In Anschluss an den Beitrag von Karl Meyerbeer und Minima Morali in Ausgabe #23 „Empörung ist keine Subversion“, der bereits berechtigte Kritik an Empörung und Moral der Antifa-Demo am 1. August 2020 von „Dissens“ formulierte, hat Fabian weiter beobachtet und entdeckt, dass der Aktionismus des linksradikalen Bündnisses AMMSM einige inhaltliche Leerstellen aufweist. Auf die Fallstricke von Identitätspolitik und Empörung soll das Bündnis ebenfalls hingewiesen werden.
Das Jahr 2020 war in Erfurt vor allem im Sommer durch schwere Neonaziübergriffe geprägt. Im Juli 2020 griff eine Gruppe zum Teil vermummter Neonazis junge Erwachsene vor der Thüringer Staatskanzlei an. Mindestens fünf Personen wurden durch die Angreifer schwer verletzt. Nur knapp zwei Wochen später griffen lokale Neonazis vor ihrem damaligen Neonazizentrum im Stadtteil Herrenberg drei junge Männer an. Die Neonazis attackierten die Personen aus rassistischer Motivation heraus. Einer der Männer, welche aus Guinea nach Deutschland geflüchtet sind, schwebte zeitweise in Lebensgefahr. Wenn von einem Motiv die Rede ist, sprechen die Ermittlungsbehörden lediglich von „fremdenfeindlichen Motiven“.
Es waren Antifaschist:innen, welche sich im Juli und August 2020 auf die Straße begaben um öffentlich auf die Tathintergründe der brutalen Angriffe hinzuweisen, welche nur die Spitze des Eisberges waren. Rechte Gewalt hat in Erfurt Kontinuität. Aber auch bundesweit wurde Deutschland wieder vermehrt der Schauplatz von offensichtlichem neonazistischen Terror. Am 2. Juni 2019 der Mord an Walter Lübcke, der antisemitische Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019 und am 19. Februar 2020 die rassistischen Morde von Hanau. Schon kurz nach dem rechten Angriff vor der Thüringer Staatskanzlei im Juli 2020 kritisierte die Erfurter Antifa-Gruppe „Dissens“ den Umgang der Medien und Behörden damit. Da nach dem Überfall vor der Staatskanzlei alle beteiligten Behörden erst nur über eine „Massenschlägerei“ sprachen, wurde dieses Narrativ zum Teil bis heute in der Presse übernommen. Dagegen wurde der Versuch unternommen, zumindest eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Der rassistische Angriff im Stadtteil Herrenberg am Vorabend der Solidaritäts-Demonstration am 1. August 2020 sorgte für eine eher unübliche mediale Reichweite der Demonstration.
Es zeigt sich vor allem in Thüringen, dass Straftaten von Neonazis nur unzureichend verfolgt werden. Der Prozess gegen zwei Neonazis, welche aus einer großen Gruppe heraus 2016 das AJZ in Erfurt angriffen, endete mit einer Einstellung und einem Freispruch. Wie mittlerweile bekannt ist, ist einer der Angeklagten auch Hauptverdächtiger vom Überfall auf die Staatskanzlei.
Als die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen zum Überfall vor der Staatskanzlei abschloss und verkündete, dass kein politisches Tatmotiv zu erkennen sei, rückte der Vorfall wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. MDR-Recherchen bestätigten eine Woche später, was Antifaschist:innen und die Initiative „Kollektiv56 aufdecken!“ schon lange wussten. Die Täter waren organisierte und sehr wohl bekannte Neonazis. Dieser Missstand treibt Antifaschist:innen in Erfurt um und so organisierte das Bündnis „Alles muss man selber machen“ eine Kundgebung am 30. Januar 2021 unter dem Motto „Unsere Solidarität gegen ihr Scheißsystem!“.
