Im Zuge der öffentlich gewordenen gewalttätigen Übergriffe auf Bewohner:innen des Erstaufnahmelagers Suhl – betroffen insbesondere Familien mit Kindern – durch den Sicherheitsdienst hatte sich im Herbst 2020 das Netzwerk Lager-Watch Thüringen gegründet. Knapp ein Jahr später werfen wir einen Blick auf rassistische Kontinuitäten der bundesdeutschen Lager- und Kontrollmentalität in Thüringen.
Mit dem Slogan „Wir haben keine Wahl, aber eine Stimme!“ zieht im Wahljahr 1998 die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen quer durch Deutschland und zu den Protesten im thüringischen Lager Tambach-Dietharz. Wenige Jahre später bleibt Tambach-Dietharz nach andauerndem Protest und Widerstand für immer geschlossen und wird aufgelöst. Die Dokumentation ihrer Geschichte von Widerstand und Selbstorganisation1 beginnt so:
„Ein afrikanisches Sprichwort besagt, dass die Geschichte der Löwen von deren Jägern erzählt wird. Wenn die Löwen anfangen, ihre Geschichte selbst zu erzählen, wird das etwas ganz anderes sein, als die Geschichte der Jäger.“
Im Wahljahr 2021 wird die Geschichte der Bewohner:innen des Erstaufnahmelagers in Suhl erneut von deren Jägern erzählt. Befeuert von rechten Narrativen und rassistischer Hetze erzählen sie eine Geschichte der Kriminalisierung und der Repression. In der rassistischen Stimmungsmache gegen Bewohner:innen des Erstaufnahmelagers Suhl vereinen sich bekannte Neo-Nazis, Besorgte, Chefredakteur:innen, Oberbürgermeister André Knapp und der für die Unterstützung und Verharmlosung der Hetzjagden auf Migrant:innen in Chemnitz 2018 bekannte Rassist und Antisemit Hans-Georg Maaßen2. Die Stimmen von Schutzsuchenden und Bewohner:innen bleiben ungehört und ungefragt.
Im rechtskonservativen Sprachgebrauch ist nicht selten von einem „Gastrecht“ die Rede, das ebenso schnell genommen wie gegeben werden könne, und auch im Erstaufnahmelager Suhl wird häufig mal mehr, mal weniger verächtlich von „Gästen“ gesprochen. Als „renitent“ verurteilt hätten sie dann ihr „Gastrecht“ verwirkt, als sei die Isolation in bundesdeutschen Lagern ein Akt der Barmherzigkeit. Dass das Erstaufnahmelager Suhl dabei längst kein Hotel ist, wird Bewohner:innen deutlich zu verstehen gegeben. Das Leben und die Bedingungen werden von aktuellen und ehemaligen Insass:innen teilweise als haftähnlich beschrieben. Sicherheitsdienste und Sozialbetreuung sind dabei längst keine Dienstleister zum Schutz und im Interesse von Bewohner:innen, sie sind ihre Schließer:innen im Auftrag der staatlichen Gewalt. Bringen Bewohner:innen Beschwerden an, wird nicht selten gedroht: Widerstand gegen Macht und Kontrolle der Schließer:innen habe Konsequenzen für das Asylverfahren, für die Verteilung aus dem Lager heraus in Kommunen und Städte, und damit letztlich für den Zugang zu grundlegenden Rechten der Versorgung und Sicherheit. Für Schutzsuchende häufig die existenzielle Bedrohung: die Abschiebung in Länder, die sie aus guten Gründen verlassen haben. Die zum Zeitpunkt des Ankommens im Erstaufnahmelager nicht überwundene Angst vor der Abschiebung ist dergestalt Instrument und Knüppel zur Abwehr, Kontrolle und erzwungener Integration in ein rassistisches Wertesystem der Isolation und Ausbeutung.
