Die Falken auf Feldforschung bei der Antifa

Am 12. November fand, organisiert vom Antifa-Bündnis Gotha unter dem Motto „Volkstrauertag abschaffen“, eine Demonstration in Erfurt statt, bei der mittels Redebeiträgen am Beispiel des Volkstrauertages eine Kritik der deutschen Gedenkpolitik geleistet wurde. Die Falken aus Erfurt, die eingeladen wurden einen Redebeitrag zu halten, stellten in ihrem etwa 20minütigen Kurzreferat nicht nur unzweifelhaft klar, wer „den Längsten“ hat, sondern erhoben auch eine Reihe von mit Verachtung vorgebrachte Vorwürfe, mit denen sich Dori und Ox Y. Moron an dieser Stelle in angemessen pöbelig polemischer Art auseinandersetzen werden.

Die Kritik deutscher Gedenkpolitik, wie sie vom Antifa-Bündnis Gotha betrieben wird, tut dies auf Grundlage der These, dass „[d]ie Gedenkpolitik nach 1945 in diesem Land [] stets Ausdruck des Versuches [war], die unaufgearbeitete Vergangenheit des Nationalsozialismus zu bewältigen.“1 Ganz im Ausdruck dieses Bestrebens steht der Volkstrauertag. An diesem Tag wird der Unterschied zwischen Tätern und Opfern des Nationalsozialismus relativiert, in dem nicht nur von Nazis, sondern auch offiziellen Vertretern der Bundespolitik den einstigen Tätern als Opfern gedacht wird. Das aber sei, so der Vorwurf der Falken2, „schlichtweg falsch“, wie es zum Beispiel an der Rede, die Joachim Gauck im Jahr 2015 zum Volkstrauertag gehalten hatte, zeige. Seine Rede nämlich strotze vor „Eingeständnis in Bezug auf die deutsche Schuld am Nationalsozialismus… Er nivelliert die Unterschiede zwischen Tätern und Opfern also keinesfalls, sondern unterstreicht diese geradezu, aber: um dann eben doch auch der deutschen Opfer wenigstens individuell Gedenken zu können.“ Dass das Halten einer Rede bei einem offiziellen Gedenkakt von dem Vertreter der Bundesrepublik in seiner Funktion als Bundespräsident eben kein rein individuelles Gedenken sein kann, sei einmal dahingestellt. Folgt man der Argumentation der Falken weiter, ist eigentlich kein identifizierbares Problem an deutscher Gedenkpolitik erkennbar. Keiner wolle den Unterschied zwischen Tätern und Opfern nivellieren, die deutschen Verbrechen dadurch relativieren, dass die Deutschen ebenso mit einem Opferstatus versehen werden und ergo nicht nur Täter waren und Vergessen machen will die Vergangenheit sowieso niemand. So heißt es im Redebeitrag: „Die Erkenntnis, dass heute i.d.R. der Nationalsozialismus und die Taten der Deutschen gerade nicht vergessen gemacht werden sollen, hat der Genosse Eike Geisel schon vor Jahrzehnten formuliert… Gerade ‚die offenherzige Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus‘, bemerkte Geisel, ‚ging reibungslos konform mit wachsendem Ausländerhass und parteiübergreifendem Patriotismus‘.“

