Mitmenschlich

Während der Druck auf der Straße durch die organisierten Thüringer (Proto-)Faschisten steigt, geht die Thüringer Polizei gegen Antifas vor und die Zivilgesellschaft dreht auf dem Erfurter Domplatz ein Feel-Good-Movie. Von Ox Y. Moron.

Vom 3. bis 8. November belagerten zwischen 15 und 30 Neonazis in Gotha die im Entstehen begriffene Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge, die in einem ehemaligen Praktiker-Baumarkt eingerichtet wurde. Während des ganzen Zeitraumes war nicht klar, wie sich diese Situation entwickeln würde. Die Erfahrungen aus Heidenau, Chemnitz und Freital im Hinterkopf musste täglich mit der Zuspitzung der Situation gerechnet werden. Die Nazis riefen zur Blockade der ankommenden Busse mit Geflüchteten auf. Nach und nach schlossen sich diesem Aufruf alle Organisationen an, die in der Neonaziszene Rang und Namen haben. Am Samstag, den 7. November blockierten die Nazis tatsächlich für wenige Momente die Straße als ein Bus mit Flüchtlingen auf der Zufahrt zum Baumarkt stand. Sie brüllten den Menschen, die ihr nacktes Leben vor Krieg, Terror und Not nach Europa retteten, „Not welcome“ entgegen. Die Bullen reagierten gelassen. Hundertschaften waren nicht vor Ort. Widerwillig drängte die Landespolizei die Nazis von der Straße und redete, was ein Video belegt1, kumpelhaft auf die Kameraden ein. Ganz anders als mit den Nazis gingen die Bullen mit den gegen die Nazis protestierenden Antifas um. Rigorose Kontrollen, Kessel und Schikanen waren Teil der Polizeitaktik mit der sie gegen jene vorging, die sich mit den Geflüchteten solidarisch erklärten und die eingeschritten wären, hätten sich in Gotha Verhältnisse wie in Heidenau oder Freital herausgebildet. Die Antifas in Gotha standen allein. Die rot-rot-grüne Zivilgesellschaft sah man selten, ihre Polizei ging gegen die Antifas vor. Und während sich Anfang November also in Gotha die Antifa aus Gotha, Erfurt, Südthüringen, Jena und anderswo mit dem Mut der Verzweiflung gegen sächsische Zustände stemmte und dabei von der Polizei im rot-rot-grün-regierten Thüringen schikaniert wurde, bereitete die Zivilgesellschaft jenes Landes auf dem Erfurter Domplatz ein Feel-Good-Movie vor.

Mitmenschlich in Thüringen

Tausende Rassistinnen und Rassisten haben in den Herbstmonaten des Jahres 2015 in Erfurt sowie in Ostthüringer Städten wie Altenburg, Gera und Greiz demonstriert. Eine zeitlang schien es als würde der Druck auf der Straße kontinuierlich steigen. Weder Antifa noch Zivilgesellschaft, und auch nicht beide zusammen, konnten diesen Rassistenaufmärschen mehr entgegnen als verhaltenen Protest und, nachdem es zu teils schweren Angriffen durch Neonazis kam, Selbstschutz. Wie so häufig, wenn die Verhältnisse die Unterlegenheit der (gesellschaftlichen) Linken bloßstellen, stellen ihre Apologeten die Organisationsfrage. Bündnisse müssen her. Davon werden die Willigen zwar nicht mehr, aber es klingt nach Gegenmacht. Das ambitionierteste und mit Abstand größte dieser Bündnisse ist dieser Tage das Bündnis „Mitmenschlich in Thüringen“. Es versammelt so ziemlich jede gesellschaftspolitische Organisation jenseits von NPD, AfD und CDU von den Kirchen bis zu den Parteien, den Gewerkschaften bis zu den Arbeitgeberverbänden, den Hochschulen bis zu den NGOs; ausgenommen selbstredend die radikale Linke. Sie alle unterzeichneten gemeinsam einen Aufruf und mobilisierten zur Großdemonstration am 9. November auf dem Domplatz auf. Der Zeitplan dieser Symbolveranstaltung war eng bestellt. Inhaltliche Redebeiträge gab es faktisch keine. Die in stundenlanger Übereinkunft abgestellte Rednerliste ließ auch keinen Platz für einen Beitrag der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 25. antifaschistischen/antirassistischen Ratschlags mit der Minimalforderung eines Winterabschiebestopps.2 Statt inhaltlicher Auseinandersetzung mit dem Naziproblem reihte die vertretene, rührselig beieinander stehende Politprominenz nach sentimentalen musikalischen Einlagen eine Absichtserklärung und Siegesgewissheit an die nächste. Wieder mal war die Zivilgesellschaft von sich selbst berauscht.3 Und wie das im Rausch häufig so ist – man verliert den Blick für die Realität.