Wenn Menschen die Einrichtung verlassen, machen die Schließer:innen die städtischen Polizei-Büttel darauf aufmerksam, dass ihre „Schlimmis“ auf dem Weg in die Innenstadt Suhl sind, wie ein anonym gebliebener Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes öffentlich verlautbaren lässt3. Mit der kodifizierten Bezeichnung als „Schlimmis“ werden anhand der Achse rassistischer Zuschreibungen – festgemacht am Herkunftsland – ganze Personengruppen kriminalisiert, vorverurteilt und staatlich verfolgt. Ein herabwürdigender und rassistischer Code, der wohl unter den Schließer:innen, anderen Lager-Mitarbeiter:innen und nach außen hin Verwendung findet. Besuchsrechte gibt es praktisch nicht. Wer die Einrichtung als Insasse betritt, dessen Habseligkeiten werden durchsucht. Noch bis vor kurzem waren illegale Zimmerkontrollen durch den Sicherheitsdienst und Mitarbeiter:innen an der Tagesordnung – bis Briefe und Unterschriftensammlungen von Bewohner:innen und der Druck von Menschenrechtsorganisationen zur Einstellung dieser Praxis geführt haben. Festgeschrieben sind derlei Grundrechtsverletzungen in der Hausordnung, die den Schließer:innen zur Rechtfertigung gereichen und ihnen die augenscheinliche Autorität und das Recht auf die Gewaltsamkeit ihres Handelns, des Überwachen und Strafens erteilt. Geht es jedoch um die Anwendung von Gewalt und Grundrechtseinschränkungen haben Sicherheits- und soziale Dienste in Aufnahmeeinrichtungen nicht mehr Recht und Befugnis als jede:r andere Bewohner:in der selbigen gegenüber ihren Schließer:innen4: Nämlich das sogenannte Jedermansrecht und nicht mehr.
Dabei rechtfertigt die Medienberichterstattung über das Lager in aller Regel vorauseilend oder nachgeholt gewaltvolles Eingreifen von Sicherheitsdiensten und Selbstjustiz derselben oder gar von Anwohner:innen5. Damit trägt sie wesentlich zur Normalisierung rassistischer, psychischer und physischer Gewalt durch staatlich finanzierte Sicherheitsdienste bei und in der Folge zur Vereitelung der Forderung von Bewohner:innen nach Gerechtigkeit. Sie gerät gar zum Aufruf zur Gewalt, legt sie doch den Nährboden für Hass und Hetze, denen sie ganz ungeniert und unreflektiert ihre Plattform und Aufmerksamkeit bietet, während jede Perspektive schutzsuchender Bewohner:innen gänzlich ausgespart bleibt. Dringen die Schließer:innen gewaltsam in die Privatsphäre von Bewohner:innen und Familien ein und beginnen, Väter und gleichsam Mütter vor den Augen weinender Kinder zu vermöbeln, so wird zunächst gegen die „renitenten“ Bewohner:innen und später „in beide Richtungen“ ermittelt6. Darüber steht die Thüringer Presselandschaft, die die Geschichte der Jäger und Täter schreibt.
Mit Blick auf die Situation von Geflüchteten und der Kämpfe der Geflüchteten-Bewegung in Thüringen und Europa sehen wir hier einen, wenn nicht gar den entscheidenden Punkt im Kampf um Gerechtigkeit, der alle Grundrechte des Menschseins umfasst. Von dem Recht auf Gesundheitsversorgung und körperliche Unversehrtheit, über das Recht auf Privatsphäre, das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und Wohnen, bis zum Recht auf Bewegungsfreiheit. Grundrechte, die durch die kontinuierlich andauernden rassifizierenden Politiken staatlicher Gewalt in ihrer Lager- und Kontrollmentalität permanent gebeugt und gebrochen werden.
