Ein Leser*innenbrief kritisiert zwei Artikel in der Lirabelle 22 und 23 und einen paternalistischen Blick auf Geflüchtete, der nicht nur dort zum Ausdruck kommt.
Voll interessant, gleich zwei Texte zu der Vergewaltigung durch Bullen und das Verfahren dazu mit Bezug auf Rassismus, Sexismus und Klassismus! Yeah! Mit diesen Gedanken habe ich angefangen, den Text und das Interview dazu in der Herbst-Lirabelle zu lesen. Beim Lesen bin ich dann aber ein paar mal fast aus den Latschen gekippt und habe mich gefragt, ob hier Linke einen Text schreiben oder Leute eine Eins für eine „ausgewogene“ Berichterstattung in der Lokalpresse kassieren wollen. Wir regen uns zu Recht auf, wenn die Mainstream-Presse Aussagen von Bullen oder Nazis wiedergibt und sich damit auf deren Gewaltverhältnisse ins Gegenteil verkehrenden haarsträubenden Geschichten einlässt. Und dann muss ich in dem Interview lesen, wie die interviewte Person in einem Vergewaltigungsfall sagt, dass die Unschuldsvermutung ein sehr hohes Gut sei und damit die Vergewaltigung der Frau of colour durch weiße Bullen in Frage stellt. Herzlichen Glückwunsch Leute – voll in der Mitte der Gesellschaft angekommen! Wenn sogar Weiße, die sich als links verstehen das so schreiben, da würde ich auch abhauen. Und ich verstehe noch besser, warum menschen of colour* nicht zu den Bullen (aber auch sehr selten zu den weißen linken) gehen, wenn sie Gewalt erleben.
Wie manche weiße Linke auf Migrant_innen und Menschen of colour* schauen, ist auch sehr gut an folgendem Beispiel aus den letzten Monaten zu erkennen:
Es war bestimmt gut gemeint einen mehrsprachigen Flyer zu machen und zu verteilen, der Migrant_innen über die Nazi Demo (am 03.10.2020) am Roten Berg informiert und zur Vorsicht aufruft. Und ein Hinweis zur Opferberatung ist auch gleich noch mit dabei. Wirklich an alles gedacht…!? Oder doch nicht? Mensch könnte darüber nachdenken, warum die Migrant_innen nicht zu den Gegenaktionen eingeladen wurden. Die Information dazu war aber sowieso nur einem deutschsprachigen Twitter-Publikum vorbehalten. Ein Hinweis auf dem Flyer fehlt völlig. Auch wo die angesprochenen Menschen sich (weiter) informieren, aktiv werden können, ist nicht vermerkt. Sie kommen nur als (potenzielle) Opfer von Nazis vor. Das Bild von rein passiven, zu beschützenden, weil unselbständigen Migrant_innen und Geflüchteten ist nicht nur haarstreubend falsch sondern leider auch rassistisch. Und jetzt bitte nicht heulen, sondern erst mal sacken lassen und dann Gehirnzellen aktivieren. Danke!
Und noch eine Anmerkung habe ich zu dem Text „Bücher machen deinen Kopf kaputt“ in der Sommer-Lirabelle. Eine sexuell aktive Frau* erzählt ihre sexuellen Geschichten, Begegnungen und Beziehungen. Erst mal mutig und außergewöhnlich in so einem linken eher theorielastigen Szeneblättchen. Das stärkt das Selbstbewußtsein – auch das anderer Frauen*. Da ist doch nichts gegen einzuwenden. Das ist doch in jedem Fall zu unterstützen, oder? Ich dachte das – jedenfalls bis ich auf ein paar sehr unschöne Details in besagtem Text aufmerksam gemacht wurde, die ich mit euch teilen will. Wenn frau* sich selbst als rational, aktiv und so weiter darstellt, lohnt es sich doch zu schauen auf wessen Kosten sie sich abgrenzt, von dem emotionalen, kindlichen, etwas naiven Wesen, das frau* normalerweise zugeschrieben wird. Wenn dieser Part dann einem Mann of colour* zugeschrieben wird, ist die offenbar weiß-deutsche Erzählerin plötzlich die distanzierte, rationale, eben (in unserer Gesellschaft) Überlegene. Das ist sicher mal eine andere Erfahrung, aber der emanzipatorische Wert ist leider gleich Null (oder darunter?) wenn frau* sich dafür rassistischer Stereotype eines naiven, emotionalen und wenig(er) modernen Mann of colour* beziehen muss, welcher in der Beziehung selbstverständlich der Unterlegene ist. Das ist auf jeden Fall zu Überdenken, von mir aus ganz rational ;).