Hilde Teichgräber beschreibt ihre Erfahrungen mit Sexismus. Gemeinsam mit anderen jungen Frauen veröffentlichte sie dazu einen offenen Brief an Jenaer Clubs und berichtet in diesem Artikel über die Beweggründe einen solchen Brief zu formulieren.
Anfang Januar 2017 habe ich einen Vortrag zum Thema „Rape Culture“ der Gruppe „The Future Is Unwritten“ gesehen. Wenige Tage später schlug ich das Thema für eine Arbeitsgruppe im Rahmen einer Schulprojektwoche vor. Es fanden sich sechs Mitschülerinnen, die sich mit mir zusammen mit dem Thema auseinandersetzen wollten.
Einmal sensibilisiert für sexuelle Belästigung und Gewalt, dauerte es nicht mehr lange, bis wir uns in einem Erfahrungsaustausch wiederfanden. Wir sprachen über Begegnungen, die uns zwar unangenehm gewesen waren, aber scheinbar auch so normal, dass keine von uns es jemals für nötig oder angemessen gehalten hatte, das Erlebte auszusprechen. Die Erlebnisse, über die berichtet wurde, waren alle auf ihre eigene Weise erschreckend. Ein Mädchen erzählte, dass sie, als sie zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Club feiern war, mit 16 Jahren, von einem jungen Mann dermaßen bedrängt wurde, dass er auch nachdem sie ihn mehrmals weggeschoben hatte nicht von ihr abließ und ihr ohne jede Zustimmungsgeste von ihrer Seite seine Zunge in den Hals steckte. In einer Umfrage, die wir in der Oberstufe unserer Schule durchgeführt haben, gaben die Hälfte der Mädchen an, schon einmal gegen ihren Willen geküsst worden zu sein. Diese Umfrage ist nicht repräsentativ. Und doch hat uns die Zahl erschreckt. Gerade weil sie unser direktes Umfeld repräsentiert. Man bemerke außerdem, dass die Befragten zwischen 16 und 19 Jahre alt sind. Eine andere Mitschülerin berichtete, sie sei ebenfalls nächtens in einem Club bedrängt wurden. Auch nach mehrmaligem „Ich möchte das nicht.“ und „Lass mich los!“ habe der Unbekannte nicht aufgehört sie zu belästigen, sie hochgehoben und einige Meter durch die menschenvollen Veranstaltungsräume getragen.
Ich persönlich erinnerte mich an ein Ereignis des letzten Jahres. Ich war 17 Jahre alt und auf dem Weg von Italien nach Kroatien. Ich fuhr über Nacht allein mit einer Fähre von Ancona nach Split, wo meine Familie mich vom Hafen abholen sollte. Die Schifffahrt begann aufregend, denn ich war davor erst ein paar Mal mit einer Fähre gefahren und das Umfeld war mir neu. Als ich es mir gegen 12 Uhr nachts mit meinem Schlafsack auf einem Sessel bequem gemacht hatte, sprach mich ein junger Mann aus Neapel an. Wir unterhielten uns eine Weile, und es stellte sich heraus, dass er auf dem Schiff arbeitete – genauer gesagt die Verantwortung für den Hoteltrakt der Fähre trug. Er fragte mich, ob ich Lust hätte eine Runde über das Schiff zu drehen. Im Verlauf des weiteren Gesprächs lud er mich auf ein Getränk ein. Ich unterhalte mich auf Reisen oft mit anderen Passagieren. Besonders auf Zugfahrten passiert es mir häufig, dass ich mich in dreistündige Gespräche mit meinen SitznachberInnen verliere. Es ist fast immer eine Bereicherung, so ein flüchtiger Kontakt zweier sich vollkommen fremder Menschen. Wir kommen von verschiedenen Orten, treffen kurz aufeinander, finden vielleicht Gemeinsamkeiten und dann geht einE jedeR wieder seiner oder ihrer Wege. Auch mit diesem Menschen aus Neapel empfand ich den Austausch zunächst als bereichernd. Er bot mir an, dass ich in einer der leeren Passagierkabinen schlafen könnte. Ich jubelte innerlich, da ich so nicht auf einem mäßig bequemen Sessel übernachten musste. Wir brachten meinen Kram in die besagte Kabine. Mir war in diesem Moment sonnenklar: jetzt verabschiedest du dich von ihm, bedankst dich noch einmal und das war´s. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt Interesse kommuniziert, ihm näher zu kommen. Wir standen also in dieser Kabine, ich sagte, dass ich jetzt schlafen wollte und auf einmal küsste er mich. Er fasste mir an die Brüste. Und ich brauchte einen Moment, bis ich ihn von mir wegschieben konnte. Danach akzeptierte er zwar, dass ich wirklich in Ruhe gelassen werden wollte und ging weg, doch am nächsten Morgen, etwa eine Stunde, bevor wir anlegten, hielt er es für nötig noch einmal in meine Kabine zu kommen um mich zu wecken. Ich hatte mich in ein oberes Bett der Doppelstockbetten gelegt und schickte ihn, zu diesem Zeitpunkt dann deutlich genervt und nicht mehr freundlich, weg. Erleichtert atmete ich auf, als ich endlich an Land ging. Dieser Mann, dessen Name mir entfallen ist, war um die dreißig Jahre alt und ich war 17. Eine junge Frau, allein unterwegs. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt kommuniziert, dass ich an mehr als einem Gespräch mit ihm interessiert sei. Dennoch schien es für ihn selbstverständlich, dass ich eine Art Gegenleistung dafür, dass er mir eine Kabine überlassen hatte, bringen würde.
