Teilhabe und Sichtbarkeit für Alle

In allen deutschen Städten und Provinzen sieht man neuerdings Menschen, deren Präsenz davon Zeugnis ablegt, dass sie im Migrationsregime die wichtigsten Player sind. Wie man diese Beobachtung aus einer Perspektive der Autonomie der Migration begreifen kann und was daraus perspektivisch folgt, beschreibt Çağrı Kahveci.

Das Konzept der Autonomie der Migration ist entstanden in den 1990er Jahren, zeitgleich in unterschiedlichen Ländern, wie Frankreich, Italien und Deutschland. Angelehnt an der operaistischen Kritik des Kapitalismus vor dem Hintergrund des Klassenkampfes erfassen sie die Migration aus der Perspektive der Mobilität und der Migrierenden, worauf die Staaten mit Kontrolle, Management, Exklusion reagieren. Migration aus der Sicht ihrer „Autonomie“ zu denken, bedeutet, die sozialen und subjektiven Dimensionen von Migrationsbewegungen in den Fokus von Analyse und politischer Praxis zu stellen.

In Deutschland wurde das Konzept in einer politischen Atmosphäre entwickelt, der eine revanchistische Stimmung, eine Reihe rassistischer Pogrome und eines sozioökonomischen Strukturwandelns im Anschluss an den Mauerfall vorausging. Die politische Elite machte für die Probleme Migrant_innen verantwortlich und schaffte das Asylrecht de facto ab. Erst in der zweiten Hälfte der 90er Jahren konnten sich die liberalen und linken Kräfte diesem völkischen Wahnsinn entgegensetzen und eine antirassistische Front aufbauen. Eine hohe Intensität der Mobilisierungs- und Vernetzung brachte konkrete politische Initiativen und Kampagnen hervor (Karawane, Pro Asyl, Bleiberechtkampagne, etc.). Die Akteure waren verankert in unterschiedlichen Sozialen Bewegungen, vor allem in antifaschistischen und antirassistischen Kreisen, die sich für die Rechte der Migrant_innen einsetzten.

Zentral war dabei eine defensive Haltung. Liberale und linke Antirassist_innen argumentierten für das Bleiberecht mit dem Hinweis auf die Verhältnisse in den Herkunftsländern. So blieb die antirassistische Praxis auf die politischen Gründe der Flucht beschränkt. Zwar wurden die Forderungen nach „offenen Grenzen“ oder „Bleiberecht für alle“ laut, die aber „von konkreten Widerstandspraktiken abstrahierten, dass Migrant_innen schon ihre Rechte erkämpften“ wie es Manuela Bojadžijev, Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos in einem zentralen Text von Kanak Attack auf den Punkt gebracht haben. Allerdings konnte diese Strategie nur in Einzelfällen Erfolge erzielen. Die kollektiven Rechte der Migrant_innen blieben außen vor. Die politische Forderung, die auf dem Asylrecht bzw. der Verteidigung des Asylrechtes beruhte, war auch nicht mehr vertretbar, denn das Asylrecht hatte seine zentrale Bedeutung für Migrationsprozesse längst verloren . Der Staat reagierte auf die dennoch stattfindende oft klandestine Einwanderung mit der Politik der Illegalisierung. Dieser neue Modus der Migration und die Auseinandersetzung mit den Prozessen der Abschiebung fordert eine andere Analyse und Praxis ein. Die antirassistische Politik konnte unter veränderten Umständen nicht nur auf legalen Ebene gegen die Gesetzesverschärfungen reagieren. Sie musste sich dem alltagspolitischen Kampf der Migrant_innen stellen. Hier muss die politische Arbeit der schon erwähnten Initiative Kanak Attak betont werden, ein antirassistischer Zusammenschluss von migrantischen und nichtmigrantischen Linken, der sehr stark dafür eingetreten ist, die Migration als eine konstitutive Dynamik der gesellschaftlichen Transformation zu erfassen. Bis dato konnte die Migration weder in den sozialpolitischen Analysen noch in der Forschung, noch in der politischen Praxis ihre verdiente Aufmerksamkeit erhalten. Traditionell wurde sie als eine Begleiterscheinung der ungleichen kapitalistischen Entwicklungen konzeptualisiert und in linken Kreisen dementsprechend sehr oft als eine moralische Aufgabe der internationalen Solidarität angesehen.

Autonomie der Migration argumentiert somit gegen die traditionellen Migrationstheorien, die zwischen Staat und Kapital gefangen waren, und Einwanderer entweder als Opfer der Migration zeigten, oder als mögliche funktionale Elemente des integralen Systems. Das setzt voraus, dass sie sich stufenweise an dem vorhandenen System fügen würden: Am besten leisten sie ihre zugeschriebene Funktion, sie passen sich an, sowohl politisch, als auch kulturell. So eine biopolitische Maschinerie sollte die Differenz auslöschen. Am Ende wird die Neugeburt des neuen Deutschen mit dem Preis der Staatsbürgerschaft gekrönt. Das langweilige Stufenmodell der Integration à la Hartmut Esser: Kontakt, Konflikt, Anpassung, Integration (vgl. Esser 2001) überzeugte nur die mittelständigen Beamten für kulturelle Angelegenheiten, die mit Politik im eigentlichen Sinne nicht viel am Hut hatten.

