Im Heft sind verschiedene Eindrücke und Erfahrungen der Lirabelle-Redaktion aus dem ersten Lock-Down im Frühjahr 2020 versammelt.
Wie ich in der Coronakrise zum Held wurde
Ich verbringe meinen Feierabend zumeist auf der Couch. Zusammen mit meiner Freundin und meiner Katze tauche ich ein in die Weiten von Netflix, Sky und neuerdings Disney+. Ein bis zweimal die Woche quäle ich mich aus dem Haus und gehe zu Plena meiner Politgruppen. Sport treibe ich auch. Aber meistens allein. Mein Fahrrad, ich und wenn es geht immer bergauf. Mein Alltag mag den meisten langweilig erscheinen. Doch ich lebe gerne so. Partys öden mich an. Mich ermüden diese Partypeople die jeden der nicht blöd in der Gegend rumgrinst mit ihrer ostentativ zur Schau gestellten, als penetrante gute Laune getarnten Borniertheit belästigen und von ihrem Gegenüber dieselbe Erniedrigung einfordern; diese ätzenden Leute, die mit Aussagen wie „Lach doch mal!“ oder „Warum guckst du immer so grimmig?“ jenes schlechte Lachen einfordern, das die Furcht bewältigen soll, indem es zu den Instanzen überläuft, die zu fürchten sind. Aber ich schweife ab und freilich sind nicht alle Partygäste so.
Meine Freunde jedenfalls sind anders und die treffe ich gerne mal, aber alles in Maßen. Zwei oder dreimal im Monat; häufig mache ich „Schutz“ auf Konzerten im coolsten politischen Projekt dieses öden Bundeslandes. Viel mehr ging bei mir nicht. Dann kam Corona. An meinem Leben änderte sich fast nichts. Die Treffen und Konzerte fielen jetzt weg. Aber die Abende nach der Maloche verbringe ich immer noch mit meinen beiden Liebsten auf der Couch. Doch von nun an hieß mein Lifestyle „Quarantäne“. Ich wurde zum Trendsetter. Damit war nicht zu rechnen. Mehr noch: Ich wurde zum Held. Von Fachleuten wie Christian Drosten, Alexander Kekulé und Angela Merkel erfuhr ich, dass meine Gewohnheit, niemanden auf Partys anzuspucken, während ich ihn/sie bei 140db Umgebungsgeräusch anbrülle, Leben retten sollte. Durch meine Abneigung dagegen, mich bei Großveranstaltungen an fremden Menschen zu reiben, vermied ich es todbringende Infektionsketten in Gang zu setzen. Das Vermeiden eines Übermaßes sozialer Kontakte (außer Freundin & Katze [und Arbeitskollegen]) rettete das Leben von potentiellen Risikopatienten. Die nie enden wollende Suche nach Ausreden um Familienfeiern fern zu bleiben – rückblickend ergab jetzt alles Sinn. Manche Leute mögen mich als soziophob bezeichnen. Seit Corona weiß ich es besser. Ich rette Leben. Gern geschehen!
Release in der WG-Küche
Im März erschien die neue Platte „Bildungsbürgerprolls“ von Pöbel MC. Dank Corona gab es für Menschen in hinterdörfigen Nestern wie bspw. Erfurt die Möglichkeit, die Release-Show via Onlinestreaming mitzuverfolgen. Vorfreude hatte ich trotzallem. Startklar mit Pizza, Kippen, Bierchen und Smartphone ging es los. Vor dem Konzert gab es ein interaktives Interview mit dem Releasenden, Zuschauer*innen sandten die Fragen via Social Media. DJ Flexscheibe und Pöbelos hatten Spaß am Pöbeln, auch ohne live Publikum. Gemeinsam mit Freund*innen in einem anderen hinterdörfigen Nest, bspw. Leipzig, sah ich die Release-Show. Zeitgleich gab es Fotos davon zur Dokumentation via Instagram und Messenger. Ohne Corona hätte ich einfach mit Dübel auf der Couch geseßen und Serie geglotzt – das Release hätten viele super coole Pöbelprolls und Atz*innen in Berlin gefeiert.
Zeiten der Misanthropie
Wenn man sowieso keine Menschen mag, ist die Corona-Zeit wunderbar. Brauchte man vorher Ausreden und Rechtfertigungen für die selbst gewählte soziale Isolation, war auf einmal für alle völlig klar, womit man vorher alleine da stand: Unter Menschen gehen, ist voll Scheiße. Womit sich eine der grundlegenden Ideen der Moderne nun endlich vollends durchsetzt: Der Mensch als vereinzeltes Einzelnes, als autonomes Subjekt und Herr im eigenen Haus. Zumindest, so lange der Zustellservice noch läuft. Das Kapital freut sich, weil das Menschenmaterial endlich vor allem konsumiert und arbeitet. Problematisch ist das nur für die Kapitalfraktionen, die physischen Kontakt brauchen. Und natürlich für alle, deren Arbeit sich nicht remote erledigen lässt. Aber lass mal cool bleiben: Wenn der Replikator entwickelt wird und man sich das Frühstück von Instagramm einfach ausdrucken kann, wird alles gut. Bis dahin: Katzenbilder gucken und vielleicht mal nach verschreibungsfreien Antidepressiva googeln.
Zutritt nur mit Einkaufswagen
Vom Eintreten in den Rewe am Anger 1 werde ich von zwei Mitarbeiterinnen aufgehalten, die abgestellt wurden, die Einkaufswägen zu desinfiziern und zuzuteilen. „Zutritt nur mit Einkaufswagen“, sagt eine von ihnen in einer Selbstverständlichlkeit, die mich in Anbetracht dessen, dass ich auf Krücken laufe, überrascht. Ich deute auf diese und denke, die Situation ist damit geklärt. „Sie müssen einen Wagen nehmen“, wiederholt sie. Etwas entzürnt antworte ich: „Ich bin nicht in der Lage, einen Wagen zu schieben!“ und deute erneut auf meine Krücken. Sie schaut mich ratlos an. „Wir müssen wissen, wieviel Leute im Markt sind“, sagt sie erklärend. Nach einem kurzen Schweigen, schalge ich ihr vor, dass sie einen Korb zur Seite stellt, bis ich wieder da bin und ihr bescheid sage, dass sie diesen wieder in Umlauf geben könne. „Wir dürfen Leute nur mit Korb rein lassen.“ – „Ja, aber… Wie soll das denn funktionieren?“ Wieder Schweigen, bis sie sich zu ihrer Kollegin umdreht und sagt: „Bleibst du hier, dann gehe ich fix mit und schiebe ihr den Wagen.“ Die Frage, ob sie dann nicht auch einen Einkaufwagen für sich bräuchte, verkneife ich mir und kaufe heute wirklich nur das nötigste.
Samstag ist Selbstmord
Samstagabend zur Zeit von Corona bedeutet nicht mehr, als dass morgen eben Sonntag ist. Ich ziehe mir mein Puzzle unterm Bett vor, mache ein Bier auf und lausche beim puzzeln einem Onlinevortrag. Hab ich gestern schon gemacht. Mach ich vielleicht morgen wieder.