kapital selbst nur eine Gestalt der abstrakte Arbeit ist und 2.) dass die abstrakte Arbeit in dieser Form eine eigentümliche Form von Herrschaft etabliert.

Kapital ist abstrakte Arbeit – ist abstrakte Arbeit – ist abstrakte Arbeit

Inwieweit ist das Kapital eine Darstellungsform der abstrakten Arbeit? Marx stellt das Kapital vor als eine Bewegung in der berühmten Formel: Geld-Ware-mehr Geld (G-W-G‘). Geld wird gegen Waren, welche wieder gegen Geld getauscht, wobei sich Letzteres auf scheinbar obskure Weise vermehrt hat. Was die Waren in diese Beziehung einbindet, was sie gegen das Geld austauchbar macht, wissen wir schon: Es ist nicht die konkrete Gebrauchsgegenständlichkeit, die die Waren austauschbar macht, sondern dass sie als Verkörperung abstrakter Arbeit gelten.

Was hat es aber mit dem Geld auf sich, in welchem Zusammenhang steht das Geld mit abstrakter Arbeit? Um dies nachvollziehbar zu machen, müssen wir noch einmal zu Ware zurückkehren. Wir hatten gesagt, dass abstrakte Arbeit und Wert die Identität der Waren ausmachen. Über dieses Identität realisiert sich der Tausch. Jede einzelne Ware verkörpert dabei in jeweils besonderer Form Wert und kann so gegen andere Waren getauscht werden. Diese besondere Form der Verkörperung ist aber ein Problem; die besondere Gebrauchsgegenständlichkeit der Ware wird zum Hindernis für die Universalisierung des Tausches, weil für die Tauschenden an der Ware nicht nur der Tauschwert von Belang ist, sondern auch ihr Gebrauchswert. Wenn nun aber ein Tauschender kein Interesse an der Gebrauchsseite der zu tauschenden Ware hätte, fände der Tausch nicht statt. Das Problem löst sich dadurch, dass eine Ware als allgemeines Tauschmedium fungiert. Die Gebrauchsseite dieser Ware steht nun ganz im Dienst der allgemeinen Tauschfunktion, ihre stoffliche Seite muss dieser Funktion genüge tun: Sie muss haltbar sein, darf nicht beliebig reproduzierbar sein, muss in gleich große und homogene Teil teilbar sein; kurzum: Die Edelmetalle und in besonderer Weise das Gold erfüllen diese Bedingungen. So fungierte Gold als Geld. Mit der Aufhebung der Goldbindung der Währung in 1970er Jahren verlor das Geld keineswegs seinen Warencharakter, aber er transformierte sich.

Heute fungiert zur Deckung des Geldes nicht mehr Goldreserven, sondern bei den Notenbanken deponierte Wertpapiere. Diese Wertpapiere sind ein spezifischer Warentypus. Ihr Warencharakter verdankt sich nicht bereits verausgabter menschlicher Energie, sondern der Hoffnung, dass diese Verausgabung in Zukunft erfolgen möge. So oder so ist das Geld aber substanziell auf abstrakte Arbeit verwiesen und kann somit als allgemeine Wertrepräsentanz, als allgemeine Darstellungsform abstrakter Arbeit dechiffriert werden.

Wenn Marx das Kapital als die Bewegung Geld-Ware-mehr Geld vorstellt, dann erschließt sich nun, was sich hinter dieser Bewegung eigentlich verbirgt: Geld als allgemeine Darstellungsform der abstrakten Arbeit tauscht sich gegen Waren als besondere Verkörperung abstrakter Arbeit und diese tauscht sich schließlich wieder gegen mehr Geld, d.h. gegen ein größere Menge der allgemeinen Darstellungsform abstrakter Arbeit.