Die Grundprämissen und Methoden der klassischen Migrationsforschung sind von der Realität überholt und politisch reaktionär. Die Modalitäten sowohl der Staatsbürgerschaft, als auch der Einreise und Aufenthalt sind dynamischer, komplexer und transnationaler. Der Ansatz Autonomie der Migration stellt eine analytische Korrektur und politische Subversion dar, in dem sie das ganze Geschehen auf die politische Ebene überträgt, nämlich weg von der Kontrolle des Staates oder Kapitals hin zu kollektiven Handlungen und deren Folgen. Sie stellt somit eine Antwort auf die vorherrschende Perspektive der Kontrolle, die in der Literatur und Praxis weit verbreitet ist bezüglich der Frage, wie Migrant_innen auf Grenze reagieren. Das Besondere am Autonomie der Migration ist, wie die Grenze konzeptualisiert ist: als ein Aushandlungsort politischer und sozialer Kämpfe.

Ohne Zweifel sind die Grenzen für einen Großteil der Welt zunehmend restriktiver, ausschließender, gefährlicher geworden. Das sieht man bei der zunehmenden Akzeptanz von Abschiebungen, derer die sich Staaten mittlerweile brüsten können. Die Logik dahinter ist, dass der Staat seine Souveränität ernst nimmt und umsetzt. Zudem wird dadurch ein Zeichen gesetzt bezüglich der potentiellen Flüchtlinge: Entweder bleibt ihr, wo ihr seid, oder sucht alternative Ziele.

In der Forschung wird dementsprechend viel Wissen generiert über Abschiebungen, Überwachung, Management, Lager etc. wobei die Frage der Post-Abschiebung nicht genug beachtet wird. Eine Studie kommt zum Ergebnis, dass 80% der nach Afghanistan abgeschobenen innerhalb von zwei Jahren erneut versuchen, das Land zu verlassen. Klar haben die Abgeschobenen auch ähnliche Motive wie bei dem ersten Versuch der Einwanderung: Krieg, Armut, Umwelt, Arbeitslosigkeit etc., aber eben auch subjektive Motive. Die klassischen Erklärungsmodelle (push-pull, objektive/strukturelle Modelle) greifen zu kurz, um die subjektive Motivation der Migration zu erklären. Nicht nur die subjektiven Erfahrungen der Migration sind wichtig, sondern auch die Prozesse der Subjektivierung, also was entsteht daraus, wenn Menschen migrieren: politische Handlungsfähigkeit, Subjektivität und community.

Autonomie der Migration als ein Programm von Forschung und Aktivismus wirft einen anderen Blick auf die dominanten Diskurse wie Menschenrechte, Sicherheit, Arbeitsmarkt, Management. Sie allen betrachten die Handlungsfähigkeit von Migrant_innen sehr pessimistisch1. Dem entgegen zeigt der Sommer 2015 wie die Migration ihre eigenen Subjekte, Kapazitäten, Ressourcen, Motivationen, Route, Netzwerke etc. generiert. Autonomie bedeutet dabei aktiv eine neue Situation zu kreieren, eine neue soziale Realität. Migration ist eine Kraft, die in der Lage ist, politische und soziale Transformation herbeizuführen.

Ideelle Bausteine der Autonomie der Migration lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
1. Migration ist ein sozialer Fakt, der ein volles Spektrum der Kreativität von Handlungsfähigkeit mobilisiert. Vielleicht ist das der entscheidende Punkt: Migration ist nicht bloß eine Reaktion auf die politischen und ökonomischen Zwänge zu betrachten, sondern sie ist konstitutiv bei der Formation des politischen und sozialen Lebens. Faktoren wie Krieg, Armut oder Umweltzerstörung sind natürlich wichtig, aber nicht bestimmend bei der Migration. Denn der Fokus auf die letzten überschatten das Begehren, die Ereignisse, Handlungen, die wiederum Risse in dem politischen und sozialen Gefüge auslösen können.
2. Restriktive Politiken der Grenzkontrollen, verbunden mit mehr hochentwickelten Technologien der Überwachung und Kontrolle machen die Migration nur gefährlicher und bedrohlicher. Ansonsten können sie die Migration nicht stoppen. Selbstverständlich müssen Migrant_innen sich mit diesen Kontrollen auseinandersetzen. Priorität aber hat die Mobilität. Die Kontrolle kommt danach.
3. Autonomie der Migration ist kritisch gegenüber Ansätzen, die Grenze als undurchdringliche Mauer konzeptualisieren. Was ist Grenze und dessen Verhältnis zu Migration? Grenze ist nicht eine feststehende Linie im Sand. Zweifellos gehört es zur politischen Praxis, Grenzen zu kritisieren. Jedoch muss man sich in Acht nehmen, damit man nicht zum „border-bias“ beiträgt. Grenzen produzieren auch ein Verhältnis, eine Hierarchie. Es kommt daher eher auf eine realistische Analyse der verschiedenen Ein- und Ausschlussdynamiken und der drauf folgenden Konstitution unterschiedlicher Subjektivitäten mit unterschiedlichen Ressourcen und Zugängen zu gesellschaftlichen Feldern an.
4. Autonomie der Migration hilft dabei, Migration als eine Praxis und Aushandlung zu begreifen. Das hat weitreichende politisch/aktivistische Auswirkung. Es bedeutet eine klare Absage dagegen, Migrant_innen paternalistisch als als handlungsunfähige, unmündige Opfer oder auf der anderen Seite als Bedrohung zu sehen.