Ganze 6.000 Leute sollen es gewesen, die dem Aufruf der versammelten Prominenz aus Thüringen folgten. In Hochschulen, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, den Thüringer Mainstreammedien, sozialen Netzwerken und andernorts hatte man wochenlang getrommelt. Am Ende kamen nur unbedeutend mehr Menschen als zu den Aufmärschen der AfD einige Wochen zuvor. Damals hatte exakt eine Organisation aufgerufen, die AfD. Der 9. November auf dem Domplatz, der zum Signal eines anderen, weltoffenen Thüringens werden sollte, wurde zum Beweis dafür, dass es dieses Thüringen nicht gibt. Dabei hatte es am Aufruf sicher nicht gelegen. Hier waren die linken Initiatoren des Bündnisses dem „Erfolgsrezept“ der Sozialdemokratie gefolgt, das Wolfgang Pohrt einmal in etwa so beschrieben hat: ‚man verzichtet um des Kompromisses willen auf die Wahrheit und zieht dann doch keinen praktischen Nutzen daraus.‘ Der Aufruf, der so weichgespült daher kommen musste, dass sogar die CDU ihn unterstützen könnte – die das am Ende nicht mal tat –, war ein Zeugnis des Unverstehens der Thüringer Zivilgesellschaft vor der aktuellen Situation. Ich kann hier nur zwei zentrale Irrwege dieses gewaltigen Unverstehens benennen.

1. Rassismus falsch verstehen

Der Aufruf kommt zu dem Ergebnis, dass die „Ängste“, wie man den rassistischen Hass im Gleichlaut mit den Brandstiftern verharmlosend nennt, oftmals aufgrund falscher oder verkürzter Informationen entstehen. Solches Denken, das Rassismus als Vorurteil begreifen will, statt als gesellschaftliches Verhältnis, das seinen Ursprung in der bestehenden Grundordnung hat, ist eine der Grunddummheiten dieser Tage. Diese Dummheit, die der Aufruf beiträgt, in der Welt zu halten, ist von der Logik der Nazis gar nicht so verschieden, die vorgeben, die Ausländer von sich fern halten zu wollen, weil sie einer anderen (der „islamischen“) Kultur entsprängen und diese mit der hiesigen, abendländischen eben nicht vereinbar sei.

Ich will auch gar nicht bestreiten, dass es diesen Hass auf die Verschiedenheit, auf kulturelle Differenz gibt. Im Gegenteil. Vielfach speist sich dieser Hass sogar aus der Projektion der eigenen verdrängten Wünsche und Begierden in das „fremde“ Gegenüber, wie in subtiler Weise die Ungehemmtheit, Bindungslosigkeit und sexuelle Freizügigkeit, die der Rassist beispielsweise in den Sinto oder die sexuelle Potenz, die der weiße Spießer in den Schwarzen projiziert. So will der deutsche Rassist am Ausländer exekutieren, was er an sich selbst nicht dulden kann, weil Moral und ökonomischer Zwang ihn daran hindern. Die rassistische Angst vor „fremden“ Sitten und Gebräuchen ist also nichts anderes als die verdrängte Sehnsucht danach bzw. an das, was man sich darunter vorstellen will. Insoweit gibt sich der Rassist vielleicht mit besseren Informationen zufrieden; sieht ein, dass der durchschnittliche Syrer vielleicht doch genauso prüde und verkniffen ist wie man selbst.

