Über ‘68, die Rote Armee Fraktion als eine ihrer Folgen und Ulrike Meinhof als zentrale Akteurin wurde viel geschrieben, doch gute Lektüre dazu zu finden, ist nicht leicht. Dori empfiehlt Peter Brückners ‚Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse‘.
Im Jahr 2018 blickte die deutsche Linke auf 50 Jahre ‘68 zurück. ‘68 steht dabei als Chiffre für eine Vielzahl von Entwicklungen, die sich um die Sudierendenproteste dieser Zeit zentrieren und einen Höhepunkt vorangegangener Entwicklung darstellen, sowie sie den Ausgangspunkt für weitere markieren. Während die Auseinandersetzungen dazu vielfältig sind, scheint das sprechen darüber, dass die 60er Jahre auch eine terroristische Variante hervorgebracht haben, etwas schwieriger. Die wohl bekannteste dieser Terrorgruppen war die Rote Armee Fraktion (RAF), eine ihrer zentralen Akteurinnen Ulrike Meinhof.
Meinhof war Journalistin, bevor sie sich 1970 an der Befreiung Andreas Baaders aus dem Knast beteiligte und zusammen mit ihm und anderen in den Untergrund abtauchte. Dies gilt als Geburtsstunde der RAF, als deren Teil sie bis zu ihrer Verhaftung 1972 an mehreren Anschlägen beteiligt war. Will man etwas über ihre Person oder die RAF erfahren, gibt es mittlerweile eine große Auswahl an Publikationen zu diesem Thema. Noch in den 70er Jahren musste jede den Vorwurf der Sympathie und Unterstützung der terroristischen Taten der RAF fürchten, der sich nicht systemkonform dazu äußerte. Zehn Jahre währte das daraus resultierende Schweigen, bis Stefan Aust mit dem Buch ‚Der Baader-Meinhof-Komplex‘ das auch heute noch bekannteste Werk zur RAF verfasste. Damit legte er einen „leicht verdaulichen Abenteuerroman und spannenden Krimi“, vor, so das scharfsinnige Urteil Klaus Bittermanns, der die Ereignisse der damaligen Zeit zum „abendfüllenden Unterhaltungsgegenstand“ machte; „[w]as die Leser nämlich an dem Buch so fasziniert, sind die engen Samthosen Baaders, mit denen er in einem palästinensischen Ausbildungslager rumrobbte.“ Ein weiteres, einige Jahrzehnte später erschienenes Buch dazu, das sich breiter Beliebtheit erfreute, war die Biografie Ulrike Meinhofs von Jutta Ditfurth, welche Joachim Bruhn bei der Vorstellung seines Buches ‚Rote Armee Fiktion‘ treffend als Kolportage, als Terror-Soap bezeichnete, die noch hinter das Niveau bürgerlicher Geschichtswissenschaft zurückfalle. Auch die zahlreiche Lektüre von Bettina Röhl – einer der beiden Töchter Meinhofs – sollte man sich besser ersparen, möchte man nicht in das Geschichtsbild einer Frau eintauchen, die Feminismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet. Die Möglichkeiten, sich dem Thema zu nähern sind also schlecht und zahlreich.
Einen anderen als oben genannten Zugang zum Thema wählt Peter Brückner in seinem Buch ‚Ulrike Meinhof und die deutschen Verhältnisse‘. Mit dem kurz nach Meinhofs Tod veröffentlichten Buch verfasste er keine Biografie Meinhofs, keinen Abenteuerroman über die RAF, sondern – so Ulrich K. Preuß im Vorwort des Buches – „ein[en] Essay darüber wie Ulrike Meinhof in den deutschen Verhältnissen umkam.“ Vom Verlag eigentlich als Zusammenstellung zentraler Texte Meinhofs mit einem Vorwort Brückners angefragt, fungieren die Texte von Meinhof eher als Leitfaden, die, politisch kontextualisiert, ein Bild jener Verhältnisse zeichnen, die die Journalistin schließlich dazu bewegten, in die Illegalität abzutauchen, um den bewaffneten Kampf zu führen. Dies als einer ihrer Umbrüche in ihrem Leben gefasst, hält Brückner fest: „Diese Umbrüche bildeten sich heraus in der Auseinandersetzung mit dem ‚Klassenfeind‘: sie resultieren aus jahrelangem Handgemenge, aus Versuch und Irrtum … Darum wird die Hinwendung zur Biografie eines Menschen aus dem Lager der ‚Historischen Alternative‘ immer etwas dezentrierendes haben müssen.“ So wurde aus dem Buch eine Beschreibung der deutschen Verhältnisse der damaligen Zeit.