Wir gegen die
Das Motto der Kundgebung impliziert bereits eben jene Rhetorik der Abgrenzung zum nicht näher beschriebenen System. Aber mit viel Wohlwollen lässt sich darin auch eine Stoßrichtung erkennen, die zumindest versucht den Schritt weiter zu gehen, als es die bürgerliche Zivilgesellschaft tut. Denn es besagt auch, da sind sich die Autor:innen des Aufrufs sicher, dass neonazistische Gewalt und Kapitalismus irgendwie zusammenhängen. Eine ausführliche Antwort darauf bleibt man leider schuldig. Stattdessen stellt man halbwahre Behauptungen auf. So ist im Aufruf die Rede davon: „Der Staat und seine Behörden sind weder in der Lage, noch gewillt sich Nazis aktiv entgegenzustellen.“ Dabei ist der Staat dazu sehr wohl in der Lage, wie die kurz vorher verhandelte Verurteilung des Mörders von Walter Lübcke zeigt. Die Behauptung ist eben nur die halbe Wahrheit, denn der Staat greift genau dann gegen Neonazis durch, wenn diese den Staat oder seine Interessen angreifen. So kommt es dann, dass der Täter für den Mord an Lübcke verurteilt, aber für den Mordversuch an dem Geflüchteten Ahmed I. freigesprochen wird, während sich die bürgerliche Presse für diesen Fall zugleich fast gar nicht interessiert. Insbesondere seit dem Aufstand der Anständigen Anfang der 2000er ist „Antifaschismus“ in Deutschland nationale Aufgabe geworden. Sehr wohl in einem Verständnis von „Antifa“, welches nicht auf eine Kritik oder gar einen Umsturz des Bestehenden zielt. Es geht viel mehr um eine nachhaltige Lobbyarbeit für ein braves „Weiter so!“, dazu braucht es den Aufbau und die Festigung einer Zivilgesellschaft mittels Demokratieförderung, staatlichen „Antifa“-Institutionen, wie beispielsweise MOBIT oder anderen Projekten. Viele dieser institutionalisierten Demokratieprojekte sind vermehrt zu Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für sonst beruflich gescheiterte Linksradikale geworden. Dabei ist genau das eine gute Zustandsbeschreibung, wie es um die Gesellschaftskritik der radikalen Linken in Thüringen bestellt ist. Es fehlt an eben jener, nicht an Aktionismus getränkt von Empörung, Moral und Identität.
Menschliche Unmenschlichkeit muss man selber machen
Auch AMMSM schafft es leider nicht, sich anders als mit einfachen Phrasen vom Staatsantifaschismus abzugrenzen. So heißt es weiter im Aufruf: „Schon längst haben wir keine Erwartungen mehr an ein kapitalistisches System, das jeden Tag Menschen abschiebt, das Abtreibungen illegalisiert und repressiv gegen Antifaschist*innen vorgeht.“ Die Beschreibung einzelner Brüche innerhalb der Totalität der kapitalistischen Gesellschaft ist noch keine Kritik der Gesellschaft und das wiederum ist ein grundlegender Punkt, über den es das Bündnis bislang noch nicht geschafft hat hinauszugehen. Zwar wird der Kapitalismus immer wieder als zu überwindendes Übel begriffen, aber die Forderungen unterscheiden sich meist nur in ihrer Verbalradikalität von denen einer sozialdemokratischen Parteijugend. So kommt es dann eben auch, dass man Abschiebungen als „unmenschlich“ kritisieren kann, aber nicht versteht, dass diese Gesellschaft eine Ideologie reproduziert, die ihre eigene Gewalt und Menschenfeindlichkeit zu rechtfertigen weiß. Demnach stellt es in dieser Gesellschaft keinen Widerspruch dar, sich selbst als menschlich zu begreifen, aber Menschen abzuschieben und nach ihrer Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Der ständige Appell, dass dies besonders „unmenschlich“ und zu verurteilen sei, prallt genau an diesem Punkt ab. Ebenso verhält es sich bei der Argumentation, dieses „System“ sei zutiefst rassistisch, antisemitisch, sexistisch und queerfeindlich. Was wie eine Zustandsbeschreibung der islamischen Republik Iran klingt, meint allerdings die deutsche Gesellschaft. Mal abgesehen davon, dass die westlichen Länder im Vergleich die liberalsten Gesetzgebungen für Queer- und Trans-Personen haben und sich Antisemitismus in Deutschland verdeckter artikuliert, erweisen sich diese verbalen Übertreibungen schnell als zu unkonkret. Sie sind eben keine genaue Zustandsbeschreibung von patriarchaler Unterdrückung, antisemitischer Ideologie der Deutschen oder rassistischer Politik, sondern Zuspitzungen. Genauso einfach, wie sich damit eine moralische Abgrenzung schaffen lässt, so einfach sind sie zu widerlegen oder zumindest in Zweifel zu ziehen, geht man ins Detail. Das Fortbestehen dieser Unterdrückungsmechanismen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft wird nicht erklärt, sondern mittels möglichst großer empörter Verbalradikalität zwar genannt, aber nicht verstanden.
