Vom 12. bis 14. April 2019 veranstaltete das BiKo in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Wochenendbildungsreise nach München, um sich dort auf Spurensuche der Akteur_innen der Münchner Räterepublik zu begeben. Das Datum war nicht zufällig gewählt, denn im April 2019 jährte sich der Versuch des Aufbaus einer Räterepublik in München zum 100. Mal.
Turbulente Anreise und erster Abend in München
Bereits die Anreise gestaltet sich turbulent. Wir waren für 10Uhr am Erfurter Hauptbahnhof verabredet, um gemeinsam mit einem Bus nach München zu fahren. Nach wenigen Minuten warten in der Kälte an diesem Aprilmorgen, an dem es zur Überraschung aller Anwesenden schneit, ruft der Fahrer an: Der Bus ist eingeparkt. So fahren wir nach einem Kaffee im Wiener Feinbäcker, dessen Preise uns auf das teure München einstimmten, letztlich mit dem Zug. 6,5 Stunden Fahrt sind es mit dem Regionalverkehr der Bahn nach München. Wir kommen also gerade rechtzeitig an, um – unser Gepäck im Schlepptau – pünktlich zur ersten Veranstaltung des Abends da zu sein. In der Revolutionswerkstatt in der Sendlinger Kulturschmiede referiert Riccardo Altieri zum Thema „Die Rolle von Paul Frölich und Rosi Wolfenstein in den Räterepubliken 1919“. Die Sendlinger Kulturschmiede besteht seit 1978 als Kulturraum im Stadtteil Sendling. Sie ist eines von den sogenannten Bildungslokalen, welche Vereinen von der Stadt München zur Verfügung gestellt werden. Das Plenum R organisierte hier in seiner zweiten Revolutionswerkstatt von November 2018 bis Mai 2019 eine Veranstaltungsreihe zur bairischen Revolution und Räterepublik.
Nachdem wir, in den überschaubar großen Räumlichkeiten durch unser Gepäck für etwas Chaos sorgen und uns, wie wir später erfuhren, am eigentlich für einen gemütlichen Ausklang des Abends nach dem Vortrag gedachten Wein bedienen, beginnt Altieri mit seinen Ausführungen zur Doppelbiografie von Rosi Wolfenstein und Paul Frölich. Während Frölich an der Münchner Räterepublik beteiligt war, wirkte Wolfenstein im Ruhrgebiet. Beide waren seit 1920 liiert, also erst nach den Ereignissen in München. Dennoch seien – so die These Altieris – auch vorher bereits Parallelen in deren Biografien zu finden. So waren beide bereits vor bzw. zu Beginn des Ersten Weltkrieges überzeugte Kriegsgegner. Wolfenstein sprach sich gegen die Burgfriedenpolitik aus und verurteilte die Zustimmung zu den Kriegskrediten durch die SPD, deren Mitglied sie bis zur Gründung der USPD war. Frölich wurde während des Krieges zweimal eingezogen. Das erste Mal wurde er wegen einer Verletzung als untauglich ausgemustert. Das zweite Mal wurde er 1916 eingezogen. Nachdem er sich antimilitaristisch äußerte, was als Anlass diente, ihm Geisteskrankheit zu attestieren, wurde er in eine Klinik eingewiesen. Auch Wolfenstein wurde während des Ersten Weltkrieges mehrfach inhaftiert. Kennengelernt haben sich beide in der KPD, deren Gründungsmitglieder sie waren. Heute sind sie aber bekannter als Verwalterinnen des Nachlasses und Herausgeber der Werke von Rosa Luxemburg.
