Das Elend der Jenaer „Freiraum-Bewegung“ – zwischen erlernter Hilflosigkeit und Versuchen zaghafter Selbstermächtigung

Von Jens Störfried.

In Jena existiert keine Freiraumbewegung. Was es in dieser Stadt gibt (und was auch immer davon zu halten sein mag), ist neben der vorallem sozialwissenschaftlichen Uni-Linken und einer Hand voll anderer linken Gruppen, eine alternative Szene.
Um die stadtplanerischen Ambitionen, auf den zentral gelegenen Inselplatz unter anderem einen neuen Campus zu bauen, entzündete sich eine radikal-bürgerliche Auseinandersetzung mit den Bewohner*innen und Sympathisat*innen des sich selbst als „soziokulturelles Projekt“ bezeichnenden Gebäudes Inselplatz 9a. Auf dem Gelände des Projekts finden, neben gelegentlichen selbstorganisierten Parties, in den Sommermonaten wöchentlich Voküs statt, welche sich reger Beliebtheit bei alternativen Konsument*innen erfreuen und eindeutig zu einem wichtigen Treffpunkt der Szene zu zählen sind. Durch die Baubauungspläne der Stadt wird der Inselplatz 9a mittelfristig unweigerlich den kapitalistischen Verwertungsinteressen weichen müssen, was die Ausgangsbasis einer Politisierung der diffusen Szene bildet.

Obwohl es in Jena keine wirkliche Bewegung für Freiräume gibt, stellt dieser Beitrag den Versuch dar, diese „Szene“, welche sich rudimentär ihrer selbst bewusst wird, als ein Bewegung zu betrachten, die die gewohnten Abläufe stadtplanerischer Verwaltungspolitik in Frage stellen könnte. Tun wir im Folgenden daher, als ob die alternative Szene potenziell eine emanzipatorische Bewegung sein könnte, um somit heraus zu finden, warum sie es nicht ist.
Die Formulierung „Freiraum“ an sich ist problematisch, da sie einerseits verbraucht ist und andererseits die Illusion schürt, die Szene könne sich ernsthaft Blasen abseits der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse schaffen, abgesehen davon, dass sie auch ein solches Bestreben nicht konsequent verfolgt. Als geflügeltes Schlüsselwort, sollte der Begriff aber wenigstens den Anspruch umschreiben, Orte zu schaffen, an denen Menschen versuchen möglichst gleichberechtigt und selbstbestimmt ihre Angelegenheit selbst organisieren.
Eine „Freiraum-Bewegung“ in diesem Sinne würde aber weit mehr umfassen, als die Bewohner des besagten Gebäudes, an welchem der Konflikt zwischen kommunaler Politik und Einwohner*innen zu Tage tritt. Sie würde auch Menschen umfassen, die mit der „alternativen Szene“ nichts zu tun haben und nichts zu tun haben wollen, die aber dennoch die Stadt prägen und ihre Lebensart verteidigen.
Eine wirkliche Bewegung für „Freiräume“ würde die soziale Problematik, der Verdrängung ärmerer Menschen durch steigende Mietpreise thematisieren und sich vom schwammigen Schlagwort „Soziokultur“ distanzieren, da es die Debatte nicht weiterbringt. Dann wiederum könnte aber durchaus jene Künstlerkritik geübt werden, die progressive, freie und selbstbestimmte Formen von Kultur einfordert.

Die Kritik an der alternativen Szene ist hinlänglich bekannt: Sie ist unpolitisch, oberflächlich, unreflektiert, exklusiv, relativ privilegiert, verkürzt kapitalismuskritisch, glaubt von sich selbst aber all dies eben nicht zu sein. Trotz berechtigter und notwendiger linksradikaler Kritik, machen es sich aber auch diejenigen zu einfach, welche in einer Haltung des Meckerns und Besserwissens verharren, ohne selbst einen Gegenpol zu schaffen. Denn früher war es nicht besser und wie ich den Leser*innen unterstelle, sind viele eben genau in solchen Szenen sozialisiert und politisiert worden.
Damit sei keineswegs gesagt, das derartige Subkulturen an sich etwas Gutes wären, noch, dass dies auf politische Bewegungen schlechthin zuträfe. Neben anderen Orten sind sie aber tendenziell diejenigen, an denen sich emanzipatorisches Gedankengut und linke Lebensformen reproduzieren und verbreiten können, wenngleich dies stets unzulänglich geschieht und all zu oft zum bloßen Lifestyle verkommt.
Aus diesem Grund fällt die anstrengende Beschäftigung mit dem Alternativszene-Geklüngel in das weite Aufgabenfeld emanzipatorischer Politik und zwar gerade weil die Verbreitung linker Inhalte, die Entstehung linker Politik, die Mobilisierung zu „ernsthaften“ antifaschistischen, antirassistischen Demos etc. keine Selbstläufer sind. Diejenigen politischen Menschen, die sich damit beschäftigen, werden feststellen, dass es gerade die Inhaltsleere der „Szene-Politik“ ist, welche uns vor die Wahl stellt: Wir können sie entweder verachten (wofür sie nichts kann, da sie es nicht besser weiß) oder die beschwerliche und nervenaufreibende Herausforderung annehmen, mit einem kritischen Bewusstsein emanzipatorische Inhalt in sie hinein zu tragen und sich einzumischen.
In welchen Fällen und bis zu welchem Grad dies sinnvoll oder aussichtslos ist, ist zu diskutieren, erweist sich aber letztendlich erst im praktischen Versuch, es zu tun. Dabei soll es selbstverständlich nicht darum gehen, eigene Positionen zu verwässern, die eigenen Inhalte zu entleeren, mit der Alternativ-Szene zu verschmelzen und in ihre Handlungsunfähigkeit zu verfallen. Ebenso soll die eigene Energie und Konzentration nun weder ausschließlich noch vorzugsweise in die Politisierung der Jenaer Szene gelenkt werden, da es erstens wichtigere Aufgaben gibt und die Szene zweitens sich selbst bewusst werden müsste, was nicht aufgezwungen werden kann und darf. Anregung und Anleitung dazu kann aber von „innen“ und „außen“ geschehen und dieser Beitrag behauptet nichts anderes, als das dies eben auch in den Bereich emanzipatorischer Politik fällt.

