Das organisierte Erbrechen

„Das ist doch nur Spaß“ sagen die Leute, die finden, dass es voll witzig ist, eine Deutschland-Gemeinschafts-Party um 19.33 Uhr beginnen zu lassen, wie es in Erfurt am Rosenmontag passiert ist. Und wenn sie damit meinen: „Das ist typisch Karneval“ haben sie damit recht. Harry Schulz ist in einer rheinländischen Karnevalsfamilie aufgewachsen und kann einiges über das organisierte Erbrechen erzählen. Der Text thematisiert Sexismus, Rassismus, Sozialchauvinismus und sexualisierte Gewalt gegen Kinder.

Ich bin in einer Karnevalsfamilie aufgewachsen. Was bedeutet: Sowohl meine Eltern als auch meine Großeltern waren im Karnevalsverein. Mein Vater erzählt stolz, dass er mich nach der Geburt erst beim Verein und danach beim Standesamt angemeldet hat. Ich habe mit 15 den Absprung geschafft. Meine Eltern erzählen mir aber regelmäßig von den Leuten, die ich als Kind im Verein kennengelernt habe. Nicht wenige haben heute ihrerseits Kinder, die dann in vierter Generation dabei sind. Will sagen: Wenn man einmal richtig drin ist, kommt man – wie bei allen destruktiven Kulten – nicht mehr so leicht wieder raus.
Der Karnevalsverein war der Verein der sozialdemokratisch geprägten Verwaltungsbeamten. Auch das muss man in Thüringen vermutlich erklären: Die Vereine sind nach sozialem Milieu differenziert. Mein Club war nicht herausragend reaktionär. Die Blauen Funken (ein Bauunternehmer, seine Verwandtschaft und seine Arbeiter*innen) zum Beispiel waren schlimmer, die haben regelmäßig andere Jecken verdroschen. Massenschlägereien gab es jedes Jahr. Und der Jugendwart der Prinzengarde (Katholiken, CDU) wurde seines Postens enthoben, weil er eine Beziehung zu einer Jugendlichen begonnen hatte. Aber es soll hier nicht um einzelne Vereine gehen.
Guckt man sich so ein Corps – die aktiven Vereinsmitglieder*innen – an, so fällt erst mal auf: Die Männer nennen sich „Gardisten“ und tragen Kostüme, die an historische Militäruniformen erinnern, komplett mit Säbel und Gewehr. Die Frauen (verniedlichend genannt „Funkemariechen“) tragen Uniformjacken, darunter kurze Röcke und hochhackige Stiefel. Beides eine überdeutliche Geschlechterperformance, die durch die Formationstänze noch gesteigert wird: Die Gardisten marschieren, die Mariechen werfen Beine und zeigen ihre spitzenbesetzte Unterwäsche. Wohlbemerkt: Das gilt auch für kleine Kinder, die damit lernen, wofür sie qua Geschlecht geschaffen sind – stark sein und marschieren oder aber für besoffene Männer Haut und Spitze zeigen. Man könnte jetzt sagen, es sei sexistisch und überhaupt voll Kacke, Kinder, die gerade laufen können, in sexualisierte Kostüme zu stecken. Und damit meine ich beide Varianten: der symbolische Phallus des Gewehrs, wie die Lolita-Darbietung im knappen Röckchen. In der Kleinstadt, über die ich hier schreibe, war es eine GRÜNEN-Abgeordnete, die Anfang der 1990er-Jahre im Stadtrat sagte, Karneval sei sexistisch. Der Zorn der Volksgemeinschaft brach über sie herein und es war niemand anderes als der amtierende Karnevalsprinz, der einen erbosten Text schrieb, der das Gegenteil beweisen sollte. Veröffentlicht wurde der Text in der Lokalzeitung unter dem Namen eines Funkemariechens.