Der Vortrag lässt uns viel über den Werdegang Beider erfahren, wenn auch die Darstellung leider wenig Politisches beleuchten. Nach einer Diskussion ist der Gegenstand der meisten Gespräche, der noch zum Wein Gebliebenen etwas anderes. Für den nächsten Tag hatte man sich für einen Vortrag in das Hofbräuhaus eingemietet. Dort wurde vor 100 Jahren die zweite Münchner Räterepublik gegründet. Heutzutage wirbt das Hofbräuhaus damit, das berühmteste Wirtshaus der Welt zu sein. Es ist ein beliebter Austragungsort für Großveranstaltungen und bietet mit den 1300 Plätzen in seiner sogenannten Schwemme viel Raum für Biertourismus. Die Betreiber des in Stadtbesitz befindlichen Wirtshauses cancelten in der Woche, in der die Veranstaltung stattfinden sollte, die seit einem Jahr bestehende Reservierung mit der Begründung keine politischen Veranstaltungen beherbergen zu wollen. Das Plenum R ging dagegen gerichtlich vor und gewann. So würde die Veranstaltung am nächsten Tag wie geplant stattfinden. Bevor auch wir diese besuchen wollten, war für uns am Vormittag eine Stadtführung durch München mit Rudolf Stumberger geplant.
Stadtführung durch die Münchener Innenstadt
Am nächsten Tag, dem Samstag, treffen wir uns nach dem Frühstück mit Rudolf Stumberger am Sendlinger-Tor-Platz. In den folgenden Stunden begleitet er uns zu Orten der Revolution und Räterepublik 1919 durch die Münchner Innenstadt. Unser Treffpunkt ist sogleich die erste Station: Das Hotel Reichshof am Sendlinger-Tor-Platz ist der Ort an dem Kurt Eisner am Abend des 31. Januar 1918 verhaftet wurde. Wegen der Organisation eines Streiks der Münchner Munitionsarbeiter wurde er wegen versuchten Landesverrats angeklagt und blieb bis zum 14. Oktober 1918 in Haft, bevor er durch die Ausrufung der Republik in Bayern durch den Arbeiter- und Soldatenrat am 8. November für die USPD zum ersten Ministerpräsidenten des Freistaates wurde. Bei denen im Februar 1919 stattgefundenen Wahlen zum Landtag unterlag die USPD jedoch der BVP und der SPD. Am 21. Februar 1919 wurde Eisner auf dem Weg zum Landtag, in dem er seinen Rücktritt verkünden wollte, von dem Rechten Anton Graf von Arco erschossen. Neben der leicht überseh- bzw. übergehbaren Silhouette seiner Leiche auf dem Gehweg der Kardinal-Faulhaber-Straße, erinnert in München heute das Kurt–Eisner–Denkmal am Oberanger an ihn und seine Rolle bei der Gründung des Freistaates Bayern. Das Denkmal ist aus Glas und repräsentiert so ganz passend, die Unsichtbarmachung der Ereignisse um seinen Tod und die Folgemonate. Es ist gestiftet von der seit Jahrzehnten SPD-regierten Stadt München.
In der bereits benannten Sitzung des Landtages des 21. Februar 1919 fielen damals ein weiteres Mal Schüsse. Alois Lindner schoss auf den Innenminister Erhard Auer. Daraufhin trat der Landtag auseinander. Bei der darauffolgenden Sitzung am 17. März wählt der Landtag eine SPD-geführte Minderheitsregierung unter dem Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann, der vom Zentralrat und dem Revolutionären Arbeiterrat am 7. April abgesetzt wurde, als diese die Räterepublik Baiern ausriefen. Hoffmann und das Kabinett flüchten nach Bamberg. Keine Woche währte die Räterepublik um die Anarchisten Toller, Mühsam und Landauer, bis sie am 13. April beim sogenannten Palmsonntagsputsch von einer Abteilung der Hoffmanntreuen Republikanischen Schutztruppe gestürzt wurde. Die Republikanische Schutztruppe konnte letztlich von den Arbeitern und Soldaten zurückgeschlagen werden. Am selben Tag riefen die im Hofbräuhaus tagenden Betriebs- und Soldatenräte die zweite Räteprepublik unter dem Vorsitz des Kommunisten Eugen Leviné aus.
