Fabian schreibt über die Proteste gegen Lukaschenko und welche Rolle Anarchist:innen darin haben.
Am 9. August 2020 wurde in Belarus der amtierende Präsident Alexander Lukaschenko nach offiziellem Wahlergebnis mit über 80 % der Stimmen erneut gewählt. Noch am Wahlabend selbst flammten im ganzen Land Proteste auf, deren zentrale Forderung ein sofortiger Rücktritt sowie neue und faire Wahlen vereinte. Mittlerweile ziehen sich die Massenproteste über mehrere Monate und der autoritäre Staat schlägt mit aller Härte zu. An den Protesten beteiligen sich auch Antifaschist:innen und Anarchist:innen aus ganz Belarus.
Die Opposition ist komplett zermürbt
Belarus wird gerne romantisiert als „letzte Diktatur“ Europas bezeichnet. Wer es weniger kitschig möchte, nennt es eine „Präsidiale Demokratie“ mit einem Parlament in dem eine wirkliche Opposition nicht existiert und alle Bereiche des Staates und des öffentlichen Lebens zentral verwaltet und autoritär geführt werden. Im Zuge des Kollaps der Sowjetunion wurde Lukaschenko 1994 zum Präsidenten gewählt und regiert seitdem Belarus. Den Großteil seiner Wiederwahlen in den letzten 26 Jahren wurden lediglich von autoritären Staaten wie Russland oder China anerkannt. Viele der bisherigen Wahlen waren von Protesten begleitet, welche aber meist nur marginalisiert auftraten und eine Reihe von Verhaftungen bei Oppositionskandidaten zur Folge hatten. Lukaschenkos Regime hat es in den letzten 26 Jahren geschafft die Opposition komplett zu zermürben, politische Bewegungen im Keim zu ersticken und sich seinen alleinigen politischen Machtanspruch im Land zu sichern.
Selbstorganisierung in Belarus
Eine Verkettung verschiedener Umstände führten schließlich dazu, weshalb die Proteste 2020 anders verlaufen sind. Ein wichtiger Punkt, den Anarchist:innen aus Belarus hervorheben, ist die Selbstorganisierung der Menschen während der Covid-19 Pandemie. Lukaschenkos Krisenpolitik bestand kurz gesagt aus guten Ratschlägen. Man solle sich mit „Vodka-trinken“ gegen eine Infektion schützen. Während jedoch medizinisches Personal und die Menschen in den größeren Städten keine Unterstützung vom Staat bekamen, organisierten sie sich aus der Not heraus selbst und versorgten sich gegenseitig u.a. mit medizinischem Material. Weiterhin verschärfte die Coronakrise in Belarus die schon angeschlagene wirtschaftliche Situation. Aus Sicht der Anarchist:innen in Belarus bildete diese Situation der Not zur solidarischen Selbstorganisierung eine wichtige Grundlage für den Charakter der später organisierten Proteste. Ein weiterer Aspekt war, dass der Wahlbetrug Lukaschenkos nicht zu übersehen war. Vor der Wahl sind bereits mehrere tausend Menschen im ganzen Land bei Kundgebungen und Veranstaltungen des populären Oppositions-Trios gekommen. Während das Regime früher erst nach den Wahlen mit aller Härte gegen Oppositionskandidaten vorging, begannen sie dieses Mal schon zwei Monate vor dem eigentlichen Wahltag. Ein Großteil der Kandidaten landete im Vorfeld im Gefängnis oder wurden zur Wahl nicht zugelassen. Als Reaktion darauf traten drei Frauen, meist mit den vorherigen Kandidaten verheiratet oder in deren Wahlkampfteams aktiv, in die Öffentlichkeit und gaben der Kampagne neuen Auftrieb und drei junge weibliche Gesichter, deren Symbole das Herz, die Faust und das Victory Zeichen wurden.