Aber warum ist das so?, fragten die Freund:innen von The VOICE Refugee Forum und gaben bereits vor über einem Jahrzehnt die Antwort, die bis heute nichts an Aktualität verloren hat: „Diese Lager- und Kontrollmentalität, welche dem Asylsystem in Deutschland zugrunde liegt, hat eine lange, unaufrichtige und brutale Geschichte mit weit reichenden Konsequenzen. Vom Allgemeinen zum Besonderen ist es die Strategie, zu isolieren, zu stigmatisieren und zu verfolgen.“7
Im langen Sommer der Migration 2015 hatten sich Menschen auf den Weg gemacht und sich das Recht auf Bewegungsfreiheit, auf Schutz und Zuflucht in Europa selbst angeeignet. Eine Erfolgsgeschichte des Durchbruchs an den inneren und äußeren Grenzen der Festung Europa. Ein Jahr zuvor wurde das Lager in Suhl eröffnet und im Jahr 2016 das Erstaufnahmelager in Eisenberg nach Protesten und Petitionen aufgrund menschenunwürdiger Bedingungen geschlossen. Im Zuge der zumeist fremdbestimmten Aufnahme und Verteilung in Thüringen wurde das thüringische Lagersystem erneut hochgefahren und massiv ausgebaut. In der Folge der durch rot-rot-grüne Verantwortungsträger:innen verpassten oder ungewollten praktischen Weichenstellung von einer repressiven Lager- und Unterbringungspolitik hin zu einer progressiven Wohnungspolitik, wurde in den folgenden Jahren das thüringische Lagersystem – wie in vielen weiteren Bundesländern auch – stabilisiert und in weiten Teilen zementiert.
Mit den spätestens seit 2016 erfolgten Grenzschließungen, Gesetzesverschärfungen, der Einrichtung des europäischen Hotspot-Systems und der europäischen Abschottungspolitik sind die Zugangszahlen auch in Thüringen massiv zurück gegangen. Fluchtwege bleiben versperrt und Menschen sind gezwungen, sich auf immer tödlichere Wege und Routen zu begeben, um Schutz und Zuflucht zu finden und den EU-finanzierten und gewalttätigen Häschern zu entkommen. Waren zunächst noch viele Ankommende in den Kommunen und Städten auch dezentral in Wohnungen untergebracht, so standen Aufnahmelager plötzlich teilweise leer und sollten gefüllt werden. Die Lager waren über längere Zeiträume angemietet, finanziert oder teilweise langfristig erworben, gebaut oder mal mehr, mal weniger menschenwürdig in Stand gesetzt. In der Konsequenz hatte das Land Thüringen, seine Kommunen und Städte das thüringische Lagersystem auf Dauer gestellt und zugleich öffentlich die vorrangige dezentrale Unterbringung in Wohnungen und die schnelle Umverteilung aus den Erstaufnahmelagern gepredigt.
Immer wieder haben sich Sozialdemokraten, LINKE sowie Grüne in ihrer Regierungsverantwortung hinter vorgehaltener Hand von progressiven und menschenrechtsbasierten Grundsätzen verabschiedet, wo in den letzten Jahren „christliche“ und braune Parteien hingegen längst kein Blatt mehr vor den Mund genommen haben. Der Durchmarsch nach rechts und der rechtskonservative Rollback in den vergangenen Jahren ziehen sich quer durch alle Parteien. Eine Erkenntnis, die immer dann besonders zum Vorschein tritt, wenn wieder einmal erklärt wird, dass die Bedingungen in derlei Einrichtung und Lagern doch gar nicht so schlimm seien und längst nicht zu vergleichen mit den viel schlimmeren Elendslagern und Hotspots an den europäischen Außengrenzen, an denen massive Menschenrechtsverletzung heute gewalttätiger Alltag geworden sind. Dieser Vergleich ändert jedoch wenig an der zugrundeliegenden Struktur und der rassistischen Kontinuität des bundesdeutschen und europäischen Lagersystems, die an den externalisierten Grenzen der Festung Europa als auch in Thüringen zutage tritt.