Wer sich der Überwindung des Kapitalismus verschreibt, sollte sich auch dessen Kritik annehmen. Brüche erkennen kann ein erster Schritt sein, bedarf aber den nächsten der radikalen Gesellschaftskritik zu gehen. Auch wenn es in einem breiten Bündnis wohl sehr viel mehr Kraft und Zeit kostet, als es für einen Lirabelle-Autoren im eigenen Elfenbeinturm der Fall ist.
Wir wollen (keine) Bullenschweine
Die Thematisierung des Umgangs der Justiz mit der brutalen Neonazigewalt in den letzten Monaten macht durchaus wütend. Ein weiteres zentrales Anliegen der Kundgebung war es, dieser Wut Ausdruck zu verleihen und „angepisst“ zu sein. Ganz und gar empowernd sollte die Kundgebung für mehr antifaschistische Selbstorganisierung eintreten. Doch die Einsicht in die Organisierung besteht eben nicht aus wütender Ohnmacht oder dem Bedürfnis mal allen Emotionen freien Lauf zu lassen. Es ist keine Selbstermächtigung, auf die das „Empowern“ wohl abzielen sollte. Viel mehr sollte sie darauf fokussiert sein, Strukturen so aufzubauen und zu stärken, dass der politische Gegner gar nicht erst auf den Gedanken kommt uns anzugreifen.
Generell stellt sich die Frage, inwiefern sich das Ziel der Selbstorganisierung damit versteht, dass in den Redebeiträgen fast durchweg kritisiert wird, dass der Staat nicht seine eigentliche Aufgabe übernimmt. Da man auf der einen Seite nicht müde wird zu betonen, man habe keine Erwartungen an den Staat, aber ständig kritisiert, dass dieser seine Aufgaben nicht erfülle, bleibt die Frage, wo die beteiligten Akteur:innen denn jetzt genau hinwollen. Diese Frage stellt sich auch, wenn die Gruppe „Freies Kollektiv Kaffeetrichter“ zu dieser Kundgebung gegen das „Scheißsystem“ mit aufruft, aber dann Ende Februar skandalisiert, dass die Polizei ihre Gegenkundgebung zum Aufmarsch von Corona-Leugner:innen nicht schützen kann und sie dann die Kundgebung absagen.
Antifa heißt…
Antifaschistische Organisierung kann gelingen, allerdings wird sie in ihrer Widersprüchlichkeit verharren, wenn sie sich nicht einer radikalen Kritik der Gesellschaft annimmt. Diese funktioniert nicht durch emotionale Empörung. Es bedarf des Verständnisses, dass die kapitalistischen Verhältnisse die Grundlage bilden, dass ein Kippen in eine wirklich zutiefst antisemitische und rassistische Barbarei möglich ist. Die Möglichkeit der Barbarei bietet die Grundlage für neonazistische Gewalt. Sie ist das Mittel, die faschistische Ideologie durchzusetzen. Straffreiheit bildet für die Schläger nur einen netten Anreiz nochmal zu zulangen.
Da, wo Antifaschist:innen für Recht und Gesetz Politik machen, gilt es entgegen zuhalten, dass Staat und Recht nicht dazu da sind, die bestehenden Verhältnisse zu verändern, sondern sie sind immer nur Ausdruck dessen und der Verwaltung des kapitalistischen Elends.
Antifaschistische Selbstorganisierung bedarf Selbstaufklärung und Anti-Politik, wenn sie wirklich auf Überwindung der objektiv-gesellschaftlichen Voraussetzungen für Rassismus und Antisemitismus zielen und nicht Teil eines einfach besser verwalteten „Weiter so!“ sein will. In diesem Sinne heißt Antifa vielleicht auch, dass die Hoffnung auf eine solche Einsicht zuletzt stirbt.
Einen guten Ansatz bietet beispielsweise die Reihe „Was heißt Antifa?“, erschienen in der Alerta Südthüringen.