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Aus dieser Perspektive ist die derzeitige Jenaer „Freiraum-Politik“ in einem kläglichen aber ambivalenten Licht zu betrachten. Zwei Jahre lang besuchten verschiedene Leute Stadtratsausschüsse um ihre Anliegen für einen Erhalt des Inselplatztes 9a und die Schaffung „soziokultureller Räume“ anzubringen.
Am unglücklich gewählten Datum, dem 03.10.2012, gab es eine größere Protestaktion der Alternativen mit anschließender Spontan-Demonstration, bei der noch sehr stark an das irrsinnige Argument der Verwertbarkeit eigener „Kulturerzeugnisse“ und Lebensformen für die Uni-Stadt geglaubt wurde. Sie forderten: „Subkultur statt Konsumtempel“. Dass Stadträt*innen und Bürokrat*innen diesen Wert logischerweise nicht sehen, wird inzwischen einigen der Szene-Menschen bewusst.
So wurde dieses Jahr ordnungsgemäß eine Nachttanzdemo am 02.10. angemeldet und diffuse Forderungen an unbestimmte Adressat*innen formuliert. Von wem und für wen fordern die Alternativen zum Beispiel „freie Räume für ein selbstbestimmtes Leben“, „Platz für Kultur“, „ein Erhalt des Inselplatzes 9a“, „bezahlbare Mieten“ oder „Transparenz über geplante Bauprojekte“? Unreflektierte Forderungen an unbestimmte Adressen haben jedenfalls kaum etwas mit Politik zu tun, führen vielleicht zu irgendeiner Art belangloser Identifikation, aber nicht zur Selbstermächtigung und Politisierung von Menschen. Bemerkenswert ist dennoch, dass es gelang bei beiden Aktionen mehr als 500 Menschen zu mobilisieren. Dies bedeutet nicht, dass diese Leute nun wesentlich weiter gekommen wären und ein politisches Gewicht darstellen würden. Es deutet aber darauf hin, dass sie sehr diffus irgendetwas empfinden und denken, dass Anknüpfungspunkte zu emanzipatorischer Politik haben könnte.