Sexismus, Rassismus, Sozialchauvinismus

Dass Sexismus, Rassismus und auch Sozialchauvinismus sich von der Prinzenproklamation am 11.11. bis zum Katerfrühstück am Aschermittwoch ziehen, merkt man auch an den Büttenreden. Für eine Büttenrede stellt sich ein hyperselbstbewusster Mann verkleidet in ein Fass (eine Bütt) und trägt eine gereimte Rede vor. In Verkleidung und Text wird dabei eine Rolle eingenommen, oft eine proletarische. Also Baustadtrat X, Rechtsanwalt Y oder Verwaltungsbeamter Z verkleidet sich als Bergmann, Dienstbote oder Bauarbeiter und hält eine launige Rede über das, was er für Volkes Stimme hält. Doppelter Gewinn für die herrschende Klasse: Die Redner können gleichzeitig rassistischen und sexistischen Scheiß erzählen und sich über das Proletenpack erheben, das sie darstellen. Und wenn nach Karneval alles vorbei ist, können sie wieder mit gebügeltem Hemd und Krawatte konstatieren, dass Volkes Stimme nach harter Hand verlange. Die Rollen-Redner bilden sich ein, sie seien die Elite der Karnevalisten, weil sie über Politik reden. Und, ich gebe zu, nicht alle sind kreuzreaktionär. Einer von 20 sagt auch mal was Vernünftiges. Aber: Je sexistischer und platter die Rede, desto mehr Applaus. Besonders deutlich zeigt sich das bei den Rednern, die einfach nur (ohne Rollenspiel und Bütt) auf der Bühne Witze erzählen. Wer das noch nicht erlebt hat, kann es sich vielleicht nur schwer vorstellen. Richtig gute Stimmung kommt auf, wenn erwachsene Männer auf der Bühne über Pipi-Kacka-Popo reden. Ein Witz, dessen Pointe ist, dass der Bürgermeister auf dem Marktplatz gepupst hat? 500 angetrunkene Spießbürger liegen auf dem Boden vor Lachen. Das Thema des Witzes – eine Autoritätsfigur pupst – zeigt die Harmlosigkeit der konformen Revolte, die hier vor sich geht: Gerade weil man an Karneval mal herzlich mit den hohen Herren über die hohen Herren lacht, die ja auch nur allzu menschlich sind, ist man danach umso verbundener mit der Herrschaft.

Erzwungene Küsse

Der Sexismus des Karnevals ist unter anderem institutionalisiert in der Praxis des „Bützje“, rheinisch für Küsschen. Während der tollen Tage kann jede*r zu jeder Zeit „Bützje“ rufen, was die Angerufenen dazu verpflichtet, sich gegenseitig zu umarmen und auf die Wange zu küssen. Ob diese das wollen oder nicht, ist völlig gleichgültig. Übergriffigkeit ist damit fest als soziale Norm verankert. Um mal ein Beispiel zu nennen: Ein kleiner Junge führt etwas vor und bekommt danach von einem Funkemariechen einen Orden überreicht. 500 betrunkene Spießbürger gröhlen „Bützje“ und die beiden müssen sich umarmen und küssen. Ich fand‘s ekelhaft und habe ein entsprechendes Gesicht gemacht, interessiert hat das niemanden. Für die Mädchen im Verein war es ungleich schlimmer. Und natürlich erzählen sich die männlichen Jugendlichen im Verein, welche jungen Frauen man gebützt habe („Hö, hö, hö“) und an welchen abseitigen Orten es dann zu Geschlechtsverkehr gekommen sei. Solche Geschichten kennt jeder Junge vom Schulhof. Aber die in der Bützje-Regel ritualisierte Übergriffigkeit der Karnevalstage bildet einen sozialen Rahmen, in dem die Objektifizierung von Frauen nicht nur akzeptiert, sondern sogar geboten ist. Dass es in den meisten Karnevalsvereinen weit mehr Frauen als Männer gibt, letztere allerdings alle entscheidenden Stellen besetzen und den Ton angeben, passt dazu. Es ist ein Treppenwitz der Weltgeschichte, dass es in Köln, wo diese patriarchalen Verhältnisse jedes Jahr fünf Tage lang hemmungslos abgefeiert werden, ein Riesen-Skandal wird, wenn Nichtdeutsche sexuell übergriffig sind wie zu Silvester 2015. Andererseits auch wieder nicht: In meiner Kleinstadt lief der Karnevalszug durch eine Gasse, die einen schlechten Ruf hatte. In jener Gasse bildeten die Gardisten meines Vereins einen Wanderkessel um die Funkemariechen – um zu verhindern, dass sie von Arbeitslosen und Bauarbeitern (statt von Baustadträten und Anwälten) gebützt wurden. In meiner Kleinstadt wie in der Debatte um die Silvesternacht geht es darum, wer legitimen Zugriff auf die Frauen der eigenen Gruppe hat.