Anhand einer Vielzahl von Quellen beschreibt der Autor dabei die innenpolitische Lage der BRD. So hat es bereits in den 50er Jahren eine einsetzende Gleichsetzungstendenz der öffentlichen Meinung gegeben, die sich zur Zeit der großen Koalition in Entpolitisierung artikulierte; und zwar durch
„[d]ie Verdrängung politischer Sachdiskurse zugunsten von Personalfragen (‚neue Köpfe‘), die Unterordnung politischer Meinungsverschiedenheiten unter ein alle Personen ergreifendes Ziel.“
Meinhof,konkret 1966
Aufgezeigt wird eine Verschärfung der innenpolitischen Lage: die Diskussion und Verabschiedung der Notstandsgesetze, der Ausbau des Apparates der inneren Sicherheit und verschärfter Repression gegen Randgruppen und Widerständler; stets begleitet vom Dogma des Antikommunismus, einhergehend mit der Remilitarisierung der BRD: Beitritt zur NATO, Einführung der Wehrpflicht und Bestreben der atomaren Rüstung. Die Neue Restauration mit offener Gewalt, von der der Mord an Benno Ohnesorg den traurigen Höhepunkt darstellt, veranlasste die Linke schließlich dazu, die Verhältnisse der BRD unter Faschismusverdacht zu stellen. Brückner weist dies begründet zurück, hält aber ebenso fest: „Ein Faschismusverdacht entsteht selten ohne Grund. Es ist nützlich, sich wenigstens an einige der Anlässe zu erinnern“. Indem er eben dies tut, vermittelt er einen lebhaften Eindruck der damaligen Situation, der ein Großteil der Linken und auch Ulrike Meinhof, ohnmächtig gegenüber standen. Sie hält fest,
„… daß gegen die Repression, mit der wir es hier zu tun haben, Empörung keine Waffe ist. Sie ist stumpf und so hohl. Wer wirklich empört ist, also betroffen und mobilisiert ist, schreit nicht, sondern überlegt sich, was man machen kann.“
Meinhof, letzte Texte
Ohnmacht kennzeichnete dabei auch die Konfrontation mit den Berichten des Grauens in Vietnam.
Die Frage des ‚Was tun?‘ trieb u.a. die Akteurinnen und Teilnehmer des Vietnamkongresses 1968 in Westberlin um. Die im Buch in Teilen dokumentierte Schlusserklärung des Kongresses fordert auf zur Bildung „eine[r] zweite[n] revolutionäre[n] Front gegen den Imperialismus in dessen Metropolen“. Hier setzt sich – auch das wird mit Quellen aufgezeigt – ein Verständnis der internationalen Lage durch, vor dem u.a. Rudi Dutschke auf dem Kongress gewarnt hatte, nämlich die „abstrakte Negation verschiedener Widerspruchsebenen“, die Verwischung der Unterschiede der Situation in der BRD zu Vietnam zugunsten der Einsicht der Einheit in der Unterdrückung durch Kapitalismus und Imperialismus.
Sowohl im Faschismusverdacht als auch im Urteil Vietnam sei überall, zeigt Brückner eine Abstraktion von konkreten historischen und politischen Bedingungen in der politischen Analyse der Linken und Meinhofs auf. Die Kritik, die diese Bedingungen zum Gegenstand machen sollte, wird dadurch exterritorial, ist den Bedingungen des täglichen Lebens enthoben; sie wird abstrakt, die an ihr orientierte Praxis idealistisch.