Doch ganz so einfach ist es mit dem Rassismus eben nicht. Was der mehrheitsdeutsche Rassismus, dem AfD, NPD und „besorgte Bürger“ in gleicher Weise zusprechen, ganz besonders an den Migranten hasst, sind nicht primär ihre kulturellen Eigenheiten, die man als multikulturelle Folklore im Zirkus oder „südeuropäisches Temperament“ im Bordell gerne toleriert, sondern sie hassen vor allem das, was sie mit den Ausländern gemeinsam haben. Bereits 1986 hat das Wolfgang Pohrt in seinen Thesen zu „Linke und Ausländerpolitik“ formuliert, die, an Aktualität nichts einbüßend, hier auszugweise zitiert werden:

„Zum Ärgernis werden sie [die Ausländer] also nicht durch die Fremdheit ihrer besonderen Kultur, sondern dadurch, daß sie wie die Einheimischen Arbeitsplätze und Wohnungen brauchen, daß sie sich einen Mercedes kaufen, in die Disco gehen und die Kaufhäuser bevölkern. Gehaßt an den Ausländern wird nicht ihre Andersartigkeit, sondern ihre Ähnlichkeit mit den Einheimischen, die sich unvermeidlicherweise aus der Tatsache ergibt, daß sie am selben Ort und unter den selben Bedingungen wie die Einheimischen leben. Vergeblich sind deshalb alle Versuche, durch multinationale folkloristische Beschnupperungsfeste bei den Einheimischen Sympathie für die Ausländer zu wecken, denn Sympathie für deren Folklore war ohnehin schon vorhanden. Vergeblich sind deshalb alle Versuche, um Verständnis bei den Einheimischen für die fremde Kultur zu werben, denn gerade weil die Ausländer keine unbegreiflichen exotischen Menschenfresser sind, die auf Jahrmärkten hergezeigt werden, kann man sie nicht leiden. Gerade weil sie so wenig fremd sind, weil sie mit den bundesrepublikanischen Verhältnissen so wenig Probleme haben, daß sie im Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze und Wohnung mithalten können, werden sie gehaßt. Das Gerede von den verschiedenen Kulturen […] dient dazu, der Feindschaft gegen Ausländer edle Motive nachzusagen, während es in Wahrheit dafür nur einen niederen Beweggrund gibt, nämlich den blanken Futterneid.“

Aus dem Geraune um die verlorene nationale oder kulturelle Identität, die durch die fremde Kultur unterminiert werde, was ja toll wäre, wenn man sich den Satz Paul Tillichs vergegenwärtigt, dass mit einer Kultur, die einen Hitler hervorgebracht hat ja etwas nicht stimmen kann; aus diesem Gerede also spricht nichts anderes als der banale ökonomische Wettbewerb, in welchen die Menschen durch das Kapitalverhältnis getrieben werden. Rassismus ist kein bloßes Vorurteil und durch bessere Informationen aufklärbar, sondern Rassismus ist ein gesellschaftliches Verhältnis, eine Strategie, mit der die bürgerlichen Subjekte sich die bestehenden Verhältnisse rechtfertigen, ohne sich ihre eigene reale oder potentielle Überflüssigkeit in diesen Verhältnissen eingestehen zu müssen.

Die „Ängste“ der „besorgten Bürger“ ernst zu nehmen, wie der Aufruf von „Mitmenschlich“ postuliert, kann im emanzipatorischen Sinne nur bedeuten, die zugrunde liegende Ideologie der Verwertung und des Ausschlusses aufzuklären. Mit gutem Zureden und Verständnisheischerei ist es also beim Rassismus nicht getan, weil dieser nicht in Vorurteilen fußt, sondern im falschen Denken, das den falschen Verhältnissen sich angleicht.

