Mit Perspektive aus Jena skizziert die AG-Ü30 die jüngeren Entwicklungen in Bezug auf die Veröffentlichungen von Outcalls zu Erfahrungen sexualisierter Gewalt innerhalb der linken Szene in Thüringen. Ein Beitrag dazu, was zu tun gewesen wäre, was tatsächlich geschah und was uneingelöst bleibt (Stand: Ende Februar 2021).
Die AG-Ü30 sind eine Hand voll über 30-jähriger Genoss_innen aus Jena, die sich etwa eine Woche nach der Veröffentlichung des Jenaer Outcalls zusammen fanden, um die Betroffene zu unterstützen und ihren Beitrag zu einem politischen Aufarbeitungsprozess – zunächst in Jena, durch den zweiten Outcall auch in Saalfeld – zu leisten. Mail: ag-ue30@systemli.org
Wer vor einem halben Jahr einen Outcall las, der via Instagram veröffentlicht wurde, dem war deutlich: Die in ihm geschilderten Übergriffe – nicht nur die Vergewaltigung, sondern auch andere übergriffige und gewalttätige Handlungen des Täters – erforderten eine Reaktion der Jenaer und Thüringer radikalen Linken. Nicht nur bewegten sich die Betroffene und der Täter in der ‚Szene‘, sondern mehrere der geschilderten Vorfälle fanden auf Szene-Veranstaltungen statt und der Täter war bis zur Veröffentlichung anerkannter Teil der lokalen und regionalen antifaschistischen Strukturen.
Die Auseinandersetzung mit sexueller und sexualisierter Gewalt innerhalb der Szene stand schon vorher auf der Tagesordnung. Allein im letzten Jahr wurden Fälle in Erfurt1 und Gotha2 öffentlich; in Jena zumindest szeneöffentlich als Gerüchte kursierendes Wissens um sexistisches und übergriffiges Verhalten in politischen Gruppen ebenso wie eine lokale Debatte um Übergriffigkeit in Jenaer Clubs.3 Eine dezidierte kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem Sexismus und Übergriffigkeit linker Männer gab es in Jena aber nicht – auch von uns nicht.
Zwei Wochen später, und angestoßen vom Jenaer Outcall, meldeten sich auch eine Reihe betroffener Frauen aus Saalfeld zu Wort, die übergriffiges und teils gewalttätiges Verhalten durch Szene-Männer erlebt haben. Er machte erneut deutlich, dass es sich bei den Übergriffen um ein politisches Problem der radikalen Linken und insbesondere der Antifa-Szene handelte. In den Outcalls forderten die Betroffenen auch eine politische Aufarbeitung ein, der Taten und der patriarchalen Machtstrukturen in der Szene, aber auch der sexistischen Kultur in einer Szene, die teils aktiv wegschaute, nicht eingriff und vom übergriffigen Verhalten der Täter wusste.
Die ersten Wochen nach den Outcalls schienen darauf hinzudeuten, dass diese Aufarbeitung in Jena in die Gänge kam. Unabhängig von der Betroffenen wurde zu einer FLINT*-Demo ‚gegen patriarchale Gewalt‘ aufgerufen. Ihre Organisator_innen forderten Männer dazu auf, parallel zur Demo ein Reflexionstreffen zu organisieren. Der fantifa*-Tresen veranstaltete einen Thementresen zu sexualisierter Gewalt, die Falken organisierten eine Veranstaltungsreihe und im Anarchistischen Infoblatt wurde gegen Ende des Jahres eine Reihe von Diskussionsartikeln zum Thema veröffentlicht.
Auch wir nahmen unsere Arbeit auf und planten, uns bald überlegen zu können, wie wir an der politischen Aufarbeitung teilnehmen können. Vorher wollten wir so rasch wie möglich externe Unterstützung für die Betroffenen organisieren. Die Realität enthüllte diese Pläne als unberechtigten Optimismus. In Thüringen fehlten weitestgehend die politischen Zusammenhänge, die Unterstützungsarbeit hätten leisten können; darüber hinaus erschwerte die politisch-private Vernetzung der Täter es, regional Personen zu finden, die genug Distanz zu den Vorfällen hatten. Insgesamt war und ist in der Szene das Wissen darum, wie Unterstützungsarbeit aussehen könnte, deutlich geringer als wir es erwarteten oder es noch vor 10 oder 15 Jahren der Fall gewesen ist – und so fanden wir uns unerwartet lange und mühsam mit dem Prozess der Organisierung von Unterstützung beschäftigt.
Die Täter taten währenddessen, was Täter tun: Sie leugneten, verharmlosten, versuchten teils Unterstützung für ‚ihre Sicht der Dinge‘ zu organisieren. Zumindest in Saalfeld gelang und gelingt es ihnen in gewissem Grad, so dass man für die Pandemielage fast dankbar sein muss, da sie Veranstaltungen unmöglich macht. Veranstaltungen – Parties, Tresen, Demos und ähnliche – auf denen eine weiter andauernde Täterpräsenz den faktischen Ausschluss der Betroffenen in Saalfeld bedeuten würde.