Gewaltverhältnisse

Wichtigtuerische Männer, zur Zierde herumhopsende Frauen. Kein Wunder, dass hier Übergriffe alltäglich sind. Die verordneten Küsse sind nur die Spitze des Eisbergs. So wussten wir 12- bis 15-Jährigen im Kleinstadt-Verein damals, dass ein erwachsenes Vereinsmitglied seine Tochter sexuell missbraucht. Ich erinnere mich nicht, woher wir es wussten. Wenn man es aber wusste, waren die Übergriffe (in der Öffentlichkeit) kaum zu übersehen. Wir Kinder und Jugendliche waren von der Situation völlig überfordert und haben nie mit der Betroffenen darüber geredet. Und auch nicht mit den Erwachsenen im Verein. Ich weiß nicht mehr, wieso nicht – vielleicht, weil es schwer ist, Vertrauen zu Leuten zu haben, die ständig betrunken und daher nicht zurechnungsfähig sind?
Das Ganze ist jetzt mehr als 30 Jahre her. Ich kann mir heute rational erklären, wie die geschilderten sozialen Verhältnisse zustande kamen – Zwangsgemeinschaft, Patriarchat, Ignoranz, Weglachen und organisiertes Verschweigen der Gewaltverhältnisse. Wenn ich darüber nachdenke, bin ich aber immer noch wütend und fassungslos, unter anderem darüber, dass die Erwachsenen im Verein nichts getan haben. Ein paar Jahre nachdem ich als Jugendlicher den Absprung geschafft habe, habe ich mal nachgefragt, wieso nicht. Die Befragten gaben vor, von nichts gewusst zu haben.
Also nochmal zurück an den Anfang: Ich weiß, dass der hier beschriebene Verein kein besonders reaktionärer war. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich im Karneval nicht viel verändert hat. Insofern ist es im Karneval tatsächlich „nur Spaß“, wenn man 19.33 Uhr eine Deutschland-Gemeinschafts-Party feiert. Weil Karneval im Kern daraus besteht, dass man todernste Gewaltverhältnisse als Spaß aufführt.
Ich denke für die nächste Karnevalssession auf jeden Fall darüber nach, ein Aussteiger*innenprogramm zu gründen. Gibt es schließlich für andere destruktive Kulte auch.


Die GRÜNEN und der Karneval
In den 1990er-Jahren waren die GRÜNEN noch eine linke Partei, die wenig mit Karneval zu tun hatte – was allerdings auch bedeutete, dass die Partei von bestimmten Netzwerken ausgeschlossen war: In der Kleinstadt, über die ich schreibe, wurde so manche kommunalpolitische Entscheidung nicht im zuständigen Ausschuss, sondern an der Theke getroffen. Neben der Theke waren die Ehrenoffizierscorps eine wichtige Institution, um Strippen zu ziehen. Hier wurden keine Prunksitzungen oder Festwagen organisiert. Es ging vielmehr darum, welcher Verein welche Honoratioren an sich binden und damit hilfreiche Netzwerke anbieten und nutzen konnte. Um hier nicht auf Dauer am Rand zu stehen, mischen seit einigen Jahren auch die GRÜNEN beim organisierten Erbrechen mit.

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