Einige Grundsätze und vormals progressive Forderungen haben dann auf dem Papier und in Wahlprogrammen noch Bestand, punktuell wird an Versprochenem festgehalten und doch geraten sie allzu oft nur noch zur gebetsmühlenartig vorgebrachten Rechtfertigung ohne Substanz und praktische Konsequenz. Dass die rot-rot-grüne Landesregierung (r2g) aller Beteuerungen zum Trotz an der Kultur von Abschiebungen und Deportation, der bundesdeutschen Lager- und Kontrollmentalität festgehalten hat, daran kann seit dem Ende des Abschiebemoratoriums, mit dem r2g im Jahr 2014 noch angetreten war, spätestens jedoch seit dem Festhalten am Lager-System kein Zweifel mehr bestehen. Längst hat die Thüringer Landesregierung nicht alles getan, um Abschiebungen und Lagerunterbringung zu verhindern, wie vereinzelte Politiker:innen in einschlägigen linken Zeitungen gerne verkünden möchten. Derlei Behauptungen sind mit Blick auf die Abschiebepraxis in Thüringen in den vergangenen 6 Jahren zumindest unverschämt. Zumeist sind progressive Konzepte, wie es beispielsweise in Teilen das „Thüringer Integrationskonzept“8 beschreibt, längst im Taumel des realpolitischen Pragmatismus und der Mehrheitsfindung in Vergessenheit geraten.
Und über aller Realpolitik hängt die Angst vor dem Schlimmeren. Die noch viel schlimmere Barbarei durch eine rechte Mehrheit im Parlament, die droht, bliebe r2g im parlamentarischen und parteipolitischen Spiel um Verantwortung und Aufmerksamkeit ungewählt. Bis die Angst sich einlöst, Vorhänge fallen und die Dämme brechen, befeuern r2g längst genau jene rassistische Praxis und Politiken, zu deren Bekämpfung sie angetreten waren.
Die Antwort auf diese Misere muss der Aufbau und die Unterstützung unabhängiger und selbstorganisierter Strukturen sein, die unvereinnahmt in der Lage sind, sich den parteipolitischen Spielen zu erwehren, die Mauern und Zäune der bundesdeutschen Lager- und Kontrollmentalität in ihrer Fortsetzung des europäischen Grenzregimes anzugreifen und abzuschaffen.
Forderungen & Konsequenzen
Gerechtigkeit!
Wir fordern die Auflösung und Aufkündigung aller Verträge mit dem derzeit im Erstaufnahmelager befindlichen Sicherheitsdienst, die Verurteilung der noch immer im Einsatz befindlichen Täter der Gewaltnacht gegen Bewohner:innen am 29.09.2020 und deren lückenlose Aufklärung!
Gleiche Rechte für alle!
Wir fordern die unverzügliche und umfassende Sicherstellung der materiellen, medizinischen, fachärztlichen und psychosozialen Versorgung von Schutzsuchenden von Anfang an!
Wohnungen statt Lagerunterbringung!
Wir fordern die Abschaffung aller Lagerstrukturen und die vollständige Absage an die bundesdeutsche Lager- und Kontrollmentalität der Ausgrenzung, Isolation und der Unterdrückung!
1 Dokumentation „Das Boot ist voll und ganz gegen Rassismus“: https://www.umbruch-bildarchiv.de/video/boot/cover.html
2 http://zeitreisende.blue-direkt.de/index.php/eae-dicht-machen
5 Der Freies-Wort-Lokalchef erklärte im Juni, es grenze an ein Wunder, dass noch nicht viel Schlimmeres passiert sei, die „Zeit des Aussitzens und Hinhaltens“ sei mit der Petition vorbei und kommentierte: „[…] dass […] bisher nicht noch […] Schlimmeres passiert ist […] ist vor allem den Helfern vor Ort zu verdanken, den Mitarbeitern des ASB, den ehrenamtlichen Betreuern, der bei Auseinandersetzungen zwischen Bewohnergruppen deeskalierenden Einsatztaktik von Wachschutz und Polizei. Aber auch Anwohnern und Gewerbetreibenden rings um das Heim, die trotz manch unschöner Konfrontation mit renitenten Bewohnern und trotz Angst um ihr Eigentum bisher kühlen Kopf bewahren und das Recht eben nicht in die eigenen Hände nehmen. Dass es dabei bleibt, ist im Interesse aller zu wünschen. Selbstverständlich ist es nicht.“ – Georg Vater: „Aussitzen geht nicht mehr“. In: Freies Wort vom 29.06.2021
7 http://thecaravan.org/node/2017
8 https://bimf.thueringen.de/integration/integrationskonzept