Zusammen gegen die staatliche Gewalt
Während Massenproteste im Zuge der Wahl bereits absehbar waren, traf es die Polizei und das Regime sehr überraschend mit welcher Größe und Entschlossenheit die Menschen in Belarus auf die Straße gingen. Vor allem in den ersten Tagen berichteten Anarchist:innen von zwar brutalem aber eher untaktischem Vorgehen der Sicherheitskräfte. Während die ersten Tage bereits Todesopfer auf Seiten der Proteste forderte, schafften es die Menschen durch ihre eigene Organisierung der Gewalt zu begegnen. Insbesondere außerhalb der Hauptstadt Minsk gelang es den Menschen die dortige Polizei und Riot-Cops zurückzudrängen oder zeitweise ganz zu vertreiben. Besonders die Spezialkräfte OMON haben nicht mit einem solchen Widerstand gerechnet, vor allem da bisherige Proteste in Belarus immer einen gewaltfreien Konsens inne hatten. Eben jener Konsens löste sich vor allem mit der Gewalt durch die Polizei auf, deren taktischer Schwerpunkt nicht das zersprengen der Proteste war, sondern auf möglichst viele Verhaftungen und Prügelattacken zielte. Weitere Berichte über schwere Misshandlungen in den Gefängnissen führten zu weiteren organisierten Nachbarschaftstrupps, welche sich zur Verteidigung in den Stadtvierteln gründeten um gegen die staatlichen Prügelattacken vorzugehen. Die Anarchist:innen begreifen darin vor allem eine weitere Schwächung der staatlichen Position, die zu einem Katalysator für die Bildung einer neuen sozialen Kraft werden kann. Gerade hier beginnen sich die Menschen über ihre eigene Macht bewusst zu werden, in einem Land, welches sämtliche politische und soziale Selbstorganisation bekämpfte. Die Erfolge des kollektiven Handelns werden als Schlüsselfaktoren für eine radikale Transformation gesehen. So schreibt das anarchistische Kollektiv „Pramen“: „Der Erfolg bei Zusammenstößen mit OMON zeigt, dass der Staat nicht von Superhelden verteidigt wird … Jedes Video und Foto einer Person, die den Behörden aus den Händen gerissen wurde, ist ein Symbol für die Macht des belarussischen Volkes gegen Lukaschenkos Diktatur.“
Die Macht der Arbeiter:innen
Elementar für die bisherigen Proteste waren die Streiks der Arbeiter:innen. In vielen staatlichen Betrieben wurden Streikkomitees gegründet und die Arbeiterschaft ging massenhaft im Land auf die Straße. Während diese Streiks schon Hoffnungen schürten, die wirtschaftliche Situation werde Lukaschenko in die Knie zwingen, begann das Regime mit der Repression gegen die Streikenden. Da wo sie die Masse nicht in den Betrieb prügeln konnten, wurden ihre Anführer entlassen oder inhaftiert. Dimitri Kudelevich wurde beispielsweise als Anführer des Streikkomitees der Minenarbeiter vom KGB (Inlandsgeheimdienst Belarus) verhaftet, konnte aber über das Fenster seiner Zelle wieder fliehen. Als weiteres Mittel der Destabilisierung der Proteste setzte die Regierung Demonstranten ein, welche die Streikende mit ihren Pro-Lukaschenko Auftritten provozieren sollten. Die Anarchist:innen in Belarus begriffen vor allem die politische Stärke der Arbeiterschaft in den ersten Wochen der Proteste und versuchten diese solidarisch zu unterstützen. Schnell wurde jedoch klar, dass vor allem der dezentrale Organisationsansatz den Nachteil brachte, dass eine landesweite Koordinierung schwer viel. Besonders da das Regime kritische Medien blockierte, das Internet abschaltete und Positionen in Betrieben mit regierungstreuen Anhängern besetzte. Besonders hervorgehoben wurde durch Anarchist:innen aber der Vorteil der losen Organisierung, denn die Streikenden handelten nicht im Interesse von Oppositionspolitikern, sondern nur aus eigenen Antrieb heraus. Jedoch würde es Jahre dauern eine gut organisierte und autonome Arbeiterschaft in einem Land wie Belarus zu organisieren.
