Karl Meyerbeer hat trotz antirassistischer und antideutscher Alltagsorientierung alle Privilegien, die mit einem weiß/deutschen Hintergrund verbunden sind und rezensiert zwei antirassistische Bücher von Autoren, die von Rassismus betroffen sind.
Was passiert, wenn man nicht ganz biodeutsch aussieht und sich im Sommer der Migration an einem Bahnhof aufhält? Helfer_innen stürzen sich auf jemanden, den sie retten können, um sich am Ende selbst auf die Schulter zu klopfen. Mohamed Amjahid ist Sohn marokkanischer Gastarbeiter_innen und arbeitet als Journalist bei der ZEIT. In seinem neu erschienenen Buch „Unter Weißen“ berichtet er darüber, was passiert, wenn man in Deutschland als anders gesehen wird. Denn obwohl er als Journalist am Münchner Hauptbahnhof war, wurde er dazu genötigt, eine mitgebrachte Seife in Empfang zu nehmen, denn „Soap is good“ – so die besagte Helferin, die einfach nicht kapieren wollte, dass Amjahid (wahrscheinlich ebenso wie die meisten ankommenden syrischen Flüchtlinge) etwas anderes wollte als ausgerechnet Seife. In seinem Buch „Unter weißen“ nutzt Amjahid Anekdoten, um Zusammenhänge zu verdeutlichen. Dabei belässt er es nicht dabei, den Paternalismus von Gutmenschen zu illustrieren. In 10 Kapiteln erklärt er verschiedene Aspekte von Rassismus – das schon angesprochene Othering, rassistische Sprache, Diversity als Standortfaktor, den diskursiven Trick der Mehrheitsgesellschaft, sich der Argumente von Roberto Blanco zu bedienen, um Rassismus zu rechtfertigen. Dabei belässt er es nicht bei kulturellen und sprachlichen Formen, sondern bespricht auch Ressourcen, die Deutsche durch ihren Pass besitzen – unkomplizierte Reisefreiheit in 177 Staaten – und spart in einem Kapitel über die Macht weißdeutscher Männer in Redaktionsstuben auch sein journalistisches Umfeld nicht aus. Auch ein Blick auf die Klassenfrage kommt vor, wenn er illustriert, wie Rassismus als Unterklassenproblem thematisiert wird, um den Blick auf die rassistischen, dummen, ALG2-beziehenden Ossis das Selbstbild der vermeintlich nicht rassistischen Eliten aufrecht zu erhalten – die MDR-Berichterstattung über den Rassismus in Erfurt-Nord lässt grüßen. Alles in allem versteht man als Weißer nach der Lektüre besser, wie Rassismus klassenspezifisch unterschiedlich artikuliert wird, dass die rassistische Erfahrung aber nicht aufhört, wenn die mustergültige Integration dank Karriere eigentlich gelungen sein sollte.
Einen gänzlich anderen Blick auf das Thema nimmt Nelson George ein. Sein Buch „R&B“ erzählt laut deutschsprachigem Titel „die Geschichte der schwarzen Musik“. Im US-amerikanischen Original heißt das Buch „Der Tod des Rhythm & Blues“, was besser die immer wieder verschieden ausbuchstabierte Grunderzählung trifft: Ob Blues, Jazz oder Soul, innovative Musik entsteht in armen, schwarzen Subkulturen und wird irgendwann von einer weißen Musikindustrie aufgegriffen, materiell enteignet und kulturell dem Massengeschmack angepasst. Mit dieser zweigleisigen Erzählung hat das Buch das Potential, den Blick auf das im deutschsprachigen Kontext vor allem als Problem der Anerkennung diskutierte Phänomen der Cultural Appropriation zu erweitern. Cultural Appropriation meint die Aneignung von kulturellen Codes durch die Mehrheitsgesellschaft. Um ein Beispiel aus der Lebenswelt der Leser_innen dieses Blattes zu nennen: Wenn ein Iro in der Bank-Werbung Ausdruck von Hipness ist, während die Punks auf dem Anger von Gewerbetreibenden vertrieben werden sollen, ist das zweifellos ungerecht. Andererseits wäre es