Weil wir später hierher zurück kommen wollen, halten wir uns am Hofbräuhaus nicht lange auf. Es geht weiter in die Müllerstaße. Dort befand sich damals das Luipold–Gymnasium, indem die VI. Abteilung der Roten Armee Münchens stationiert war. Am Abend des 30. April 1919, drei Tage nachdem München von Regierungstruppen und Freikorpsverbänden eingeschlossen wurde, wurden hier zehn Gefangene erschossen, von denen sieben der konterrevolutionären Thule-Gesellschaft angehörten. Die Thule-Gesellschaft war ein völkisch-antisemitischer Geheimbund, der viele spätere NSDAP-Mitglieder beherbegte. Ihr Hauptquartier hatten sie in der Maximilianstraße, dem Hotel Vier Jahreszeiten. Neben der Planung von Sabotageakten, gaben sie Informationen nach Bamberg weiter, die sie durch die Unterwanderung der Roten Armee und der Kommunistischen Partei erhielten. Dirket gegenüber vom Hotel Vier Jahreszeiten befand sich die Praxis der Ärztin Hildegard Menzi. Sie war Mitglied der KPD und Ärztin der Roten Armee. Als am 1. und 2. Mai die Regierungstruppen aus Bamberg vorrückten und die Rote Armee fiel, versteckte sie Rudolf Engelhofer, Kommandant der Roten Armee. Beide wurden von den weißen Truppen verhaftet und im Keller der Feldherrnhalle in der Residenzstraße eingesperrt. Engelhof wurde am nächsten Morgen, dem 3. April, ohne Gerichtsurteil erschossen. Die Presse berichtete, er sei auf der Flucht erschossen wurden.
In der Ludwigstraße endet unsere Führung durch die Stadt München und die Geschichte der Münchner Räterepublik. Die verbleibende Zeit bis zum Vortrag am Nachmittag im Hofbräuhaus nutzen wir, um etwas zu essen und uns die Stadt anzusehen. Zurück in die Innenstadt, durch die gut gekleidete Menschen schlendern, um sich vielleicht spontan eine der Sonnenbrillen für mehrere Hundert Euro oder ein paar Designersocken zu kaufen, zieht es uns nicht. Ohne versierte Stadtführung lässt sich den Orten heute kaum noch ihre Geschichte entlocken. Wir gehen also in Richtung Studentenviertel und landeten u.a. in einer super hippen Bar, in der wir teure Suppe essen. Neben dem englischen Garten besuchten wir außerdem das Georg-Elser Denkmal: Eine Uhr an einem Turm, die zum Zeitpunkt des Attentats auf Hitler – gegen 22Uhr – für eine Minute aufleuchtet. Unser Weg ins Hofbräuhaus führte uns ein zweites Mal durch die Drückerbergergasse, eine kleine Strasse, die es ermöglichte, nicht an der Feldherrenhalle vorbei laufen zu müssen, an der während des Nationalsozialismus stets SS-Ehrenwachen postiert waren, die von den Vorbeigehenden erwarteten, dass sie zur Ehrbekundung den Hiltergruß zeigen. In der Straße hängt zur Erklärung eine Plakette – sie soll wohl daran erinnern, dass es ihn scheinbar auch in München gab, den breiten inneren Widerstand.
Spektakel im Hofbräuhaus
Am Hofbräuhaus angekommen, überforderte uns zunächst die Suche nach den richtigen Räumlichkeiten, denn einen Hinweis auf die Veranstaltung gibt es nicht. Der erste Weg führt in die Schwemme, in der selbst für Punkkonzert-Erprobte ein unerträglicher Lautstärkepegel herrscht und vorwiegend Männer rythmisch ihre Nase in 1l-Bierkrüge versenken. Ein paar Etagen höher finden wir den richtigen Raum und nehmen einen Platz an den langen nebeneinander aufreihten Tafeln ein. Unten vor der Tür halten inzwischen zwei mit Plakaten von der KPD – Aufbauorganisation behangene Transporter, um die herum Flyer an die umstehenden Betrunkene verteilt werden, die zu einer Zigarette oder für frische Luft die Schwemme des Hauses verlassen haben. Eine völlig absurde Situation. Auch oben werden fleißig Flyer und Broschüren verteilt. Zu dem Vortrag kamen mehrere Hundert Leute – diese Öffentlichkeit will genutzt werden. Das Gewusel im Raum, das u.a. entsteht, weil es noch mehr