Kennst Du ihre Namen?

Diese Frage stellte in großen Lettern ein Plakat auf dem Werbeaufsteller vor der Frau Korte, das im vorletzten Jahr etwa sechs Monate lang dort hing. Gefragt wurde nach den Namen der Opfer des Porajmos, der während des Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. Darunter waren Silhouetten von Personen zu sehen, deren Körper bei näherer Betrachtung aus Daten und Fakten bestanden, die die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten darstellen. Unbekannte legten Blumen und Kerzen vor dem Aufsteller ab, kurz nachdem das Plakat angebracht wurde. So entstand ein vorübergehender Ort des Gedenkens, der in Erfurt bis dahin nicht existierte. In der Stadt erinnert nichts an die Verfolgung und Ermordung von Sinti und Roma. Klaus über ein oft vergessenes Verbrechen.

In der nationalsozialistischen Rassenideologie waren sie einer neuen Dimension der Verfolgung ausgesetzt, die mit der vor 1933 praktizierten Diskriminierung nicht gleichzusetzen ist. Die massenhafte Erfassung, Kriminalisierung, schrittweise Einschränkung der Lebensbedingungen bis hin zur Inhaftierung in Konzentrationslagern und die Ermordung von mindestens 200.000 Sinti und Roma europaweit, stellte einen tiefgreifenden Bruch in der Geschichte der Minderheit dar.
Ab Dezember 1937 erhielt die Polizei ausdrücklich die Kompetenz Personen, die als Zigeuner eingeordnet wurden, in Konzentrationslager einzuweisen. Der Übergang zwischen verschiedenen Verfolgungskriterien war mitunter fließend, so dass Sinti und Roma auch als Oppositionelle oder so genannte Asoziale inhaftiert wurden. Anderen Personen wiederum wurden vermeintliche Zigeunereigenschaften zugeschrieben, die beispielsweise keinen festen Wohnort hatten und deren Lebensweise dem entsprach, was die Nationalsozialisten aus der propagierten Volksgemeinschaft tilgen wollten.

In den darauffolgenden Jahren führten Polizei, Gesundheitsämter und Fürsorgeeinrichtungen immer umfassendere Untersuchungen und Erfassungen durch.

Ab dem so genannten Festsetzungserlass im Oktober 1939 war es den Betreffenden verboten ihre Wohnorte zu verlassen und ein Entkommen nunmehr unmöglich. Sammellager sollten errichtet werden, wenn sie nicht bereits vorhanden waren. Zu diesem Zeitpunkt lebte im Deutschen Reich bereits ein Drittel bis etwa die Hälfte der Minderheit in so genannten kommunalen Zwangslagern. Nachdem sich ihre wirtschaftliche Lage auf Grund der nationalsozialistischen Politik in den 1930er Jahren ohnehin bereits rapide verschlechtert hatte, sollten sie ab 1935 auch räumlich aus der NS-Volksgemeinschaft ausgegrenzt werden. Nach der Errichtung erster Zwangslager in Köln, Berlin, Frankfurt und Magdeburg, wurden Sinti und Roma gezwungen, überwacht und von Zwangsarbeit abhängig, in der Peripherie zu leben. Daraus folgte für viele auch ein sozialer Bruch mit der Mehrheitsbevölkerung. Ebenso wie die schrittweise Ausgrenzung und Zusammendrängung der jüdischen Bevölkerung, dienten diese Maßnahmen der zunehmenden Überwachung und Segregation, die die Grundlage für die späteren Deportationen bildeten.

Ein Wohnwagenstellplatz, der (wahrscheinlich ausschließlich)von Sinti bewohnt wurde, befand sich auch in Erfurt. Die Vermutung liegt nahe, dass auch dieser Stellplatz ein überwachtes Lager war. Sicher ist jedoch, dass die BewohnerInnen aufgrund des ‚Festsetzungserlass‘ zwangsweise dort wohnten. Im März 1943 wurde der Wohnwagenstellplatz im Erfurter Norden geräumt. Fast alle BewohnerInnen wurden im Rahmen dieses Polizeieinsatzes vom Erfurter Nordbahnhof aus über Weimar nach Auschwitz deportiert. Aus ZeitzeugInnenberichten geht die Brutalität dieses Einsatzes hervor. Unter den Ermordeten sind laut „Gedenkbuch – Die Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau“ mindestens 27 Kinder unter 12 Jahren. Damit fielen sie dem so genannten Auschwitz-Erlass Himmlers vom Dezember 1942 zum Opfer, der neben der Deportation von Roma aus ganz Europa auch die der etwa 10.000 im Deutschen Reich Verbliebenen anordnete. Viele Tausende wurden also bereits zuvor deportiert und ermordet. Es scheint so gut wie nichts geblieben, was an die damals in Erfurt lebenden Sinti erinnert. Was bleibt sind nationalsozialistische Zuschreibungen in Erlassen und Gesetzen, manchmal auch Namen und Sterbedaten.

Der Antiziganismus im Nachkriegsdeutschland knüpfte an die nationalsozialistische Rassenideologie fast nahtlos an. Nachdem eine Anerkennung als Opfer des Naziregimes über Jahrzehnte erkämpft werden musste und eine Entschädigung in der DDR als auch in der BRD erst viele Jahre später erfolgte, ist das Gedenken an ermordete Sinti und Roma noch immer marginal. Erst 1982 wurde der Völkermord der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma aus „Gründen der Rasse“ völkerrechtlich anerkannt. Die Kontinuität von rassistischen Stereotypen und Vorurteilen ist in der europaweiten Diskriminierung von Sinti und Roma ersichtlich und in den letzten Jahren insbesondere in der Debatte um die als sicher deklarierten Balkanstaaten ursächlich für massenhafte Abschiebungen von Roma. Mitunter sind dabei Menschen betroffen, deren Angehörige in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden, wie die Geschichte von Radmila Anić2 zeigte. Während die jüdische Gemeinde Erfurts heute zum Teil aus Migrantinnen und Migranten der ehemaligen Sowjetunion besteht, die als jüdische Kontingentflüchtlinge seit 1991 anerkannt wurden, übernimmt die deutsche Regierung keine aus der Geschichte des Nationalsozialismus resultierende Verantwortung gegenüber Roma. Im Gegenteil: Deutschland schiebt dahin ab, wo Roma aktuell neuen Höhepunkten von rassistischer Hetze und Gewalt ausgesetzt sind. Auch an die Abgeschobenen möchte man sich lieber nicht erinnern.


Im Text ist von Sinti und Roma die Rede. Die weiblichen Pluralformen Sintize und Romnja zähle ich aus Gründen der Leserlichkeit nicht auf. Die beschriebenen Ereignisse beziehen sich jedoch gleichermaßen auf Frauen und Männer. Ich übernehme an dieser Stelle das in Deutschland geläufige Begriffspaar Sinti und Roma, das sich durch den langjährigen Kampf im Rahmen politischer Selbstorganisation und Bürgerrechtsbewegung in Deutschland etabliert hat, in der Regel aber nur in deutschsprachigen Ländern relevant ist. Sinti gelten als Teilgruppe der europäischen Roma. Bei Fragen zur Fremd- und Selbstbezeichnung, am besten Sinti und Roma danach fragen.


Weitere Literatur zum Thema:

  • Frings, Karola: Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München, 2016
  • Kultur- und Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma, siehe http://www.sintiundroma.de
  • Gedenkbücher. Sinti und Roma im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau
  • Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstands und der Verfolgung, Thüringen (Bd.8)
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