genauso schlimm, wenn die Punks vertrieben würden, wenn die Bankwerbung nach wie vor mit Seitenscheitel daher käme. Nelson George erzählt die Geschichte der kulturellen Aneignung materialistisch. Nicht die Vermischung von kulturellen Formen ist sein Hauptproblem, sondern die Beobachtung, dass eine weiße Musikindustrie sich die kulturellen Formen, die aus armen und schwarzen Sozialräumen kommt, aneignet und damit jede Menge Kohle macht, während die Erfinder_innen mittellos bleiben. Dass die kulturellen Formen dabei so modifziert werden, dass sie ein weißes Mittelklassepublikum ansprechen konnten, erscheint dabei als Mittel zum Zweck. Das Geschäftsgebaren schwarzer Labels und auch die kulturellen Formen des Hip-Hop (das Bling-Bling, das extrovertierte Darstellen von materiellem Reichtum) hat vor diesem materiellen Hintergrund eine ganz andere Dimension. Es illustriert: „Schaut her, wir haben es auch geschafft“. Aber nochmal zurück zum Buch: George bietet eine Geschichte US-amerikanischer schwarzer Musik von 1900 bis 1987. Neben dem Grundthema der kulturellen Aneignung werden auch verschiedene Strategien schwarzen Überlebens in einer rassistischen Gesellschaft besprochen. In allen historischen Phasen schildert George die Konflikte zwischen den Assimilationisten, die im Business der Mehrheitsgesellschaft mitspielen wollten und denen, die eigene schwarze Strukturen aufbauen. Wo er schildert, wie schwarze Labels sich – teilweise im Schulterschluss mit der Bürgerrechtsbewegung – autonom organisiert haben, um gegen die weiße Dominanz vorzugehen ist „R & B“ teilweise ein Stück Bewegungsgeschichte. Dazu gehören für ihn aber auch erfolgreiche Strategien, selbstbewusste schwarze Musik im Mainstream zu positionieren. George zeigt, dass beide Strategien Erfolge erzielen, aber auch scheitern können. Im Fazit einer 80jährigen Geschichte von Enteignung argumentiert er vorsichtig dafür, eher autonome Strukturen aufzubauen, sich unter Unterdrückten über die eigene Lage klar zu werden und sich gemeinsam „kulturelle Waffen“ anzueignen. Hier liegt auch der Unterschied zu Amjahid, der am Ende auf die Möglichkeit einer Einstellungsänderung bei weiß/deutschen Leser_innen hofft.
Beide Bücher zeigen ein grundlegendes Machtverhältnis der Gegenwartsgesellschaft aus der Perspektive der Betroffenheit. Dabei gehen sie von Erfahrungen materieller und kultureller Ungleichheit aus, die so thematisiert werden, dass sich theoretische Befunde mittlerer Reichweite ergeben. Vor allem sind sie deswegen wichtig, weil sie nicht bei der Beschreibung und moralischen Verurteilung stehen bleiben, sondern auf Veränderung setzen – das aber auf unterschiedliche Arten und Weisen. „R&B“ kann auf einer Metaebene als Diskussion verschiedener antirassistischer Strategien verstanden werden. Amjahid unternimmt (nicht als erste Person of Color) die schwierige und oft undankbare Aufgabe, weiß/deutsche Leser_innen aufzuklären. Wer besser verstehen will, auf welchen Ebenen weiße Privilegien wirken, sollte sein Buch lesen. Wer sich für schwarze Musik interessiert, „R&B“ aber nicht lesen will, kann stattdessen die Serie „The Get Down“ gucken. Die ist u.A. von Nelson George produziert, beginnt zeitlich da, wo „R&B“ endet: sie illustriert die zentrale Message des Buches am Beispiel der Entstehung des Hip-Hop.
Nelson George. R&B. Die Geschichte der schwarzen Musik. 278 S., 15,00€
Mohamed Amjahid. Unter Weißen: Was es heißt, privilegiert zu sein. 188 S., 16,00€
The Get Down. Bei Netflix oder dem Downloadportal deiner Wahl. 11 Folgen von 53-93 min.