Nun hat die RAF die Situation in der BRD nicht fälschlich als revolutionär eingeschätzt, vielmehr wollte sie durch ihr Agieren eben jene revolutionäre Situation herbeiführen.
„Das praktische revolutionäre Beispiel ist der einzige Weg zur Revolutionierung der Massen, die eine geschichtliche Chance zur Verwirklichung des Sozialismus beinhaltet …. Wir müssen also einen Angriff unternehmen, um das revolutionäre Bewußtsein der Massen zu erwecken.“
RAF, 1971
Von totaler Entfremdung umgeben, sei die revolutionäre Bewegung dabei zeit- und ortlos. Sie könne an nichts innerhalb der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft anknüpfen und müsse sich selbst hervorbringen. Die Selbstkonstruktion sei nicht nur Entstehungsbedingung der revolutionären Bewegung, sondern auch der Akteure als Revolutionärinnen in ihr, die die Komplizenschaft mit dem System nur durch den totalen Bruch mit ihm aufkündigen könnten.
„Wer begriffen hat, was in Vietnam los ist, fängt allmählich an, mit zusammengebissenen Zähnen und einem schlechten Gewissen herumzulaufen; fängt an zu begreifen, daß die eigene Ohnmacht diesen Krieg zu stoppen, zur Komplizenschaft wird mit denen, die ihn führen“.
Meinhof, konkret 1967
So gelangt Brückner letztlich zu dem Schluss: „Die Abstraktionen Ulrike M. Meinhofs enthalten zutreffende Beobachtungen, Ergebnisse einer schmerzhaften Selbstanalyse, richtige Schlußfolgerungen und Theoreme, aber die Weise, wie die Autorin sie zusammenrafft und interpretiert, ein wahrer ‚Amoklauf an Abstraktionen, Analogien, Verkürzungen und Extrapolationen‘, mach sie falsch.“ Ob nicht tatsächlich etwas Falsches schon in der Beobachtung liegt, lässt sich aus den nur fragmentarisch wiedergegebenen Texten schwer nachvollziehen. Damit bleiben auch eventuelle Widersprüche in der Interpretation Meinhofs durch Brückner unaufdeckbar. Es lohnt insofern ihre Texte als Korrektiv heranzuziehen, und auch auf politische Inhalte zu befragen, denn diese bleiben im Werk unbeleuchtet. Dass es dem Autor nicht darum geht, die politische Ausrichtung der RAF zu thematisieren, sondern die deutschen Verhältnisse, die Meinhofs Entscheidungen beeinflussen, mag über diesen blinden Fleck hinwegsehen lassen. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass die sich aufdrängende Frage nach dem Antisemitismus der RAF ungestellt bleibt. Wenn Brückner gegen Ende des Buches nicht nur Parallelen im Motiv der Ort- und Zeitlosigkeit zu palästinensischen Terrorgruppen zieht, sondern deren Agieren damit erklärt, legt er dahingehend allerdings eine andere Antwort nahe – nämlich diesen nicht wahrzunehmen oder gar als handlungsanleitend zu begreifen.
Das Buch ist damit nicht dazu geeignet, sich ein Bild der politischen Orientierung der RAF zu verschaffen, ebenso wenig wird man Einblicke in den persönlichen Werdegang Meinhofs erhalten. Es bleibt (nur) das, was es beansprucht zu sein: die Darstellung deutscher Verhältnisse, unter denen Ulrike Meinhof wirkte. Doch gerade als das ist es eine gelungene Zusammenstellung und Kontextualisierung von Zeitdokumenten, die die politische Lage der 50er und 60er Jahre anschaulich vermitteln und so eine gute Möglichkeit, sich dem Thema RAF und Ulrike Meinhof zu nähern.