… oder im Fall der Thüringer Neonazi-Drogenbande „Turonen“: Zwangsprostitution, Crystal Meth und Rechtsrock. Es könnte zwar auch die Schlagzeile eines von vielen Medien sein, die diesen Prozess mal mehr und mal weniger bisher kommentiert haben, dennoch finden sich darin schon wesentliche Aspekte wieder. Seit Sommer 2022 wird gegen die Thüringer Gruppe ein erster Prozess vor dem Landgericht Erfurt geführt. Einmal ist der Prozess im August bereits geplatzt, im Oktober wurde er neu aufgerollt. Aktuell sitzen neun Angeklagte im Gericht, davon sieben weiterhin in Untersuchungshaft. Sie gehören laut Anklage zum Netzwerk der Gruppe „Bruderschaft Thüringen“, bestehend aus „Turonen“ und ihrer Unterstützergruppe „Garde20“. Ein Bericht der Antifaschistischen Prozessbeobachtung.
Wer sind die „Turonen“? – eine kurze Einordnung
Bereits 2015 sollen Neonazis aus dem Landkreis Gotha rund um den Hauptangeklagten Thomas W. aus Ballstädt die „Bruderschaft Thüringen“ gegründet haben. Diese Bruderschaft untergliedert sich dabei in zwei Gruppen und folgt im Aufbau dem Prinzip einer Rockerbande in der organisierten Kriminalität. An der Spitze stehen die elitären „Turonen“, von denen es sieben gibt und aus deren Reihen sich diejenigen rekrutieren, die in der Organisation das Sagen haben. Als die beiden Chefs der Gruppe galten der Hauptangeklagte Thomas W. aus Ballstädt sowie der seit Juni 2022 in Untersuchungshaft sitzende Steffen R. aus Saalfeld. Beide sind seit den 1990er Jahren aktive Neonazikader mit guten Verbindungen zu NSU, Blood&Honour und alles was so in der militanten Neonaziszene der letzten zwei Jahrzehnte vorkam. Beide waren auch treibende Kräfte hinter größeren Rechtsrockevents mit mehreren tausend Teilnehmern in Thüringen und der Schweiz. Ein erträgliches Geschäft für die Gruppe, welche ab 2019 anfing, sich umzuorientieren. Hatte man die Jahre zuvor mit den Rechtsrockfestivals Geld gemacht, begann nun die Planung in das Drogengeschäft einzusteigen und die Struktur der „Bruderschaft Thüringen“ dafür zu nutzen. Ähnlich wie Rockerclubs trugen die Mitglieder Abzeichen auf schwarzen Kutten, sie besaßen am Ende mindestens zwei Clubhäuser in Gotha und Ballstädt und hatten ein eigenes Regelwerk, welches Verhalten, Strafen und auch Mitgliedsbeiträge umfasste. Fast alle nun Angeklagten und weitere Beschuldigte sind jahrelang fester Bestandteil der organisierten Neonaziszene. Dies alles auszuführen würde den Rahmen sprengen. Es sei nur erwähnt, dass sich ein Teil der Angeklagten und ein Großteil unter den Beschuldigten auch aus den Neonazis rekrutiert, welche 2014 in Ballstädt eine Kirmesgesellschaft brutal überfielen. Im vergangenen Jahr (2022) fand dazu der Revisionsprozess ebenfalls am Landgericht Erfurt statt. Am Ende bat man den Neonazis seitens der Justiz Bewährungsdeals an, welche diese dankend annahmen. Einigen von ihnen attestierte die Erfurter Staatsanwaltschaft sogar eine gute soziale Prognose. Eine kurze Nachfrage bei den Kolleg*innen der Staatsanwaltschaft Gera wäre vorher wohl besser gewesen, denn diese führen die Ermittlungen im Verfahren gegen die „Turonen“.
