Wie wir ja alle wissen …

Ich gehe gerne mit Freund_innen auf linke Kongresse. Mit Faszination beobachte ich, wie die verschiedenen Kegelclubs und Kaninchenzücher_innenvereine der Linken ihre ganz spezifischen Schrullen pflegen. Besonders schön ist es, wenn Leute sich ganz anders verhalten als erwartet, wenn z.B. die vermeintliche Macker-Antifa lecker kocht und ganz entzückend freundlich bei der Essensausgabe ist. Die folgenden Vorschläge zur Kongress-Gestaltung sind bei einem Kongress entstanden, bei dem viele Klischees bedient wurden. Von Pierre Bourdieu (angefragt).

1. Immer, wenn auf dem Podium jemand „Wie wir ja alle wissen“ oder „das ist ja allgemein bekannt“ sagt, macht das Publikum eine La-Ola-Welle. Das verstärkt das rhetorisch angerufene Wir-Gefühl, außerdem macht es das stundenlange Sitzen in unbequemen Hörsälen erträglicher.

2. Promovierende, die in einem sogenannten Einführungsworkshop das Theoriekapitel ihrer Dissertation vorstellen, organisieren eine Simultanübersetzung ins Proletarische. Die positiven Effekte: Die Promovierenden können für‘s Kolloquium üben, der wissenschaftstypische Bluff wird entzaubert und die Diskussion kann danach auch mit Leuten geführt werden, die kein sozial- oder politikwissenschaftliches Studium absolviert haben.

3. Zu jedem Panel wird ein weißer, männlicher Promi eingeladen. Der hat einzig und allein die Aufgabe, zu Beginn die anderen Podiumsteilnehmer_innen zu begrüßen und zu betonen, dass er ihre Themen sehr wichtig findet. Danach bleibt er zur Zierde auf dem Podium sitzen, nickt und lächelt dann und wann, schenkt den anderen Wasser nach und bedankt sich am Ende für die spannende Veranstaltung. Auf diese Art sind auch die Veranstaltungen über Feminismus und Rassismus voll, die Leute, denen es vor allem darum ging, Joachim Hirsch, Ernesto Laclau oder John Holloway live zu sehen, kriegen ihre Show. Alternativ könnte man auch bei jeder Veranstaltung „mit Slavoy Zizek (angefragt)“ dazu schreiben.

4. Alle Teilnehmer_innen erhalten bei der Anmeldung kleine Papp-Figürchen von Alain Badiou, Judith Butler, Michael Hardt, Michael Heinrich und dem ideellen Gesamtgewerkschafter. Immer wenn jemand auf dem Podium einen Ansatz, den er_sie nicht kennt und nicht mag, knapp vorstellt, um ihn zu verreißen, wird das entsprechende Pappfigürchen umgeschnippt. Wenn alle Pappkamerad_innen umgeschnippt sind, springen die Teilnehmer_innen auf und rufen „Bingo“ und der_die Referent_in kriegt einen Blumenstrauß.

5. Wenn ein Student betont, dass Verteilungsfragen belanglos und unter seiner Würde sind, wird das Licht im Hörsaal gelöscht. Ein Spot richtet sich auf ihn und das proletarische Umverteilungskommando drängelt sich durch den Raum und zockt Bargelt und Iphone. Aus dem Erlös wird die →Simultanübersetzung ins Proletarische finanziert.

6. Es gibt einen Sammelworkshop für Erkenntnis-Sekten, in dem all diejenigen, die sonst durch lange Co-Referate mit rhetorischen Fragen die Diskussion dominieren, unter sich diskutieren können. Themen des Sammelworkshops sind:

► Warum sind die Begriffe und Fragestellungen die falschen?
► Wie lässt sich letztlich jeder Gegenstand durch einen gesellschaftlich induzierten kollektiven Wahn erklären?
► Wie kann man man Subjekt und Objekt durch lange und komplizierte Satzkonstruktionen so weit wie möglich voneinander trennen?
► Wie lässt sich Sprache so modifizieren, dass sie nichts mehr über die Verhältnisse sagt, in der sie entstanden ist?
► Warum machen die Massen nicht bei unserer Organisation mit?
► Wieso ist der Vorschlag 5 dieser Liste faschistoid?
► Warum sind alle außer mir so spleenig?

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