Dieses Erlebnis war ein Extrem, welches ich nur einmal so erleben musste. Doch es reiht sich ein in verschiedene Erfahrungen, die ich vielleicht hätte vermeiden können, wäre ich nicht nachts betrunken durch die Straßen von Pistoia in Italien oder bei helllichtem Tage in der Uniform einer katholischen Mädchenschule durch Addis Abeba, Äthiopien, gelaufen. Ja, ich kann darauf achten, dass ich immer aufmerksam bin und mein Umfeld ständig im Blick habe. Das wird mich nicht vor allen negativen Begegnungen schützen können, aber deren Zahl eventuell etwas mindern. Ich kann aufpassen, dass ich, wenn ich feiern gehe immer von meinen FreundInnen umgeben bin und ständig kontrollieren, ob der Typ der hinter, neben, vor mir tanzt irgendwie seltsam oder auch nicht seltsam ist. Ich kann darauf achten – und tatsächlich mache ich das auch. Intuitiv und ständig. Und da ich daran gewöhnt bin, scheint mir das nur verantwortungsvoll und normal.
Der Punkt ist aber: meine beiden kleinen Brüder werden sich Gedanken dieser Art nie machen müssen. Meine großen Cousins werden wohl kaum befürchten, dass sie Betroffene von sexualisierter Gewalt werden, wenn sie das nächste Mal feiern gehen. Auch sie sind nicht sicher vor den Spannungs- und Gefahrensituationen, die sich ergeben können, wenn man sich in den öffentlichen Raum begibt – aber rein statistisch gesehen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich als Frau mit sexueller Belästigung konfrontiert sehe viel höher, als sie für meine männlichen Familienmitglieder, Freunde und Mitschüler ist.
Das ist normal. Das war schon immer so.
Das sind keine Argumente, sondern gute Ansätze, um etwas zu kritisieren.
Der Austausch mit anderen Frauen jeden Alters hat mir gezeigt, dass ich nicht allein mit diesen Erfahrungen bin. Meine individuelle Erfahrung ist vielleicht nicht auf alle Frauen verallgemeinerbar – doch viel zu viele teilen sie.
Als wir anfingen über Momente, in denen unsere Grenzen von anderen nicht respektiert wurden, zu sprechen, fand in unserer Gruppe ein kollektiver Prozess des sich-bewusst-Werdens statt. Aus der Erkenntnis, nicht allein zu sein, entstand die Idee eines offenen Briefes. Dieser sollte insbesondere alternative, linke Clubs dazu auffordern, sich der Problematik bewusst zu werden und praktische Konzepte, sexualisierter Gewalt vorzubeugen und den Betroffenen zu helfen, zu entwickeln. Alina Sonnefeld konnte sich dafür begeistern den besagten Brief zu verfassen. Wir diskutierten ihn in unserer Gruppe und beschlossen, dass auch wir ihn, neben Alina, mitunterzeichnen wollten.
Innerhalb kurzer Zeit nach der Veröffentlichung des Briefes entstand ein Diskurs, der teils konstruktiv, teils schlichtweg beleidigend, hauptsächlich in den sozialen Netzwerken unserer Zeit, ausgelebt wurde. Debatte und Diskussion wurden nicht klar voneinander abgegrenzt und so wurde das sensible Thema der sexualisierten Gewalt von manchen ZeitgenossInnen als Gegenstand der persönlichen Profilierung missbraucht.
Verschiedene Perspektiven wurden an uns herangetragen. Viele Menschen reagierten bestärkend und finden sich selbst in unserem Anliegen wieder. Einige meiner Freundinnen sind zwar schockiert, dass viele von uns regelmäßig belästigt werden, fühlen sich selbst aber nicht als Betroffene. Manche von ihnen solidarisieren sich, auch ohne dass sie persönliche Erfahrungen gemacht haben, mit den Betroffenen.
