2014 stehen Kommunal- und Landtagswahlen in Thüringen sowie die Wahl eines neuen europäischen Parlaments an. Alle Parteien buhlen um Wählerstimmen, Nazis machen Infostände, Politiker zeigen Gesicht, die Interventionistische Linke reicht der Partei die Hand und die Kampagne „Deine Stimme gegen Nazis“ erklärt den Gang zur Urne gar zur antifaschistischen Bürgerpflicht. Skeptische Stimmen gegenüber parlamentarischer Demokratie sind marginal. Karl Meyerbeer sprach mit Apfel, Birne und Chinakohl über Wahlen – die Namen wurden von der Redaktion geändert.
Karl: Könnt Ihr eingangs euch und euer Verhältnis zu Wahlen kurz vorstellen?
Apfel: Ich arbeite im staatlich finanzierten Bereich. Aus einer anarchistischen Grundhaltung heraus lehne ich Wahlen ab – jedenfalls unter den derzeit gegebenen gesellschaftlichen Voraussetzungen. Ich gehe aber trotzdem hin und wähle aus pragmatischen Gründen das kleinere Übel. Es gibt nunmal ein Parteiensystem und die Mehrheit der Bürger hat sich darin auch gut eingerichtet und da finde ich es schon nicht schlecht, wenn es innerhalb des Parteiensystems hier und da Menschen gibt, die nicht ganz so schlimme Positionen vertreten.
Birne: Ich bin seit einigen Jahren in Partizipationsprojekten und Netzwerken aktiv und darüber hinaus in der staatlich verordneten Demokratiebildung. Wenn es um Wahlen geht, fällt mir immer ein toller Satz ein, den ich in einem Nachruf auf Fritz Scherer gelesen habe: „Fritz Scherer war ein überzeugter Anarchist. Er hat nie an einer Wahl teilgenommen und hat nie eine Kirche betreten.“ Das hat mir sehr imponiert. Meine letzte Wahl war eine Kommunalwahl, da habe ich wider besseres Wissen gedacht, ich wähle das kleinere Übel. Das hat sich dann als Irrtum herausgestellt und seitdem – das ist etwa zehn Jahre her – war ich nicht mehr wählen. Jetzt finde ich, das ist eine der wenigen Entscheidungen in meinem Leben, die ich überhaupt nicht bereue.
Chinakohl: Ich bin seit ein paar Jahren in antifaschistischen Strukturen unterwegs. Ich bin schon mal wählen gegangen, fühlte mich dabei aber eher unbehaglich. Ich finde es wichtig, darüber zu reden, wann es Sinn macht, wählen zu gehen, auch wenn man nicht möchte.
Karl: Na dann sagt doch mal konkret, wie Ihr es mit den kommenden Wahlen halten werdet.
Chinakohl: Ich bin etwas unentschlossen. Ich denke, zur Europawahl werde ich nicht gehen, zur Thüringer Landtagswahl schon, aus dem einfachen Grund, dass der Einzug von NPD und AfD in den Landtag wahrscheinlich ist und ich es für sinnvoll halte, das zu verhindern – auch wenn die NPD nur ein Übel ist, und auch ohne die Nazis noch genügend Mist im Parlament passiert – die Agenda 2010 wurde ja nicht von der AfD beschlossen und die Gefahrenzonen in Hamburg nicht von der NPD eingeführt.
Apfel: Ich werde wählen gehen, auch zur Europawahl. Da steht nämlich zu befürchten, dass in vielen Ländern die rechtspopulistischen Parteien viele Stimmen erhalten werden. Und wenn das europäische Parlament in Zukunft mehr Befugnisse bekommt, kann das antidemokratische, rassistische und homophobe Strömungen in ganz Europa stärken.