Der Teil des Umfeldes der Täter in Jena und Saalfeld, der sich zumindest öffentlich von ihnen distanziert, schweigt. Teils schwiegen sie, um die Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Rolle beim Wegschauen und Normalisieren zu vermeiden, teils um die eigene sexistische Szenekultur nicht zu reflektieren. Teils schwiegen sie aber wohl auch aus purer Hilflosigkeit, wie eine Auseinandersetzung mit dieser Kultur und dem eigenen Verhalten möglich ist. Auch hier zeigt sich, dass die Auseinandersetzung mit Sexismus und Männlichkeit, die vor der Veröffentlichung der Outcalls nicht vorhanden war, auch nach ihr nicht auf einmal von alleine einsetzt.
Diese fehlende Auseinandersetzung prägte auch die Reaktion der restlichen radikalen Linken: Sie fand nicht oder nicht erkennbar statt. Zwar gab es einzelne öffentliche solidarische Statements, vom veto und dissens (beide Erfurt), vom Haskala und eher halbherzig vom Klubhaus e.V. (beide Saalfeld) sowie eine anonyme Stellungnahme aus Jena, dazu einige interne Solidaritätserklärungen, die aber nicht unbedingt bedeuteten, dass tatsächlich solidarisch gehandelt wurde. Der Großteil der Szene aber blieb stumm, sowohl in Jena und Saalfeld, als auch in Weimar oder Eisenach, wo die Täter durchaus verkehrten und politische Anknüpfungspunkte haben. Es gab private Positionierungen und sicherlich Gespräche am Küchentisch, aber politisch wurde diese Beschäftigung mit den Outcalls fast nie. Und die politische Aktivität in Jena, die durch die Demo und die Männergruppe begonnen war, reduzierte sich schnell auf Telegram-Aktivität, zunehmend kleinere Treffen der Männergruppe und schriftlicher Kritik an dieser.4
Die offene Telegram-Gruppe, die von ihren Organisatoren euphemistisch und in der eigenen Überschätzung ‚Antipatriarchale Männergruppe‘ genannt wurde, war ein hilfloser Ausdruck dieser fehlenden politischen Aufarbeitung. Sie bestand weitestgehend aus einem schweigenden und anonymen Publikum, das sowohl von der Orga-Gruppe als auch ihren Kritikerinnen fälschlicherweise als in einer Gruppe organisierte Männer bezeichnet wurde. Darüber hinaus gab es Veranstaltungsankündigungen, unausgereifte Redebeiträge Einzelner und Kritik an diesen sowie die Protokolle der ersten Treffen. Wenn überhaupt, dann war sie für viele Männer in der Szene Jenas ein Bezugspunkt, der es ihnen erlaubte, auf Impulse aus der Gruppe zu warten, bevor sie ihre Aufarbeitung beginnen können.
Die Kritik an dieser ‚Gruppe‘, wie sie die Falken Jena, aber auch einzelne Akteure via Telegram übten, war meist getragen von dem Bedürfnis, sexistische Gewalt und männliches Dominanzverhalten mit Polemik und entlarvender Schärfe zu begegnen. Sie konnte so ihrerseits nicht die Lücke schließen, die die fehlende Auseinandersetzung mit Sexismus und Männlichkeit offenlässt. Aus der Polemik lernen die Szene-Männer wohl nur, dass das Sichtbarmachen ihrer Hilflosigkeit in der Auseinandersetzung als Beleg für ihren Sexismus herangezogen wird und als politische Praxis von ihnen „Löscht euch!“5 gefordert wird.
Sechs Monate später ist also nicht viel erreicht: Es gibt gewisse Unterstützungsstrukturen für die Betroffenen in Saalfeld und Jena, einzelne Gruppen und Orte haben ihre Solidarität erklärt, und ansonsten wird gewartet – entweder darauf, dass das unleidliche Thema von allein wieder verschwindet und man(n) wieder wie zuvor weiter machen kann, oder darauf, dass irgendwer anders die politische Aufarbeitung endlich beginnt. Die Tatsache, dass die linke Szene hier (und anderswo) ein grundsätzliches Problem hat, hat sie bisher scheinbar nicht begriffen, eindeutig aber nicht zu ihrer Arbeitsgrundlage gemacht. Bis sie das aber tut, hat ihr Anspruch für Emanzipation, Befreiung, das gute Leben (oder wie auch immer es jeweils genannt wird) einzustehen, seine Berechtigung verloren. Ein halbes Jahr nach den Outcalls ist es allerhöchste Zeit diese Berechtigung zurück zu erlangen und die politische Aufarbeitung zu beginnen.
2
https://de.indymedia.org/node/66772
4
Mittlerweile ist diese Gruppe, die zuletzt aus einer Handvoll Männern bestand, aufgelöst, auch weil sie nicht in der Lage war, die übergriffigen Männer in ihren eigenen Orga-Strukturen sowie ihre eigenen politischen Ansprüche politisch zu bearbeiten. Die Treffen, von denen das erste immerhin ca. 30 Männer erreichte, scheiterten dagegen eher an der Pandemielage und der damit verbundenen Unmöglichkeit von Präsenztreffen.
5
So in der Telegram-Gruppe schon am 4.12.2020.