Geld Ware mehr Geld

abstrakte Arbeit → abstrakte Arbeit → abstrakte Arbeit

(allgemeine Form) (besondere Form) (allgemeine Form)

Das mehr an Wert bzw. an verausgabter abstrakter Arbeit wird übrigens in der Mitte des Prozesses gebildet, wo eine besondere Ware zur Anwendung kommt: Die Ware Arbeitskraft. Sie ist die einzige Wertquelle, weil nur sie menschliche Energie verausgaben kann. Kapital besteht also nicht nur aus unterschiedlichen Aggregatzuständen abstrakter Arbeit, auch ihr Treibstoff fließt ihr in Form verausgabter menschlicher Energie zu. Damit ist die 1. Frage beantwortet, insofern das Kapital als ein selbstbezüglicher Vermittlungsprozess unterschiedlicher Daseinsweisen der abstrakten Arbeit aufzufassen ist.

Abstrakte Arbeit ist eine selbstzweckhafte und abstrakte Form der Herrschaft

Nun können wir auch die 2. Frage beantworten, inwiefern die abstrakte Arbeit eine ihr eigentümliche Form von Herrschaft etabliert. Betrachten wir nämlich die Formel G – W – G‘, so erkennen wir, dass das Ziel dieser Bewegung nicht die Produktion von Gebrauchsgegenständen ist, sondern der Wertverwertung dient, umgangssprachlich ausgedrückt: aus Geld mehr Geld zu machen. Die Produktion stofflichen Reichtums dient im Kapitalismus nur als ein Mittel für den übergeordneten Zweck einer rastlosen Vermehrung von abstrakten Reichtum (Geld). Da wir wissen, dass im Geld die allgemeine Daseinsweise abstrakter Arbeit verkörpert ist, können wir Folgendes festhalten: Im Kapital hat sich die abstrakte Seite der Arbeit über ihre konkrete Seite erhoben; nicht das Produzieren von konkreten Gebrauchsdingen ist das Ziel der Produktion, sondern die rastlose Anhäufung abstrakter Arbeit. Im Kapital ist abstrakte Arbeit auf sich selbst rückgekoppelt, sie ist Ausgangs- und Endpunkt dieser Bewegung. Nicht die Befriedigung von konkreten Bedürfnissen ist ihr Ziel, dieses ist vielmehr herabgesunken auf ein bloßes Mittel, um aus Geld mehr Geld zu machen. Abstrakte Arbeit ist im Kapital zu seinem eigenen Zweck geworden. Marx nennt deshalb die im Kapital auf sich selbst rückgekoppelte abstrakte Arbeit das “automatische Subjekt”. Alle menschlichen Bedürfnisse und die damit verbundenen Interessen können sich nur noch verwirklichen, wenn sie als Mittel für den übergeordneten Selbstzweck der Kapitalbewegung darstellbar sind. Sowohl Kapitalist als auch die Lohnabhängigen sind dem realexistierenden Sachzwang der Verwertung unterworfen. Sie sinken zu Exekutoren der Kapitalbewegung herab. Sie werden zu Funktionsträgern bzw. zu „Charaktermasken“ (Marx) eines sie beherrschenden Automatismus, der nichts weiter ist als ihre eigene verrückte, unbewusste, gesellschaftliche Produktions- und Vermittlungsform. Hierin findet im Übrigen auch der Staat eine absolute Schranke seiner Souveränität. Selbst abhängig vom Geldmedium, da existenziell auf die rastlose Geldvermehrung durch die Kapitalbewegung angewiesen, muss er sich schließlich deren Imperativen beugen. Deshalb ist die Annahme, über den Staat ließe sich das Kapital bändigen, eine Chimäre. So offenbaren sich mit der marxschen Analyse der abstrakten Arbeit alle Ambitionen, die über eine realpolitische Moderation des Krisenkapitalismus emanzipatorisch hinauszugehen gedenken, ohne jedoch die abstrakte Arbeit selbst angreifen zu wollen, als Politikillusion. Wollte man tatsächlich den Kapitalismus überwinden, müsste die abstrakte Arbeit ins Zentrum der Kapitalismuskritik gerückt werden, um mit ihr als destruktiver gesellschaftlicher Vermittlungsform endlich zu brechen.

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