Das Konzept Autonomie der Migration zirkuliert in unterschiedlichen Feldern, in akademischen und aktivistischen Kreisen und wird dort weiterentwickelt und kritisiert. Die essenzielle Kritik betrifft die Konzeptualisierung der Handlungsfähigkeit. Daran wird vornehmlich kritisiert, dass der primäre Fokus auf die Handlungsfähigkeit die Repression und Gewalt durch Grenzkontrollen ignoriert und die oft traumatischen Erfahrungen der Migration romantisiert. Eine weitere Kritik bezieht sich auf die mangelhafte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis technologischer Entwicklungen und migrantischer Kämpfen. Bemerkenswert dabei ist, dass die Kritik sich grundsätzlich um die unterschiedlichen Verständnisse der Autonomie des Subjektes dreht. Autonomie ist sicherlich ein beliebtes Konzept des Liberalismus, der ein autonomes Subjekt postuliert, rational denkend und frei handelnd, im Sinne eines freien Geistes. Autonomie im Sinne der Autonomie der Migration ist jedoch anders erfasst: als Form der Selbstbestimmung, die nicht abgekoppelt von Netzwerken, Gefügen, Strömungen, Wissen, Machtverhältnissen geschieht. Natürlich entstehen Subjekte und deren Begehren unter bestimmtem Rahmenbedingungen. Jedoch kann, das hat der Sommer 2015 verdeutlicht, der repressive Rahmen nicht alles bestimmen, sondern, wie Deleuze sagen würde, die Assemblage – das unübersichtliche Durcheinander des Begehrens. Die Macht nimmt dem Begehren die revolutionäre Spitze und verdreht die Assemblage durch Disziplin und Normalisierung.

Letzten Endes ist offen, welche konkrete Praxis aus der Perspektive der Autonome der Migration folgt. Wir können z.B. auf lokaler Ebene neue autonome und solidarische Strukturen aufbauen oder das Konzept der Sanctuary Cities (Städte, in denen Illegalisierte sich faktisch aufhalten können) auf Deutschland übertragen. Abstrakt bestimmt, besteht die Aufgabe darin, neue revolutionäre Gefüge zu schaffen, die Kräfte wieder zu besetzen, das Gemeinsame wieder zu erlangen und zu aktivieren.


Literaturverzeichnis
Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt: Suhrkamp

Bojadžijev, Manuela / Karakayali, Serhat / Tsianos, Vassilis (2001): Papers and Roses. Die Autonomie der Migration und der Kampf um Rechte. In: Kanak Attak. http://www.kanak-attak.de/ka/text/papers.html

Deleuze, Gilles (1996): Lust und Begehren, Berlin: Merve

Deleuze, Gilles; Parnet, Claire (1980): Dialoge, Frankfurt: Suhrkamp

Esser, Hartmut (2001): Integration und ethnische Schichtung Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung: Arbeitspapiere; 40 Mannheim MZES
Mezzadra, Sandro/Neilson, Brett (2013): Border as method, or the multiplication of labor. Durham/London: Duke University Press
Moulier Boutang, Yann (2007): Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik. In: Pieper Marianne / Atzert, Thomas / Karakayali, Serhat / Tsianos, Vassilis (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die Internationale Diskussion im Anschluss an Negri und Hardt. Frankfurt am Main. 169–180.

Negri, Antonio; Hardt, Michael (2009): Commonwealth. Das Ende des Eigentums. Frankfurt/New York: Campus

Nyers, Peter (2015): Migrant Citizenships and Autonomous Mobilities, in: Migration, Mobility & Displacement 1:1 (2015

Oulios, Miltiadis: Blackbox Abschiebung – Geschichte, Theorie und Praxis der deutschen Migrationspolitik, Frankfurt: Suhrkamp

Sennett, Richard (2012): Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, Berlin: Hanser.

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