Stühle für die zahlreichen Zuhörerinnen bedarf, lässt erahnen, dass sich der Beginn verzögert. Wer sich mit der Lektüre der DKP–Broschüren nicht die Zeit vertreiben und Laune vermiesen lassen will, kann sich ein Maß Bier für fast 10 Euro bei den völlig überlasteten Kellnern bestellen. Als es so scheint, als solle es endlich los gehen, werden noch Grußworte gehalten. Mit über einer Stunde Verspätung beginnt der Historiker und Vorstand der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal Hermann Kopp mit seinem Vortrag unter dem Titel „100 Jahre Versammlung der Betriebs-und Soldatenräte“. Angekündigt war, dass er dabei vor Allem die Rolle der KPD in der Münchner Rärerepublik beleuchten würde. Tatsächlich hat er eher den historischen Verlauf dieser nachgezeichnet. Nach der Stadtführung mit Stumberger ist für uns nicht viel neues dabei. Aber darum geht es wohl auch nicht. Die gesamte Veranstaltung ist ein einziges Spektakel. Außerdem ist es warm und stickig in dem überfüllten Raum, das Bier teuer, die Aufmerksamkeit der Kellnerin sowieso nur schwer auf sich zu lenken. Spätestens als Kopp nach einem Zwischenruf darauf aufmerksam gemacht wird, dass es auch Frauen in der Partei gab, es daraufhin mit dummen Kommentaren zu rechtfertigen versucht, warum er nicht glaubt, dass diese eine wesentliche Rolle spielten und einfach nicht aufhörte, immer wieder darauf zurück zu kommen, wird es unangenehm. Ein Genosse schlägt irgendwann vor, einfach zu klatschen, um dem Ganzen ein Ende zu setzen. Der Vorschlag hat sich nicht durchgesetzt. Um so erleichterter sind einige von uns, als der Vortrag vorbei ist und nutzten die kurze Pause vor der Diskussion als Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen, während andere von uns noch bleiben.
„Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub“ (Eugen Leviné)
An unserem letzten Vormittag in München treffen wir Cornelia Naumann am Neuen Israelitischen Friedhof. Dort besuchten wir das Grab von Eisner, dessen Urne 1933 neben die von Gustav Landauer umgebettet wurde. Landauer wurde nach der Niederschlagung der Münchner Räterepublik am 2. Mai von Freikorps ermordet. Auf dem Friedhof befindet sich außerdem das Grab von Leviné, der Anfang Mai untertauchte, am 13. Mai verhaftet und Anfang Juni 1919 vor Gericht gestellt wurde. Seiner berühmten Verteidungsrede entstammt der oben zitierte Satz. Er wurde wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und am 3. Juni im Gefängnis Stadelheim erschossen.
Naumann zeigte uns auch das Grab von Sonja Lerch, die die kulturhistorische Frauenforscherin in ihrem Roman „Der Abend kommt so schnell“ im Untertitel als die vergessene Revolutionärin bezeichnet. Sarah Sonja Lerch, geborene Rabinowitz, war eine russische Jüdin, die in Deutschland studierte, 1905 nach Rußland zurückkehrte, sich 1912 der Politik abwandte, bevor sie 1918 an der Seite Eisners wieder auftauchte. Dort agitierte sie für den Generalstreik zur Beendigung des Krieges, wurde daraufhin wegen Landesverrats verhaftet und wenige Wochen später im Gefängnis Stadelheim erhängt aufgefunden. Während Hermann Kopp es mit kruden Argumenten sicher zu rechtfertigen wüsste, dass sie der Geschichtsschreibung unbekannt und wenig über sie überliefert ist, hat Naumann dem entgegen gewirkt. Unter anderem mit dem von ihr veröffentlichten Sachbuch „Steckbriefe“, in welchem bisher unbekannte Akteurinnen und Akteuren der Münchner Räterepublik – unter ihnen Lerch – beleuchtet werden. Derzeit ist Naumann mit der Wiederherrichtung des Grabs von Lerch befasst, das die Restaurierung des umgefallenen und zerbrochenen Grabsteins beinhaltet.
Am Neuen Israelistischen Friedhof endet unserer Wochenende in München und wir treten die 6,5 stündige Rückfahrt an.