Jürgen Wollmann von der mobilen Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen (EZRA) schreibt über Gewalt gegen Menschen, die den gesellschaftlichen Verhältnissen nahezu schutzlos gegenüberstehen.
In der öffentlichen Wahrnehmung sind wohnungslose und sozial benachteiligte Menschen kaum ein Thema – allenfalls werden sie als Störer der öffentlichen Ordnung und Sicherheit wahrgenommen.
Diese mangelnde Aufmerksamkeit und Solidarität führt häufig zu einer Nichtbeachtung der Gewalttaten gegen sozial Ausgegrenzte und der dahinter stehenden Motive. Häufig wird das rechte – sozialdarwinistische Motiv – bei Gewalt bis hin zum Mord gar nicht erkannt und thematisiert.
Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass rechtsextreme Ideologiesegmente anschlussfähig an gesellschaftliche Diskurse sind und dass diese Anschlussfähigkeit Auswirkungen auf die Wirkmächtigkeit rechtsextremer Erscheinungsformen hat. So weist beispielsweise Dierk Borstel darauf hin, dass Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) als Einstellungsmuster in der gesellschaftlichen Mitte rechts motivierte Gewalt legitimiert und ermöglicht. „Gesellschaftliche Anschlusspunkte rechtsextremer Akteure an diejenigen, die sich als ‚Mitte der Gesellschaft‘ definieren, finden sich im Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF). Sein Kern ist die Vorstellung von der prinzipiellen Ungleichwertigkeit der Menschen; ein Gedanke, den die Träger des Syndroms mit dem Rechtsextremismus teilen, auch wenn sie sich selbst nicht als rechtsextrem bezeichnen…“ (Borstel 2011, S. 24 ff.).
Ungleichwertigkeitsvorstellungen sind meist gepaart mit der Einstellung, dass Etablierte (z.B. in Deutschland Geborene, Menschen in einem festen Arbeitsverhältnis usw.) bestimmte Vorrechte besitzen.
Nach der jüngsten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2012 stimmen 11,8 % der Ostdeutschen der Aussage zu, dass es „wertvolles und unwertes Leben“ gibt (siehe Grafik).
Wer ist mit sozial Benachteiligte gemeint?
Es handelt sich um Menschen mit gesundheitlichen und/ oder sozialen Einschränkungen z.B. Drogenabhängigkeit, psychische Erkrankungen, Langzeitarbeitslosigkeit und Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten (fehlende oder nicht ausreichende Wohnung, ungesicherte wirtschaftliche Lebensgrundlage, gewaltgeprägte Lebensumstände, Entlassung aus einer geschlossenen Einrichtung).
Sozialdarwinismus
Die sozioökonomische Entwicklung im 19. Jahrhundert führte zu tiefgreifenden Veränderungen der gesamten Gesellschaft. Die immer stärker differenzierte Arbeitsteilung führte schließlich dazu, dass die Menschen in arbeitsfähige und arbeitsunfähige eingeteilt wurden. So lautete die soziale Frage zu dieser Zeit „Was sollen wir mit den Gruppen der Bevölkerung machen, die industriell unbrauchbar sind, wofür sind sie überhaupt da und wie viel sollen wir sie uns kosten lassen?“ Von da an werden diejenigen die „industriell unbrauchbar“ sind als fragwürdige Existenzen gesehen. Als Antwort auf die soziale Frage wurden flächendeckend Sondereinrichtungen wie Pflegeheime, Obdachlosenasyle, Waisenhäuser, Krüppelheime und psychiatrische Krankenhäuser errichtet.
Die Veröffentlichung Darwins „Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein“ bezog sich nicht auf die Menschen, sondern auf Stechpalmen, Stiefmütterchen, Purzeltauben und Misteldrosseln. Nach seiner Evolutionstheorie gibt es kein „Recht des Stärkeren“, sondern die am besten angepassten Individuen haben statistisch gesehen die meisten Nachkommen und geben somit ihre Gene weiter. Erst Herbert Spencer integrierte das Konzept der natürlichen Auslese in seine Sozialphilosophie und begründete damit den Sozialdarwinismus. In der Folge wird diese Auslesetheorie zum zentralen Modell des politischen und sozialen Denkens und eben auch in der Medizin und Psychiatrie.
Die in den Sondereinrichtungen lebenden Menschen werden nicht mehr nur als krank, sondern als erbkrank betrachtet. In psychiatrischen Krankenhäusern wurden Männer und Frauen durch die sogenannte „Geschlechterachse“ getrennt, um sie an der Fortpflanzung zu hindern. Ab ca. 1890 begann man damit, präventiv und in eugenischer Absicht zu sterilisieren. Der schweizerische Psychiater August Forel trifft dazu folgende Aussage: „Wir bezwecken damit keineswegs, eine neue menschliche Rasse, einen Übermenschen zu schaffen, sondern nur die defekten Untermenschen allmählich durch die willkürliche Sterilität der Träger schlechter Keime zu beseitigen und dafür bessere, sozialere, gesündere und glücklichere Menschen zu einer immer größeren Vermehrung zu veranlassen.“
Die „Euthanasiemorde“ in der NS-Zeit oder „Aktion T4“ ist eine nach dem Zweiten Weltkrieg gebräuchliche Bezeichnung für die systematische Ermordung von mehr als 100.000 Psychiatrie-Patienten und behinderten Menschen durch SS-Ärzte und -Pflegekräfte von 1940 bis 1941.