Es mangelte jedoch auch nicht an konträren Positionen. Auf einmal sahen wir uns mit Nachrichten konfrontiert, in denen uns auf unterstem Niveau nahegelegt wurde, unsere Mitschuld an derlei Vorfällen zu reflektieren. Im Ton von „Wie ihr rumlauft, braucht ihr euch doch nicht wundern, wenn ihr angegrapscht werdet.“. Ich hielt es für angemessen, zumindest mit den Menschen, die ich persönlich kenne und die zu solchen angreifenden Reaktionsweisen neigten, das Gespräch zu suchen. Im Nachhinein muss ich jedoch feststellen, dass Unterhaltungen dieser Art für mich wenige neue Erkenntnisse bereithielten. Meine Vermutung ist deshalb, dass diese Gegenreaktionen immer das Festhalten an bestehenden Missständen und Machtverhältnissen zum Ziel hatten. Eben weil diese Missstände und Machtverhältnisse nicht als solche enttarnt werden sollen.
Manche MitschülerInnen kommunizierten uns, dass sie noch nie sexualisierte Gewalt erleben mussten und bemängelten, der offene Brief stelle die Zustände viel extremer als sie eigentlich sind dar. Zum Glück geht es nicht allen Frauen so wie mir und meinen sechs Mitstreiterinnen. Tatsächlich gelingt es mir ja auch immer wieder durch übertriebene Aufmerksamkeit derlei Situationen vorzubeugen. Wieso der Mangel an eigener Erfahrung jedoch die Solidarisierung mit denjenigen, die sexualisierte Gewalt erfahren mussten, ausschließen sollte, ist mir unklar.
Alle Gegenreaktionen zielten darauf ab zum Ausdruck zu bringen, dass unser Anliegen entweder nicht ernst zu nehmen, nicht von gesellschaftlicher Relevanz oder insgesamt viel zu vorwurfsvoll geäußert worden sei.
Wir schickten den Brief an insgesamt 10 Clubs in Jena. Zunächst hatten wir nur die alternativen Häuser im Blick gehabt, nicht, weil das Problem dort besonders stark zu Tage tritt, sondern weil es eben leider auch dort präsent ist. Dann dachten wir jedoch, dass sämtliche VeranstalterInnen den Anspruch haben sollten, dass ihre Häuser frei von sexualisierter Gewalt sind und so schrieben wir auch ihnen.
Es reagierten nur die alternativen, linken Veranstaltungsorte. Doch mit ihnen entwickelte sich dafür ein Austausch, der umso bereichernder war. Heute ist klar:
Im Austausch mit dem größten linken Club Jenas, setzen wir uns gemeinsam mit dessen MitarbeiterInnen dafür ein, dass sich die Atmosphäre dort verbessert. Wir möchten, dass diese Häuser zu einem Ort werden, an dem wir uns alle wohlfühlen können. Ein Ort an dem Frauen und Männer das Gefühl haben, mit ihren Anliegen ernstgenommen zu werden. Patriarchale Strukturen und Verhaltensweisen werden leider selten an der Tür abgewiesen, aber Clubs sind nicht schuld an sexualisierter Gewalt. Sie brauchen effektive Strategien, um diesem gesellschaftlichen Phänomen entgegenzuwirken.
Räume zu schaffen, in denen eine bessere, freiere, gleichberechtigtere Form des Zusammenlebens erprobt wird, sollte im Selbstverständnis linker Veranstaltungshäuser liegen. Die ständige Suche nach Verbesserungsvorschlägen und Handlungsalternativen ist deshalb unabdingbar.
Das ist es, was linke Szene auszeichnen sollte: links sein heißt, zu hinterfragen. Kritik als Chance zu sehen. Sich für ein besseres Miteinander einzusetzen. Diskriminierung nicht zu tolerieren. Sich für Gleichberechtigung einzusetzen. „Das war schon immer so“ als Kritik und nicht als Argument anzubringen. Und vor allem nicht anzuerkennen, dass Dinge unveränderbar seien und es bleiben müssten. Links sein heißt diskutieren, streiten, aushandeln, kämpfen. Und vielleicht auch zu träumen – davon, dass sich die Dinge verbessern können.
Auch wenn es anstrengend ist, in einer Debatte über ein Thema zu diskutieren, welches zugleich privat und politisch ist, bin ich sicher, dass unsere Reaktion die einzige ist, für die ich mich weder vor anderen noch vor mir selbst rechtfertigen muss. Denn das Totschweigen und Kleinreden von sexualisierter Gewalt hat auch in den letzten 2000 Jahren nicht besonders gut funktioniert. Zumindest nicht für die Hälfte der Menschheit.
Auch wenn wir uns in kleinen Schritten fortbewegen, bin ich doch überzeugt, dass es sich lohnt an diesem Thema anzusetzen. So hat sich schon einiges getan. In Jena eine gründete sich eine Gruppe von UnterstützerInnen. Wir konnten verschiedene Personen in der Jugendarbeit auf Konzepte hinweisen, die zum Ziel haben, dass sexualisierte Gewalt gar nicht erst geduldet wird. Im September soll im Kassa ein Vortrag und Workshop mit dem Titel „Feministisch Feiern“ stattfinden. Daraufhin möchten wir ein Angebot schaffen, indem sich insbesondere MitarbeiterInnen von Clubs mit Awareness Konzepten auseinandersetzen können.