Birne: Die NachkriegsanarchistInnen, also Rudolf Rocker z.B. haben klar gesagt, dass man Demokratie eher unterstützen kann als Diktatur oder ein autoritäres Ein-Parteien-System. Und sie haben auch gesagt, dass ein Aufruf zum Wahlboykott keinen Sinn macht, wenn die gesellschaftliche Akzeptanz für eine Wendung zum Besseren nicht gegeben ist. Das ist ein gewichtiges Argument. Das Problem ist nur, dass das System dadurch eben immer weiter gefestigt wird. Und das mit dem kleineren Übel haut auch nicht so richtig, wenn man bedenkt, dass man eine Partei aufgrund eines 200 oder 240seitigen Wahlprogramms wählt und ihnen damit für vier oder fünf Jahre die Macht abgibt, zu entscheiden, auch in Fragen, von denen die BerufspolitikerInnen – egal, zu welcher Partei sie denn gehören – keine Ahnung haben. Ich gehe also nicht wählen.
Apfel: Diese Kritik wird seit Jahrzehnten vorgebracht, sie ist auch nach wie vor richtig, aber sie bleibt wirkungslos. Ich würde behaupten, dass nur ein winziger Prozentsatz der 30-40% Wahlenthaltungen von Leuten ist, die über das Thema diskutieren so wie wir. Alle Aufrufe zu politischen Wahlboykotten sind marginal geblieben. Unsere Diskussionen bleiben also marginal. Zudem ein gehöriger Teil der radikalen Linken bei den letzten Wahlen die Partei „Die Linke“ gewählt hat, weil die sich wenigstens bei Geschichten wie Blockupy oder Antifa beteiligt haben.
Birne: Die radikale Linke hält die Mehrheit der Bevölkerung sowieso für bescheuert und zum großen Teil hat sie damit wohl recht. Aber – und das scheint ironisch – glaubt die Radikale Linke doch wirklich, dass sie mit ihren paar Stimmen noch irgendwas reißen kann, wenn sie die PDL wählt. Würde aber bspw. Bodo Rammelow tatsächlich Ministerpräsident von Thüringen werden, wird sich hier nichts verändern. Da werden sich die radikaleren WählerInnen mal wieder enttäuscht zeigen, aber ein paar Jahre später erneut zur Wahl dackeln und ihre Stimme abgeben. Ich glaube, dass es gerade besonders wichtig ist, über NichtwählerInnenschaft zu diskutieren, weil nämlich durch so Leute wie Harald Welzer vor der letzten Bundestagswahl ein hässlicher neuer Typ von Wahlboykott propagiert wurde. Da geht es um eine – ich würde fast schon sagen faschistische – Argumentation, die sinngemäß sagt: „Die Parteien haben ja alle keine Ahnung und unterscheiden sich nicht, deswegen lasse ich die einfach machen.“ Das ist ja nicht das Argument der AnarchistInnen. Aus anarchistischer Sicht muss ein Wahlboykott u.a. damit begründet werden, dass die Menschen in der Politik durchaus wissen, was sie da tun und wir ihnen mit unseren Stimmen auch unsere Legitimation für ihr Handeln geben. Wir geben also bewusst Macht ab, die wir in der Demokratie natürlich faktisch noch gar nicht besitzen. Deswegen muss man gerade jetzt klar machen, dass es aus libertärer Sicht gute Argumente gegen den Parlamentarismus gibt.
Apfel: Aber das meine ich: Welzer vertritt mit seiner Sicht den größten Teil der Nichtwähler, die sagen: „Das ist alles das gleiche Gesindel.“ – das ist das Potential für Populismus, deswegen kommt Welzer damit auch in den SPIEGEL. Ein Libertärer kann seine wahlkritischen Thesen …
Karl: … in der Lirabelle vertreten.