Eike Geisel wird hier herangezogen, um die These zu stützen, dass eine deutsche Erinnerungspolitik nicht mehr im Dienste des Vergessens stehe – etwas das nicht nur falsch ist, sondern den zitierten Geisel unrecht tut, wenn man ihm diese Position unterschieben will. Wenn dieser nämlich auf die ‚offenherzige Beschäftigung mit dem Nationalsozialmus‘ hinweist, dann ist bei und mit ihm mitnichten die Konsequenz daraus zu ziehen, einem Vergessen werde hier nicht Vorschub geleistet. Hätte man, statt Satzfragmente aus Klaus Bittermanns Vorwort zu zitieren, einmal einen Blick in Eike Geisels Texte geworfen, käme man um diese Erkenntnis nicht herum. Dort kritisiert er eine Erinnerungswut als Entsorgung der deutschen Vergangenheit scharf und klar, wenn er schreibt: „Daß die Deutschen mit der nämlichen Betriebsamkeit, die sie einst beim Vernichten und danach beim Vergessen an den Tag gelegt hatten, sich nun an die eigene Vergangenheit machen, diesem Umstand haftet etwas Groteskes an…Nicht mehr verdrücktes Schweigen stiftet Gemeinschaft wie vordem, sondern die hemmungslose Redseligkeit aller.“ Worauf Geisel dabei aufmerksam macht, ist ein Wandel, den die deutsche Gedenkpolitik und also die Beschäftigung mit dem Nationalsozialmus erfahren hat. Im Zuge dieses Wandels vom Verschweigen hin zu einer redseligen Beschäftigung mit der Vergangenheit hat sich auch der Umgang mit der Schuld am Nationalsozialismus geändert. Zur Schuldabwehr- und relativierung gesellen sich Momente der Schuldneutralisierung. Der Nationalsozialmus wird nun akzeptiert als Teil der deutschen Vergangenheit und somit als Teil der deutschen Identität. Im Sinne eines „aus der Vergangenheit gelernt habens“ ist sie Teil eines neuen deutschen Selbstbewusstseins.
Die Formen der Vergangenheitsbewältigung eines „die Schuld bzw. Verbrechen des Nationalsozialmus relativeren“ einerseits und dem „aus der Geschichte gelernt haben“ andererseits gegeneinander auszuspielen aber ist falsch, denn auch das nur diffuse Erinnern an den Nationalsozialmus dient dem Vergessen, ist der Stiftung eines Kollektivs deutscher Nationen dienlich. Es steht im Dienste eines Deutschlands, das es abzuschaffen gälte, wollte man mit der Aufarbeitung der Vergangenheit als die Beseitigung der Bedingungen die nach Auschwitz führten ernst machen. Es steht auch nicht im Widerspruch zum am Volkstrauertag stattfindenden allgemeinen Relativieren der eigenen Schuld, sondern dient in geänderter Form den gleichen Interessen, nämlich dem Bewältigen der Vergangenheit im Sinne eines Erledigens und sich Entledigens. Dass es sich bei beiden Modi der Gedenkpolitik nur um Scheinwidersprüche handelt und das Vergessen im Erinnern fortexistiert, hätte nicht nur dem klar sein müssen, der sich auch an dieser Stelle nicht mit einer oberflächlichen Beschäftigung begnügt hätte und mit dem Ziel einer – nennen wir es wohlwollend – Kritik der Position des Bündnisses, einen Blick in deren Broschüre geworfen hätte3, in dem die Argumentation ausgeführt ist. Der als Beispiel herangezogene Joachim Gauck verdeutlicht besser wie kein anderer, wie diese beiden Modi der Gedenkpolitik zusammenpassen und zusammengehören. In der von ihm angeführten Rede heißt es: „Heute ist sich Deutschland seiner Verantwortung bewusst, ganz besonders für den Vernichtungskrieg des nationalsozialistischen Regimes… Heute können wir der deutschen Opfer gedenken, weil wir auch der Opfer der Deutschen gedenken.“ Im Gedenken an die Opfer von Krieg, Gewalt und Terror stehen bei Gauck die Deutschen in der Reihe mit vielen anderen Opfern; er schließt mit der Einforderung der Versöhnung über den Gräbern. Die Deutschen haben aus ihrer Geschichte gelernt, möge man sie endlich Ruhen lassen. Es ist dies – um nocheinmal Eike Geisel zu bemühen – ein „eigentümliche[r] Prozeß, in welchem sich Erinnern und Vergessen wechselseitig durchdringen“.

Dass nun die Verbrechen des Nationalsozialmus am Volkstrauertag relativiert werden, in dem man – sei es nun ausschließlich oder unter anderem – die einstigen Täter ehrt, ihnen gedenkt, stellt einen Anachronismus in einem Gedenkdiskurs dar, in dem man sich durch die Beschäftigung mit dem Nationalsozialmus im Gewand der Büßer präsentiert.4 Dass beidem aber dieselben Interessen zugrunde liegen, zeigt auch die Tatsache, dass beides miteinander koexistiert und lässt sich an kaum einem anderen Beispiel besser vorführen, als am Volkstrauertag.