Die weibliche Revolution?
Das Bild der Frauenrevolution gegen Lukaschenko ist ein international gern gesehenes Bild. Frauenmärsche waren zum Teil die größten Proteste, welche anfänglich von der Polizei nicht mit aller Härte angegangen wurden. Auch das Bild des alten Mannes Lukaschenko gegen ein junges weibliches Trio bringt vor allem gute Schlagzeilen in der westlichen Presse. Doch den Grund für den erstmaligen Erfolg der Frauenmärsche in den größeren Städten bildete laut der belarussischen Anarchist:innen vor allem der Sexismus des patriarchalen Regimes. Vor allem die Frauenmärsche wurden nicht als Bedrohung durch die Polizei gesehen, die Anliegen der Frauen nicht ernst genommen, während die restlichen Proteste bereits mit aller Härte angegriffen wurden. Die Situation kippte als diese Proteste an Bedeutung gewannen, weshalb die Frauenmärsche ebenfalls mittels Repression zerschlagen wurden.
Repräsentative Demokratie als anarchistische Perspektive?
Alle Gruppen haben jedoch die gemeinsamen Forderungen nach Freiheit für die politischen Gefangenen und das gemeinsame Feindbild der Polizei bzw. des Regimes. Ebenso beteiligen sich die Anarchist:innen an den Protesten, wenn sie auch selbst eingestehen, dass ihr Handlungsspielraum beschränkt ist. Ihr primäres Ziel ist es, die Selbstorganisierung voranzutreiben sie stellen z.B. in Minsk eine kostenlose Druckerei oder bieten politisch Verfolgten Unterstützung beim Untertauchen und organisieren anonyme Wohnungen. Ihnen geht es vor alle darum, nicht identitär aufzutreten, sondern über verschiedene Wege ihre Ideen in die Proteste zu streuen. Vor allem der Bruch mit dem Mythos des friedlichen Protestes ist ihnen ein Anliegen, denn sie wissen, dass Lukaschenko nicht ohne ein Blutvergießen verschwinden wird. Den Spagat zwischen verschiedenen Protest-Taktiken für alle hinzubekommen stellt dabei eine wesentliche Herausforderung dar, auch um Spaltungen zu verhindern. Die Anarchist:innen erkennen vor allem, dass eine parlamentarische Demokratie möglich ist, für alles darüber hinaus gebe es nicht genügend Einfluss der anarchistischen Kräfte im Land. Die Forderung nach einer repräsentativen Demokratie gilt in Belarus als radikale Forderung und bildet die Grundlage für Anarchist:innen einen Neustart zu wagen. Denn erst müsse Lukaschenko verschwinden, dann könne man über eine weitere politische Agenda diskutieren. Damit sind die Anarchist:innen im wesentlichen d‘accord mit der restlichen Protestbewegung im Land, deren einzige Forderung ist, dass faschistische Regime von Lukaschenko abzusetzen und so einen Neustart zu ermöglichen. Das anarchistische Kollektiv „Pramen“ geht jedoch weiter in seiner Analyse: „Wir sollten nicht vergessen, dass Anarchist:innen nicht nur gegen diese Präsidentschaftswahlen sind, sondern gegen jede:n Präsident:in im Allgemeinen. Die belarussische Bevölkerung weiß schon lange, dass Macht jede:n korrumpiert. Lukaschenko könnte durch eine:n Oppositionspolitiker:in ersetzt werden, welche:r die Macht im Land behält und die Repression gegen seine eigene Bevölkerung fortsetzt. Wir müssen uns erheben, nicht um einen neue:n Präsident:in zu bekommen, sondern um ohne Präsident:innen zu leben. Die Dezentralisierung der Macht sollte ein Schlüsselfaktor für den Übergang von der Diktatur zu einer freien Gesellschaft sein.“