„Von nichts gewuszt, ‘ne schlechte Tarnung“

Die AG-Ü30 wirft ein Jahr nach dem Outcall aus Jena Schlaglichter darauf, was aus den Reaktionen der lokalen linken Szene darauf geworden ist.

Nach dem Fazit unseres letzten Artikels bleibt nicht viel Anderes zu sagen: Der Selbstanspruch, für die Emanzipation des Menschen zu kämpfen, den die radikale Linke behauptet, wird konterkariert durch das mangelhafte Aufarbeiten der Vorfälle sexistischen Verhaltens und sexualisierter Gewalt gegen die eigenen Genoss*innen. Um bestehende Lücken der Aufarbeitung zu verdeutlichen, ziehen wir zum ersten Jahrestag des Jenaer Outcalls eine Zwischenbilanz.
Durch den Outcall direkt angesprochen musste sich das unmittelbare Umfeld des Täters fühlen. Schließlich waren sie es, die unmittelbar auf den Täter hätten einwirken können, sein Fehlverhalten bemerken und kommentieren können. Und zugleich waren sie es, die seine Szenezugehörigkeit stützten und mit ihm Politik machten. Nur um dies deutlich zu machen: Wir gehen davon aus, dass der Umgang des Täters mit Frauen* zumindest im Allgemeinen in seinem Freundeskreis bekannt war. Nachdem Ende August 2020 online öffentlich wurde, was der ehemalige Genosse aus Jena getan hat, gab es aus dem Freundeskreis des Täters heraus wenige Tage nach dem Outcall die Beteuerung, man werde Hilfe in Anspruch nehmen und miteinander die eigene Verwicklung in die Geschehnisse aufarbeiten. Davon war bis auf ein Statement in einer Telegram-Gruppe im Dezember 2020, indem diffus bekundet wurde, es finde eine Aufarbeitung statt, nie wieder etwas zu hören. Darüber hinaus konnte man als direkte Reaktion Gesprächen mit Genossen aus dem Täterumfeld auf der Straße entnehmen, dass man ja schon länger nichts mehr mit dem Täter zu tun gehabt habe. Der Grund dafür lag allerdings nicht in seinem Frauen*-feindlichen Verhalten, sondern daran, dass man ihn für einen „Schwätzer“ hielt. Die politische Trennung vom Täter erfolgte also nicht aufgrund des Outcalls. Die persönliche nur dadurch, dass der Täter nach dem Outcall abtauchte und Jena verließ. Wir sind uns nicht sicher, inwiefern das Täterumfeld sich ihm gegenüber nicht schützend und relativierend verhalten hätte, wäre er in Jena geblieben. Hinter der Distanzierung von dem Ex-Genossen steht nicht zuletzt die Abwehr davon, nun auch an sich selbst arbeiten zu müssen. Denn Täterverhalten ist selten völlig unabhängig von den Umgangsformen seiner männlichen Clique. Gern genommen wird bis heute auch die Ausrede, dass es ja keine Forderungen der betroffenen Person gäbe – was einerseits nicht stimmt und andererseits die Verantwortung wieder zu dem Menschen verschiebt, der es auf sich genommen hat, sein Leid öffentlich zu machen.

Ebenfalls kurz nach dem Outcall war die AG-Ü30 angetreten, um für die betroffene Genoss*in in Jena eine Unterstützungsstruktur aufzubauen (was wir auch wenig später in Saalfeld für die dort Betroffenen versucht haben). Der Aufbau einer solchen Struktur stellte sich als schwieriger und langwieriger heraus, als wir es zunächst angenommen hatten und die politische Arbeit dieser ersten Unterstützungsstruktur in Jena ist gescheitert. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie nicht-öffentlich, als Fazit daraus ist jedoch zu ziehen: es war schlicht zu spät für den Aufbau einer solchen Struktur und sie konnte auch nicht in der personellen Stärke gestellt werden, die den Auswirkungen des Outcalls und der aktiven Verweigerung zur Aufarbeitung der Jenaer Szene Stand gehalten hätte. Das verdeutlicht schmerzhaft, wie notwendig der Aufbau von Strukturen ist, die kontinuierlich im Themenfeld Anti-Sexismus und Betroffenenunterstützung arbeiten.
Das schlechte Gewissen übernehmen momentan (seit Juli 2021) in Jena die Aufgabe, Impulse zu setzen, um den Aufbau solcher Strukturen anzustoßen. Dazu gehört auch der Versuch einer Reaktivierung einer FLINTA*-Vernetzung. Deren politische Vernetzung nach der Demo gegen patriarchale Gewalt im letzten Jahr versandete in einer Telegram-Gruppe, aus der keine weitere sichtbare politische Aktivität hervorging. Die Form einer anonymen Messenger-Gruppe mit mehreren hunderten Mitgliedern ist letztendlich genauso ungeeignet wie ein Mail-Verteiler, um zu streiten, zu diskutieren, sich vertrauen zu lernen und gemeinsam in politische Arbeit einzusteigen. Das Versagen der Jenaer Szene ist aber nicht der FLINTA*-Vernetzung zuzuschreiben: Es sollte nicht an FLINTA* hängen bleiben anti-sexistische Arbeit zu machen. Auch in antifaschistischen Zusammenhängen, in denen Männer mitorganisiert sind, muss sich mit sexistischem Verhalten und sexualisierter Gewalt auseinandergesetzt werden. In diesen Zusammenhängen müssen politische Umgangsformen mit zukünftigen Übergriffen und den dazugehörigen Tätern gefunden werden, gerade aus den eigenen Reihen. Die Outcalls haben die Szene unvorbereitet getroffen und das sollte nicht wieder passieren, sonst werden die von sexistischem Verhalten und sexualisierter Gewalt betroffenen Genoss*innen im Stich gelassen.
In den letzten Wochen und Monaten ist etwas Bewegung in die Jenaer Szene gekommen, nicht zuletzt durch die andauernden Bemühungen von Das schlechte Gewissen, aber auch feministischer Einzelpersonen und Bezugsgruppen, durch öffentliche Kritik den Status quo in Jena anzuprangern. Zugleich ist – in Rückblick auf das letzte Jahr – zu befürchten, dass zu viele Genoss*innen wieder denken werden, dass ein einmaliges Statement schon eine Aufarbeitung, wie sie nötig wäre, sei. Um es noch einmal klar zu machen: Ein Statement der Solidarisierung mit Betroffenen und ein Ausschluss der Zusammenarbeit mit Täterschützer*innen und Strukturen, die ihren eigenen Sexismus nicht aufgearbeitet kriegen, ist nicht einmal der erste Schritt, sondern einfach nur selbstverständlich. Jetzt fängt die Arbeit erst an!


Das schlechte Gewissen ist eine feministische Gruppe aus Jena, deren Seite im Frühling 2021 online ging und dokumentiert, was in der Szene nach den Outcalls aus Jena und Saalfeld passiert ist. Dies tun sie mit Hilfe einer Chronik, in der sie entsprechende Quellen nach Möglichkeit verlinken. Sie veröffentlichten einen kritischen Kommentar zur wenig gelingenden Aufarbeitung und führten in Zusammenarbeit mit der AG-Ü30 eine Veranstaltungsreihe dazu durch, wie man perspektivisch mit sexualisierter Gewalt innerhalb der linksradikalen Szene umgeht. Homepage: https://dasschlechtegewissen.noblogs.org/

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