Vom Ritualhopping bis zum Proletariatskitsch – Unterstellungen aller Art

Neben einer falschen und als überflüssig dargestellten Kritik deutscher Gedenkpolitik attestieren die Erfurter Falken dem Antifa-Bündnis Gotha, ihr Protest habe bloß rituellen Charakter. Jedes Jahr versammle sich die gleiche Gemeinde zum, in vorgegebenen Bahnen verlaufenden, Stelldichein, business as usual statt revolutionärem Aufbruch. Es gehe jedes Jahr um die Versicherung moralischer Erhabenheit und Identitätsstiftung, Neues werde nicht mehr gesagt. Neues wussten die Falken selbst dann ebenso nicht zu erzählen – wie man eingestand – und auch sonst ist der Praxis der Falken nicht die emanzipatorische Aufklärung und schließlich revolutionäre Aufwiegelung der Massen gutzuschreiben, ihre Rituale laufen bloß anders ab. Am Ende kommen dabei Leute wie Sigmar Gabriel heraus, um den abwegigen Vorwurf des „Karrieresprungbrettes Antifa“ zurückzugeben – eine Projektionsleistung, wie so vieles im Text. Was die Falken im konkreten Fall nun wissentlich unterschlagen, ist, dass es das Antifa-Bündnis Gotha nicht bei Nachttanzdemonstrationen belässt. In den vergangen Jahren organisierte das Bündnis vielfältige Protestformen und ganze Vortragsreihen zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ihrer Kritik. Erwähnt seien an dieser Stelle die öffentlichkeitswirksame Verleihung des goldenen Scheißhaufens an die Stadt Friedrichroda 2013, das gefakte Nazidankesschreiben an die schweigenden Bürgerinnen und Bürger der Stadt von 2013, die Störung einer Veranstaltung des Verfassungsschutzes in Friedrichroda 2014 und die Gründung einer satirischen Bürgerinitiative zum Abriss des Vaterlanddenkmals zu Gunsten einer Fastfoodfiliale 2014 – alles Protestformen, die nicht der von den Falken beschriebenen Ritualität folgten. Im vergangenen Jahr veröffentlichte das Bündnis eine oben schon erwähnte Broschüre, die nicht nur die Geschichte dieses Protestes festhielt, sondern auch den Stand der Auseinandersetzung mit der Kritik der deutschen Gedenkpolitik im Allgemeinen und der Kritik des Volkstrauertages im Besonderen. Diese und andere Veröffentlichungen muss ausblenden, wer einem Bündnis anhand eines Zweiseitenaufrufes allerlei Verkürzungen und Unfähigkeit zur Kritik vorwerfen will und das in einem fast 20-minütigen als „Redebeitrag“ vorgestellten Kurzreferat. Über Sinn und Zweck bestimmter Text- und Vortragsformen herrscht bei den Falken großes Unwissen.

Richtig albern wird es dann, wenn den Organisatoren – das sind, wie die Falken anmerkten: antideutsche Kommunisten – unterstellt wird, eine einfache Unterteilung der gesellschaftlichen Kräfte in Gut und Böse zu betreiben und dabei den Begriff des Proletariats retten zu wollen. Wie das geht? Die Falken machen‘s möglich. Sie nehmen dafür an einem Satz aus dem Aufruf Anstoß, der konstatiert, dass das nivellierende, also zwischen Opfern und Tätern nicht mehr unterscheiden wollende, Volkstrauertagsgedenken im Land der Täter „für die politische Linke und für alle Menschen problematisch [ist], die dafür eintreten, dass die Bedingungen der deutschen Barbarei, die Bedingungen des eliminatorischen Antisemitismus in diesem Land und weltweit beseitigt werden.“ Ein Satz, der besagt, dass eine politische Linke, die diesem Anspruch (eine progressive Kraft zu sein) gerecht wird, gegen die Verklärung der Vergangenheit zu intervenieren hat. Statt wie in der Unterstellung der Falken, die den normativen Anspruch des Bündnisses an eine politische Linke als eine Zustandsbeschreibung lesen wollen, wonach es diese Linke schon gebe und mit ihr ein in diesem Bewusstsein zu aktivierendes Proletariat, nimmt das Bündnis nichts weniger ernst als den kategorischen Imperativ Adornos, wonach die Forderung, dass Auschwitz sich nie – in welcher Form auch immer – wiederhole, erster Anspruch an die politische Bildung von Menschen sein müsse. Wer dafür kämpft, dass sich Auschwitz nicht wiederholt, muss aber dafür eintreten, dass die Vergangenheit aufgearbeitet wird und das heißt zum einen, „daß man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewußtsein“ (Adorno) und zum anderen, dass man die Ursachen des Vergangenen und damit das Fortbestehen seiner Möglichkeit als Option der Gegenwart beseitigt, kurz: die kapitalistische Vergesellschaftungsweise überwindet. Das hat nichts mit Proletariatskitsch (wohl eher ein Steckenpferd der Falken) oder der Verklärung einer Frontstellung in Gut und Böse zu tun; schon gar nicht bei antideutschen Kommunisten, die sich bewusst sind, dass die Anforderungen und Zwänge dieser Vergesellschaftung sich in die Einzelnen einfressen und festsetzen so sehr sie sich auch subjektiv dagegen zu wehren vermögen.