Kryptohandys, Observationen und Testkäufe
Die Anklageverlesung am ersten Prozesstag dauert mehrere Stunden und umfasst mehrere hundert Seiten. Über einen längeren Zeitraum ermittelten das Thüringer LKA und die Staatsanwaltschaft Gera gegen die Gruppe. In Thüringen haben die Gerichte und Ermittlungsbehörden prügelnde und kriminelle Neonazi(gruppen) mit ihren milden Urteilen und Verständnis schon fast zum akzeptierenden Kulturgut des Freistaats erklärt. Frei nach dem Motto ‚So sind sie eben, die Thüringer‘. Dass haben Urteile zu Ballstädt, Fretterode usw. zu genüge gezeigt. Doch bei zwei Dingen scheint man in Thüringen dann doch keinen Spaß zu verstehen. Bei Drogen wie bei den „Turonen“ oder Hooligankämpfe wie bei „Jungsturm“, welche 2020 als kriminelle Vereinigung zu mehrjährigen Haft- und Bewährungsstrafen verurteilt worden sind. Ein wichtiger Aspekt in den Ermittlungen gegen die Gruppe war der internationale Coup gegen das organisierte Verbrechen. Über einige Jahre hatte die Firma „EncroChat“ weltweit verschlüsselte Smartphones gezielt im Bereich der organisierten Kriminalität vertrieben. Über einen eigenen End-to-End verschlüsselten Messenger über eigene Server sowie einige weitere Funktionen wurde den Kund*innen weltweit die Möglichkeit gegeben, geschützt vor Überwachung zu kommunizieren. Anfang 2020 gelang es französischen Behörden jedoch die Server zu infiltrieren und somit fast live mitzulesen. Bei den Anfang 2021 in Thüringen verhafteten Mitgliedern der „Turonen“ wurden ebenfalls mehrere solcher Telefone sichergestellt und entschlüsselt. Sie bilden eine wichtige Grundlage in den Ermittlungen gegen die Gruppe, da hier Absprachen zu Drogendeals durchgeführt worden sind. Dabei sind sie nicht die Einzigen und schon gar nicht unter den Thüringer Neonazis. Im Herbst 2022 fand ein Verfahren vor dem Landgericht Erfurt gegen eine Gruppe Drogen-Dealer aus Erfurt statt. Unter den Angeklagten auch der frühere Hooligan und JN-Aktivist Dominik W. aus Erfurt. In Gera wurde der Neonazi und Bandito Lars B., welcher ebenfalls Geschäfte mit den „Turonen“ gemacht haben soll, zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. In allen Fällen waren die Daten aus den „EnrcoChat“-Ermittlungen entscheidend. Weiterhin führte das Thüringer LKA umfassende Observierungsmaßnahmen durch. Im Prozess wurden bereits mehrere solcher Maßnahmen aufgeführt. Autos von Mitgliedern der Gruppe wurden verfolgt, ihre Clubhäuser mit Videotechnik überwacht. Weiterhin kam es zu mehreren glücklichen Zufällen für die Ermittlungsbehörden.
Ende 2020 wurde ein Dealer-Pärchen in Schnepfenthal vom LKA verhaftet. Beide begannen bei der Polizei umfangreich auszupacken und benannten die nun Angeklagten Thomas W. und Sina T. als ihre Lieferant*innen. Sie berichteten von mehreren hundert Gramm Crystal Meth, Kokain, Marihuana und immer wieder Ecstasy, die sie im zwei bis drei Wochenrythmus entgegennahmen. Da sie Schulden bei ihren Lieferanten hatten, wurde sie unter Druck gesetzt, mit einem Schlägertrupp bedroht oder auch mit der Wegnahme des Autos des Schwiegervaters.
Anfang 2020 fiel einem Streifenwagen im nördlichen Landkreis Gotha ein Auto auf, welches verdächtig abbremste als es einen Streifenwagen erblickte. Zur Kontrolle angehalten, bekam der Fahrer Fabian B. aus Gotha und mutmaßlich Teil der „Garde20“ einen Schweißausbruch. Auf die Frage, was sich denn in dem Karton auf der Rückbank befinde, soll er den Beamten nur entgegengebracht haben, dass das nicht seiner sei. Am Ende fand die Polizei knapp ein Kilogramm Kokain, welches er zuvor im Raum Aachen geholt haben soll.
Lieferungen und Geldwäsche
Dass die Gruppe beim Handel mit Drogen arbeitsteilig vorging, legte die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift dar. Es gab für die jeweiligen Regionen Kurierfahrer, welche die Drogen zu den Klein-Dealern brachten, wie es die Angeklagten Rocco B. und Kevin Sch. getan haben sollen. Matthias M. soll für die Verwaltung des Geldes verantwortlich gewesen sein. Sina T. und Thomas W. führten die Absprachen zu Liefermengen sowie Konditionen und kassierten das Geld ein. Die Cousine von Thomas W. hatte bei sich und der Oma einen von vielen Drogenbunkern und packte die Betäubungsmittel ab. Die Liste ließe sich hier noch ein ganzes Stück fortsetzen. Ein Teil der Drogen soll dabei vom angesprochenen Lars B. aus Gera sowie einem Jens S. aus Weimar gekommen sein, weiterhin aus dem Raum Aachen. Einer der Angeklagten, Peter-Timm M., sitzt deshalb auch vor Gericht. Er soll die Verbindungsfigur sein, welche Absprachen mit Thomas W. getroffen habe, beispielsweise über die Lieferung von Kokain nach Gotha. Er selbst ist jahrelanger Neonaziaktivist und war Teil von Aachener Gruppen wie der „Kameradschaft Aachener Land“. Bereits 2017 wurde M. vom SEK verhaftet. Mit anderen Neonazis hatte er über das DarkNet Drogen verkauft. Laut einem Bericht des „AK Antifa Aachen“ wurden bei diesen Durchsuchungen Drogen im Kilobereich sichergestellt und 2019 wurde er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. M. gilt als Neonazi-Netzwerker, als Sohn eines früheren FAP-Kaders ist er im gesamten Bundesgebiet umtriebig.