2. Das Menschenrecht schützt nicht das Schutz suchende Individuum, sondern die verwertbare Ware

Das Zauberformel der Zivilgesellschaft gegen die Aufmärsche und Aktivitäten der Brandstifter ist die Verteidigung der Menschenrechte. Auch diese wird im Aufruf und den Veröffentlichungen des Bündnisses „Mitmenschlich in Thüringen“ bis zum Erbrechen beschworen. Das Menschenrecht sei der Garant von Würde und Leben der Schutz suchenden Menschen. Solcher Idealismus ist, gelinde gesagt, realitätsfremd. Schon ein Blick in die Geschichte verrät, wem das Menschenrecht gilt. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung galten die unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Glücksstreben den individuell freien und rechtsgleichen Marktsubjekten, weswegen Frauen und Sklaven als Träger solcher Rechte gar nicht vorgesehen waren. In ihren Genuss kamen die Waren produzierenden und Geld verdienenden Bürger als Arbeitskraftbehälter. Mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise kamen immer mehr Menschen als rechtsfähige Marktsubjekte in den Genuss dieser Rechte. Aber diese Bewegung funktioniert eben auch umgekehrt. Der Kapitalismus produziert im Zuge von Rationalisierung ein tendenziell wachsendes Heer an Überflüssigen, deren Arbeitskraft nicht benötigt wird und die, sollte kein soziales Netz sie retten, verelenden. Abgelehnte Asylbewerber sind deshalb nur bedingt Träger von Menschenrechten. Die Abschiebung der Roma in Verfolgerstaaten wie Serbien oder Mazedonien beweist die Nichtigkeit des Universalitätspostulats dieser Rechte. Sie gelten den rechtsfähigen Marktsubjekten und das sind eben nicht die, die aufgrund unterschiedlicher Umstände (Sprache, kein Arbeitskräftebedarf, Bildung) nicht zur Verwertung taugen.

Gleich und geschützt sind in dieser Ordnung nicht die Schutz suchenden Menschen, sondern die verwertbaren Waren. Wer nicht zur Verwertung taugt, fällt notwendig dieser Logik zum Opfer. Das Mitmenschlich-Bündnis macht nun nichts anderes, als die Opfer dieses Prinzips eben (und lediglich nominell!) im Namen der Logik zu verteidigen der sie zum Opfer fielen. Ihre „Mitmenschlichkeit“ reicht damit nicht an die gesellschaftlichen Ursachen von Ausschluss und Verfolgung heran und erst recht nicht erreicht sie damit die rassistischen Scharfmacher und ihre Gefolgschaft, denen das Postulat der Menschenrechte herzlich egal ist, solange es nicht zur eigenen Niederlage in der Konkurrenz auszuwachsen droht.

Wer auf solche Weise den Nazis und ihren Anhängern beikommen will, der hat diese Gesellschaft nicht verstanden. Die „Mitmenschlichkeit“ der Zivilgesellschaft macht diese Welt nicht besser, sondern treibt die Verdinglichung des Lebens an, die der Logik des Kapitals folgt; verteidigt das Prinzip, das Zerstörung und Verelendung auf Dauer stellt. Wer von der neuen Landesregierung etwas anderes erwartet hatte, weiß es jetzt besser. Rot-rot-grün schiebt ab wie die Regierungen zuvor auch und zuerst trifft es mal wieder die Roma. Mitmenschlich, das heißt hier: Gegen Nazis demonstrieren und ihrem Terror am Ende doch nachgeben, ihn in parlamentarisch-demokratisches oder polizeiliches Handeln umsetzen. Keiner der Verantwortlichen würde das eingestehen, aber längst regiert der Mob auf der Straße mit, treibt die herrschende Politik, die in ihm das eigene Wahlvieh erkennt, vor sich her. Heißen diese Verantwortlichen nun Ramelow oder Lieberknecht – der Unterschied für die am schlimmsten Betroffenen kapitalistischer Zerstörung ist gradueller Natur. Wer sich dem noch widersetzt, der steht vor der, von Adorno formulierten, fast unlösbaren Aufgabe, im Angesicht brachialer Gewalt durch Staat und Nazis und eingeschränkter eigener Handlungsmöglichkeiten, „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“


1
Anzuschauen hier: http://on.fb.me/1lYlFrj

2
Derzeit abrufbar unter www.ratschlag-thueringen.de

3
Gemeinsam mit meiner Genossin Eva Felidae schrieb ich in der vergangenen Ausgabe von der letzten Selbstberauschung der Thüringer Zivilgesellschaft. Vgl. Lirabelle #10, S. 17-21.

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