Dass die Falken jenen kategorischen Imperativ Adornos, auf den das Bündnis in normativer Weise als zu verankerndes Selbstverständnis einer wirklichen politischen Linken indirekt anspielt, hämisch wegwischen, zeigt der im Fortgang dem Bündnis verhöhnend unterstellte Alarmismus, wonach das Bündnis suggeriere, es stehe alles auf dem Spiel. Tatsächlich aber hängt an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus einiges. Die außenpolitische Rehabilitation Deutschlands sowie das Ablegen innenpolitischer Skrupel etwa im Umgang mit Minderheiten (Abschiebung von Roma, mindestens temporäres Außerkraftsetzen des Rechtsstaates gegen die Opposition, etc.) hingen nicht zuletzt an der glaubhaft gemachten Läuterung des demokratischen Deutschlands. Dass diese Läuterung in einer Weise vonstatten ging, die weder mit hellem Bewusstsein das Vergangene aufarbeitete noch die fortbestehenden Möglichkeitsbedingungen einer Wiederholung des Vergangenen beseitigten, ist ein Missstand, der tatsächlich bedeutend ist und auf den das Bündnis mit Recht immer wieder insistiert. Das Ganze hat nichts mit der Gleichsetzung von Nationalsozialismus und demokratischem Deutschland zu tun, wo auch immer die Falken diese neuerliche Unterstellung ableiten wollen. Sie widerspricht schon der Grundbedingung der Politik des Bündnisses. Wären Nazideutschland und BRD im Verständnis des Antifa-Bündnis Gotha identisch, so wäre die Anklage einer fadenscheinigen Läuterung der BRD, der Verharmlosung des Nationalsozialismus und das Insistieren auf einer „Kontinuität jener Bedingungen, die nach Auschwitz führten und die bis in die Gegenwart fortdauern“ (Bündnisaufruf) obsolet. Warum sollten Bedingungen fortdauern, wenn der Zustand, den sie bedingen könnten, längst erreicht ist?

Zum Ende des Redebeitrages erklärt man den „unzähligen Studenten“, dass sie es sind, die sich bloß „klassistisch“ von den Nazis abgrenzen, um schließlich „dem Kapital über seine endgültige Krisis zu verhelfen“. Was das Ganze mit der Demo, dem Aufruf und der Wirklichkeit zu tun hat? Wer weiß das schon. Studentische Massen waren auf der Nachttanzdemo in Erfurt jedenfalls nicht zugegen und wie das Kapital eine Krise überlebt, die diesmal die – wie die Falken wissen – wirklich ultimativ endgültige sein wird, erfahren wir dann beim nächsten Kurzreferat sozialdemokratischer Nachwuchskader.

Fazit

Der Vorwurf der Unfähigkeit zu Kritik zu Gunsten bloßer verbaler Radikalität erweist sich am Ende wie so vieles aus dem „Redebeitrag“ als bloße Projektionsleistung paternalisierender Berufsjugendlicher, die mit einer Mischung aus obsessiver Abscheu und Konkurrenzdenken auf die Antifas sowie auf Studierende – warum auch immer – herabschauen. Aus gutem Grund ist dieser „Redebeitrag“ auf der Homepage der Falken quasi versteckt worden, tauchte weder im Newswire noch auf den Social Media Accounts auf. Insgeheim wussten die Autoren, dass dieses Kurzreferat unter dem Niveau einer Ortsgruppe ist, die sich ihrem eigenen theoretischen Anspruch nach und in ihrer Bildungsarbeit auf die Kritische Theorie Adornos beruft.


1
Das Zitat stammt aus einem Flugblatt, das die Antifa Arnstadt-Ilmenau als Teil des Antifa-Bündnis Gotha im Jahr 2012 auf der antifaschistischen Demonstration zum Volkstrauertag in Friedrichroda verteilte und das in der 2015 erschienen Kampagnen-Broschüre dokumentiert ist (S. 4ff): http://bit.ly/2gsGc9I

2
Das ganze Pamphlet gibt es online auf der Homepage der Falken: http://bit.ly/2gze5E7

3
Mit genauerem Hinschauen hätte sich auch der Vorwurf erledigt, das Antifa-Bündnis unterscheide nicht zwischen bundesrepublikanischem Volkstrauertag und nationalsozialistischem Heldengedenken.

4
Ähnlich wie übrigens auch der Bund der Vertriebenen es darstellt, bei deren Tag der Heimat Bundespräsident Joachim Gauck in diesem Jahr eine Festrede hielt.

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