Ein weiteres wesentliches Element der nazistischen Ideologie war die Proklamierung der sogenannten „Volksgemeinschaft“. Der Staat im 3. Reich verstand sich als Garant, Förderer und Schützer dieser imaginierten „Volksgemeinschaft“. Das Wohl aller steht über dem Wohl des Einzelnen. Ergänzt wurde das Konzept mit rassistischen Vorstellungen, nach denen „das reine Erbgut der Völker“ gefährdet sei. Dagegen seien staatliche Maßnahmen zu ergreifen, um einem weiteren Verfall entgegen zu wirken. Staatliche Hilfen für Arme, Kranke oder Schwache wurden abgelehnt.
Rechte Gewalttäter rechtfertigen ihre Taten mit den oben genannten Argumenten und fühlen sich oft als Vollstrecker eines so genannten „Volkswillens“. Wahrscheinlich lehnen die meisten Menschen Mord ab, aber eine weitverbreitete Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal und dem Leid dieser Betroffenen, auch der Mangel an Solidarität mit den aus der Gesellschaft Ausgegrenzten, begünstigen ein Klima von Mord und Totschlag.
Wohnungslose als Betroffenengruppe
2010 lebten ca. 22.000 Menschen auf der Straße (Tendenz steigend). Ursachen sind häufig Unfälle, Firmenpleiten, Scheidungen, Todesfälle, Arbeitslosigkeit, Schulden, Gefängnisentlassung usw.
Die meisten Wohnungslosen leiden unter Mangelernährung, Rheuma, Hauterkrankungen, psychischen Erkrankungen und Suchtproblemen. Die Anzahl der psychisch Erkrankten ist ca. fünfmal höher als im Rest der Bevölkerung. Ca. ein Drittel haben erhebliche Alkoholprobleme. Die Lebenserwartung liegt ca. 30 Jahre unter dem Durchschnitt.
Gewalt gegen Wohnungslose
Nach Recherche von Zeit-Online wurden zwischen 1990 und 2010 mindestens 30 Wohnungslose aus Motiven der GMF ermordet (die zweitgrößte Opfergruppe nach den Rassismusopfern). Nur sieben dieser Fälle sind offiziell als rechte Morde anerkannt worden.
Die Bundes-AG Wohnungslosenhilfe ermittelte zwischen 1989 und 2009 167 Tötungsdelikte. Weiterhin wurden 366 Körperverletzungen mit schweren Folgen registriert. Die Morde und Körperverletzungen waren in der Regel nicht geplant und ergaben sich spontan.
Diese Taten zeichnen sich durch besondere Brutalität, Menschenverachtung und Gewalteskalation aus. Die meist älteren Opfer werden gefoltert, gequält, gedemütigt oder zu Tode getreten. Ein großer Teil der Täter ist nicht in der rechten Szene organisiert bzw. fühlt sich nicht der rechten Szene zugehörig.
Die gemeinsame Statistik aus dem Jahr 2012 (für 2013 liegt sie noch nicht vor) der Beratungsstellen für Betroffene von rechter Gewalt in den neuen Bundesländern zählt 626 rechte Gewalttaten. In ca. 1% der Fälle richtete sich die Gewalt gegen sozial Benachteiligte. Diese geringe Zahl bedeutet nicht, dass es nur diese Fälle gab. Die Dunkelziffer liegt wesentlich höher. Angriffe aus sozialdarwinistischen Motiven werden eben in der Regel nicht von den Betroffenen angezeigt. Trotz gesetzlicher Hilfeansprüche werden Obdachlose von Behörden schikaniert. Als Reaktion darauf lehnen sie Hilfe ab. Folgen davon sind auch Vereinzelung und Selbstisolation. Obdachlose sind besonders schutzlos, da sie keine Lobby haben und nicht organisiert sind.
Um einen Anhaltspunkt für die Größe der Dunkelziffer bei Gewalttaten gegen sozial Benachteilige und Wohnungslose zu haben, ist die Studie der Europäischen Grundrechteagentur aus dem Jahr 2008 zu Fremdenfeindlichkeit interessant. Demnach ist die Zahl der rassistisch motivierten Straftaten in der Europäischen Union fünfmal höher als bisher angenommen. Es wurden erstmals Angehörige ethnischer Minderheiten und Zuwanderer nach ihren Erfahrungen gefragt. Fast 40 % gaben an, sie seien innerhalb des vergangenen Jahres diskriminiert worden. 12 % wurden sogar Opfer rassistischer Gewalt. Doch 80 % von ihnen erstatteten keine Anzeige, so dass die Straftaten in den amtlichen Statistiken nicht auftauchen. Die hohe Dunkelziffer wird damit erklärt, dass Migranten und Angehörige ethnischer Minderheiten resigniert sind. Mehr als zwei Drittel meinten, es würde doch nichts unternommen, wenn sie Vorfälle meldeten. Ein Viertel äußerte sogar die Befürchtung, eine Anzeige könnte schädliche Folgen für sie haben. 80 % der Betroffenen gaben an, sie kennen keine Organisation, die sie beraten und unterstützen könnte.
Leider gibt es keine aussagekräftige Studie zur Diskriminierung und Gewalt gegen sozial benachteiligte Menschen. Aber die oben genannten Zahlen sprechen für sich.