Annette Schlemm rezensiert ein Buch über politische Aktionen, die provozieren.
Die „Klima-Kleber“ sind derzeit in aller Munde. Das Buch „Provoziert! Die Bedeutung provokanter Aktionen für den politischen Protest“ von Jörg Bergstedt ziert ein Titelbild, bei dem die auf die Straße geklebten Aktivisten nicht von vorn fotografiert sind, sondern quasi „von innen“ heraus, aus der Sicht eines Teilnehmenden. Im Vorwort wird die bekannte Kapitänin Carola Rackete, die unerlaubt mit einem Schiff voller Geflüchteter in den Hafen der Insel Lampedusa einlief, zitiert: „… die Ordnung, die wir haben, muss gestört werden, weil sonst Menschen sterben.“
Jörg Bergstedt, seit Jahrzehnten Initiator und Begleiter vieler provokativer Proteste, will in diesem Büchlein zur Provokation aufrufen, denn „Medien und Forschung betrachten gesellschaftliche Phänomene erst ab dem Zeitpunkt, ab dem sie eine gewisse Größe beziehungsweise Sichtbarkeit erreichen“. Solch eine Sichtbarkeit ist durch bloßes Demonstrieren nicht mehr zu erreichen, die Aktionen müssen aufregen und damit „die Gleichgültigkeit durchbrechen und die handelnden Eliten im politischen, wirtschaftlichen und medialen Raum zu einer Auseinandersetzung“ zwingen. Dazu muss die Aktion aber „zielgenau, angemessen und vermittlungsstark“ sein. In Hinsicht auf die Vermittlungsstärke müssen deshalb die Klebeaktionen der „letzten Generation“ in Museen leider kritisiert werden: „Aktion mit hoher Presseaufmerksamkeit, aber ohne jegliche inhaltliche Aussage – Chance verpasst!“ Der durch die provokante Aktion geschaffene „Erregungskorridor“ muss für die Debatte politischer Positionen und Visionen genutzt werden – so sollten Aktionen, die mit dem Ankleben auf Straßen „Angriff auf die Hauptschlagadern des kapitalistischen Wirtschaftsbetriebs“ sein könnten, möglichst eingebettet sein in umfangreichere Aktionen zur Verkehrswende konkret vor Ort, wie sie Bergstedt aus Gießen schildert.
Die zahmeren Proteste, meist von Nichtregierungsorganisationen geführt, können – wie er erklärt – als „eingebettete Proteste“ keine Wellen schlagen, sondern werden schnell wieder in „ruhiges Fahrwasser“ manövriert. Wenn das Ziel nur im Appellieren, Warnen oder Beraten liegt, gibt man sich oft zufrieden mit einer Beteiligung „in völlig machtlosen Labergremien“. Provokation dagegen steht für politischen Protest „ohne Rücksichtnahme auf die Akzeptanz bei denen, an die er sich richtet“. Das Wort „Militanz“ bezieht sich für Bergstedt auch nicht auf bloße Gewalt, wie oft unterstellt, sondern beschreibt eine „konfrontative, also kämpferische und streitlustige Orientierung“.
Bei provokanten Aktionen wird entweder eine „spürbare Störung“ oder eine „sehr auffällige Inszenierung“ erzeugt, bei denen gezielt mit Normen und der Normalität gebrochen wird. Wenn die Polizei eingreift? Dann kann dieser Eingriff bestenfalls in die Inszenierung eingebaut werden. Natürlich gehören begleitende Pressearbeit, Flugschriften und Social Media dazu.
Jörg Bergstedt erläutert seine Ansichten mit historischen Beispielen wie dem Sitzenbleiben von Rosa Parks von einem Platz, der für Weiße vorgesehen war, im Jahr 1955. Sie hatte wohl gar nicht vor, eine provokante Aktion zu starten; die große Wirkung entstand vor allem deswegen, weil der Busfahrer die Polizei dazu geholt hatte und damit „das Faß aufgemacht“ hatte. „Es gab und gibt Tausende, die ähnliche Handlungen verantworteten, damit aber weitgehend unbeachtet blieben, weil es keine Verstärkungseffekte gab.“ Ein anderes Beispiel ist die Ohrfeige von Beate Klarsfeld für den damaligen Bundeskanzler Kiesinger, einem ehemaligen NSDAP-Mitglied. Nachdem Presseveröffentlichungen zu dieser Nazivergangenheit dazu kein Interesse weckten, konnte erst diese Aktion „die nötige Aufmerksamkeit für Inhalte“ schaffen, „die unabhängig von der Aktion erarbeitet und präsentiert werden müssen“.
Näher in der Gegenwart liegen Anti-Atom- und Anti-Gentechnikproteste, bei denen auch die Erfahrung gemacht wurde, wie wichtig die „Breite und Vielfalt“ der Protestformen ist, auch wenn es oft ein Ringen „zwischen dogmatisch gewaltfreien Teilen der Bewegung und denen, die militante Aktionen durchführen wollten“ gab. Mit dem „Streckenkonzept“ gelang bei den Anti-Atom-Protesten ein guter Umgang damit, das bedeutet, dass sich entlang der Atomtransportwege unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Konzepten austoben konnten. „Die Mischung machts“ zeigte sich als Erfolgsrezept auch gegen Gentechnik-Labore und -Felder.
Provokante Aktionen sind nicht einfach nur Ausdruck spontaner Empörung. „Niveauvolle Aktionen basieren stets auf einer genauen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, kalkulieren die Reaktionen von Staat, Firmen und möglichen Gegenparteien ein und gestalten aus dem das, was dann den Durchbruch in der öffentlichen Wahrnehmung schuf.“
Vor allem angesichts der Vielfalt der medialen Ablenkungen und der weit verbreiteten politischen Lethargie wurde in den letzten Jahren in allen Kämpfen, die sich gegen Ungerechtigkeit und Naturzerstörung richten, die Erfahrung gemacht: „Ohne die provokante Aktion sind Kampagnen und Proteste regelmäßig erfolglos, weil sie nicht einmal den Level der breiten Wahrnehmung erreichen.“ Hier noch ein Zitat von Carola Rackete: „Der zivile Gehorsam ist das Problem, nicht der zivile Ungehorsam.“ Gleichzeitig geht es nicht nur um irgendeine „Sache“ außerhalb der Beteiligten, denn die Beteiligten sollen sich selbst auch dabei weiterentwickeln.
Damit gibt Jörg Bergstedts Büchlein „Provoziert!“ einerseits denen Antworten, die fragen: „Warum machen die das?“ und andererseits denen, die erst in kürzerer Zeit z.B. in die Klimabewegung eingetreten sind und sich fragen, was sie tun könnten mit der Erfahrung, dass sie bisher so wenig erreichen. Die Antwort an letztere ist: „Provoziert!“
Jörg Bergstedt: Provoziert! Die Beteudung provokanter Aktionen für den politischen Protest. Marburg: Büchner-Verlag 2023.