Am 17.10. wurde der Protest vor und in den öffentlich tagenden Stadtplanungsausschuss getragen. Wiederum waren an die 200 Menschen gekommen um ihr Anliegen vorzutragen. Auf Schildern waren niedliche Parolen zu lesen wie „Kommunizieren statt ignorieren“, „Wer fragt uns?“, „Studium besteht aus mehr als Uni“ und immerhin einmal auch „Unter dem Plaster liegt der Strand“. Ohne sie absolut zu setzen, können diese Statements durchaus als repräsentativ für die defensive „Szene-Politik“ gelten. Weiterhin wurde auf der Schiene der eigenen Verwertbarkeit für die Stadt argumentiert; immer noch adressierten die Bittsteller*innen Forderungen anstatt ihr Anliegen selbst in die Hand zu nehmen. Ihr witziger Glaube, vor den Repräsentant*innen Gehör zu finden und ihre Interessen einbringen zu können, wurde an diesem Tag allerdings teilweise erschüttert.
In der darauffolgenden Sitzung des Stadtrates am 06.11. sollte über den Bebauungsplan abgestimmt werden. Nach vorherigen Steitigkeiten wurde mit anderen Inititiven ein „Bürgerplenum“ auf dem Markt abgehalten. Anschließend besuchten wiederum rund 500 Szene-Menschen die öffentliche Stadtratssitzung, bewirkten, dass der Tagesordnungspunkt „Bebauungsplan“ vorgezogen wurde und mussten sich stundenlang dem repräsentativ-demokratischen Prozedere fügen. Ein Vertreter erhielt Rederecht und bettelte: „Lasst uns doch diesen kleinen Flecken Erde übrig!“, wobei er wahrscheinlich ziemlich gut die defensive und verkürzte Meinung der meisten Protestierenden formulierte. Diese an sich komische Aussage unterstellte, dass es im Protest letztendlich einzig um die Erhaltung eines baufälligen Gebäudes ginge. Mag dies für viele der alternativen Szene-Menschen gelten, behaupte ich hingegen, dass es ihnen unbewusst dennoch teilweise um mehr geht. Als schließlich über den Bebauungsplan abgestimmt werden sollte, griffen Aktivist*innen ein und verhinderten die Abstimmung, indem sie ein Chaos produzierten, welches sich im Rathaus sicherlich noch nie abgespielt hatte. Mittels Wortergreifung, dem Vordringen in den Bereich der Stadträt*innen, Kofetti, Musik und Feueralarm wurde der Stadtrat blockiert und arbeitsunfähig gemacht. Dieser zog sich nach anhaltendem Protest und Gejammer von Oberbürgermeister und anderen Repräsentant*innen in den Hauptausschuss zurück.
Die Blockade einer Stadtratssitzung und die Verhinderung einer Abstimmung durch einen altenativen Mob ist sicherlich kein Wert an sich. Ob sie einer Freiraum-Politik förderlich ist oder sie behindert, steht außerdem auf einem anderen Blatt. Dennoch ist die offene Infragestellung der representativen Demokratie durch eine im weiteren Direkte Aktion ein Phänomen, welches durchaus nicht oft vorkommt und als solches interessant ist. Mehr oder weniger beabsichtigterweise traten hierbei nämlich systemische Widersprüche zu Tage, die normalerweise meistens verdeckt bleiben. So zum Beispiel jener der „Entfremdung“ von politischen Repräsentant*innen und ihren Wähler*innen oder die fragwürdige Begründungen von Stadtplanung, wenn ein neuer Campus gebaut werden soll, während im kommenden Haushalt der Universität 10% Kürzungen bevorstehen, die eine konkrete Reduzierung der Lehre bedeuten – selbstverständlich vor allem bei jenen Instituten, die die wirtschaftlich wenig produktiven Studiengänge, beheimaten.

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Die Chancen, dass radikal-bürgerlicher Protest in eine emanzipatorische Bewegung münden und politische Relevanz gewinnen könnte sind gering. Die Aktivist*innen müssten dazu ihren Horizont erweitern, indem sie theoretisch tiefer schürfen, über ihren Tellerrand hinaussehen und politisch weiter gehen würden. Bisher war dies den Freiraum-Initiativen nur in Ansätzen gelungen, wobei kaum zu sagen ist, ob nun stadtplanerische Sachzwanglogiken oder das eigene narzistische Szenegeklüngel die größeren Hindernisse sind. Eine Mischung aus beidem führt zu blindem wutbürgerlichem Aktionismus und offenbart die erlernte Hilflosigkeit der Szene-Menschen. Dennoch sind bei einzelnen Personen auch zaghafte Versuche der Selbstermächtigung („Empowerment“, „Autonomiebestrebung“) zu erkennen, die im emanzipatorischen Sinne ausgebaut werden müssten. Hier befindet sich der Ansatzpunkt für Linke, welche sich auf die Widersprüche und Nervigkeit der „Szene-Politik“ einlassen könnten, um wohlgesonnen ihre Inhalten in die fiktive Bewegung hinein zu tragen, beziehungsweise sie der Szene immerhin anzubieten.

Der Autor selbst befindet sich dabei (wie aus diesem Beitrag hervorgegangen sein dürfte) in der schizophrenen Position, Teil dieser diffusen, unreflektierten usw. Szene und dennoch Linker zu sein und darum dort, wo er sich befindet in aller Widersprüchlichkeit emanzipatorische Gedanken zu verbreiten. Dies aber ist eine permanente Herausforderung, da zwar gewisse inhaltliche Anknüpfungspunkte existieren, aber nicht die diskursive Sicherheit wie in den Kreisen von Uni-Linken, Antifa-Gruppen etc. gegeben ist, weil dies die Konfrontation mit anderen Ansichten bedeutet. Ohne die eigenen Standpunkte aufzugeben, kann es sich dabei um eine emanzipatorische Bewegung auf die Szene zu handeln, wobei wohl niemand die richtige Aufklärung über die falschen Verhältnisse schon parat hat.
Dennoch soll damit nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass es lediglich einer Art sympathisierender, zäher „Bildung von unten“ bedürfe, durch welche Proteste in die „richtige Richtung“ gelenkt und eine dauerhafte sinnvolle Politisierung der Szene stattfinden würde. In diesem Artikel richtete der Fokus nur insofern auf diesen Aspekt, weil er leider meistens relativ unterbeleuchtet bleibt und unter den Punkt „Sonstiges“ fällt. Aber auch im Sinne einer radikalen Erziehung zur Mündigkeit braucht es gerade für ihr Gelingen, eine radikale Praxis. Im Zusammenhang mit dem Gedanken an die Schaffung von „Freiräumen“ bestünde jene aber konsequenterweise in der Besetzung von Häusern.

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