Chinakohl: Wobei das Argument, dass die Parteien sich nicht wesentlich unterscheiden so falsch nicht ist. Die stehen alle in einem Konkurrenzverhältnis zueinander und versuchen mit Werbung ihr Klientel zu erreichen. Und es mag partielle Unterschiede geben, wenn Partei X an der Regierung ist, aber letztendlich sind die ja alle in denselben ökonomischen Verhältnissen drin. Und auch wenn eine Partei sagt, dass der Kapitalismus reformiert werden muss, ist da aus meiner Perspektive noch nicht viel gewonnen, weil noch die schönste Reform den Laden am Laufen hält. Was nicht heißt, dass es nicht gut und wichtig wäre, sich für mehr Lohn oder eine Humanisierung der Flüchtlingspolitik einzusetzen. Aber am Ende treten alle Parteien für die ökonomischen Interessen Deutschlands ein – und damit gerade nicht für die Bedürfnisse und Interessen der Menschen. Dafür müsste man schon die Verhältnisse radikal ändern. Und die spannende Frage, die hier anschließt ist, wie richtet man eine Gesellschaft anders ein, so dass die Menschen miteinander auskommen und die Bedürfnisse und Interessen aller gewährleistet werden?
Birne: Zuerst fällt mir da die Rätedemokratie ein. Aber die ist sehr nah an Arbeit ausgerichtet. Vielleicht müsste man sich eher an Methoden orientieren, mit denen Großgruppen Entscheidungen treffen können, wie es die Zapatistas in Chiappas tun – ohne BerufspolitikerInnen, aber mit einem imperativen Mandat.
Apfel: Das Beispiel Chiappas ist das, was am längsten funktioniert hat. Aber ich traue der Mehrheit der linken und linksradikalen Gruppen und Organisationen in Deutschland noch nicht mal ansatzweise zu, das zu praktizieren. Man sieht es schon hier in der Runde: Wie ich hier zu viel rede, sind es am Ende dann die männlichen Personen, die Entscheidungsfindungsprozesse dominieren.
Chinakohl: Wir entscheiden in politischen Zusammenhängen im Konsens.
Karl: Anders als beim Gespräch zu antifaschistischem Engagement in der ersten Lirabelle war es bei diesem Gespräch so, dass gerade die institutionell gebundenen Gesprächsteilnehmer strikte Anonymität zur Bedingung für ihre Teilnahme gemacht haben. Das hat mich gewundert. Wieso ist euch das so wichtig?
Birne: Nicht zu wählen ist in einem parlamentarischen System keine harmlose Entscheidung. Ich würde behaupten, dass hier im Raum derzeit zwei Personen sitzen, die berufliche Konsequenzen zu befürchten hätten, wenn sie offen zu einem politisch begründeten Wahlboykott aufrufen würden – weil es in gewissen Bereichen gewissermaßen zum Leitbild gehört, sich positiv zur parlamentarischen Demokratie zu stellen.
Karl: Heißt das, Ziel eurer Arbeit in zivilgesellschaftlichen Institutionen ist es, Leute zur Zustimmung zum bürgerlichen Staat zu erziehen?
Birne: Genau, konkret heißt es „ein positives Demokratiebild zu vermitteln“, wobei ich meine Arbeit anders auffasse. Ich verstehe Demokratiebildung eben durchaus auch darin, Alternativen zur parlamentarischen Demokratie aufzuzeigen, würde dieses „Lernziel“ aber in der Regel nicht an die große Glocke hängen.
Apfel: Da geht’s mir etwas besser, es würde zwar auch den Betriebsfrieden stören, wenn ich zum Wahlboykott aufrufen würde, aber basisdemokratische oder libertäre Positionen zur Diskussion stellen kann ich schon. So lange es politisch nicht zu konkret wird.
Zum Weiterlesen:
Agnoli, Johannes (2004 [1967]): Die Transformation der Demokratie. Hamburg.
Graswurzel-Revolution (1994): Wer wählt, hat die eigene Stimme bereits abgegeben. Münster, zu haben im Infoladen Sabotnik.
Rocker, Rudolf (1987): Wozu noch in die Parlamente? Reutlingen.
Stowasser, Horst (1995): Freiheit pur. Frankfurt, Download-Link auf der Webseite der Lirabelle.
Wolff, Roben P. (1979): Das Elend des Liberalismus. Frankfurt.
Wolff, Roben P. (1979): Eine Verteidigung des Anarchismus. Wetzlar.