Ein ebenfalls umtriebiger Angeklagter ist Dirk W. aus Hessen. Er selbst vertrat jede Menge Neonazis als Anwalt vor Gericht. Für die „Bruderschaft Thüringen“, bei denen er den Titel eines „Ehrenturonen“ erhalten haben soll, nahm er eine wichtige Rolle ein. Laut Anklage gründete W. Firmen im Bereich der Hausverwaltung und beschäftigte die Bandenmitglieder mit Scheinarbeitsverhältnissen und zahlte ihnen Lohn für Arbeiten, welche sie nie durchgeführt haben, darunter der NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben. Weiterhin soll er in Immobilienkäufe in Gotha, Betrug und Nötigung mit Bezug zur „Bruderschaft“ verwickelt sein. Als Anwalt war er an erster Stelle, wenn jemand aus der Gruppe bei der Polizei saß und sorgte dafür, dass diese Leute keine Aussagen tätigten. Er habe geplant, eine Außenstelle seiner Kanzlei im Clubhaus in Gotha zu eröffnen, was den Vorteil hätte, dass die Polizei diese Räume nur mit Überwindung höherer rechtlicher Hürden durchsuchen dürfte. Jedoch flog Dirk W. mit dem gesamten Netzwerk auf. Wenn man Saul Goodman auf Wish bestellt, bekommt man am Ende eben nur Dirk W.
Der Prozess
Die Provinzialität Thüringens schützt nicht vor organisierter Kriminalität, drückt sich aber auch darin aus, dass es keinen passenden Gerichtssaal für das Verfahren gibt. Wie schon im Revisionsprozess des Ballstädt-Verfahrens, verhandelt das Landgericht auswärts in der Erfurter Messe oder im Stadion. Dort ist Platz für die neun Angeklagten mit ihren jeweils zwei Verteidigern. Letztere sind meist seit Jahren fester Bestandteil der Neonaziszene, wie Olaf Klemke, Steffen Hammer oder auch Nicole Schneiders. Dies führt zum Teil zu ideologisch aufgeladenen Versuchen der Verteidigung sich Raum im Prozess zu nehmen, was zum Teil eine gewisse Absurdität an den Tag legt. Nachdem der Prozess im August ausgesetzt worden ist, da der Angeklagte Dirk W. im Krankenhaus lag, wechselte der vorsitzende Richter. Seit dem Neustart des Prozesses versucht das Gericht mehr Struktur in die Verhandlungen zu bekommen. Doch einfach ist das nicht. Der Angeklagte Dirk W. ist nur bedingt für ein paar Stunden verhandlungsfähig, aufgrund seiner Rückenschmerzen muss jede Stunde für 20 Minuten unterbrochen werden. Stand Frühjahr 2023 ist das Verfahren gegen Dirk W. aufgrund seines Zustandes abgetrennt, die Untersuchungshaft aufgehoben. 2022 wurde der Prozess bis zum Juni 2023 terminiert. Ob das am Ende ausreichen wird, bleibt fraglich. Viele Komplexe sind noch offen, die Liste an Zeug*innen und Beweismitteln ist lang. Die Verteidigung von Sina T. und Thomas W. hat angekündigt, beide wären verhandlungsbereit in Bezug auf mögliche Aussagen und die Höhe der Haftstrafe. Dass es mehrjährige Haftstrafen geben wird, daran scheint die Verteidigung nicht zu zweifeln, denn bei Thomas W. wollte sie auf unter zehn Jahre verhandeln.
Der Prozess ist noch lange nicht vorbei und vieles was schon in das Verfahren eingeführt worden ist, passt nicht in diesen Text. Weiterhin laufen parallel Verfahren gegen weitere Mitglieder der Gruppe wie vor dem Landgericht Gera gegen den Saalfelder Maximilian W., welcher einen umfänglichen Freispruch bekam oder gegen Marcus B. aus Apolda, welcher im Februar 2023 zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilt worden ist. Ausführliche Protokolle der Verhandlungstage finden sich auf der Seite https://turonenprozess22.wordpress.com